Ihr Buch „Peace Pilgrim: Her Life and Work in Her Own Words“ ist eine Quelle pragmatischer, spiritueller Weisheiten. Ihr Leben ein ungeheures Beispiel. Aber erst wer alte Videos von ihren Interviews anschaut, bekommt eine Ahnung von ihrer Kraft und Ausstrahlung. Energisch, überaus freundlich, direkt … kein Zweifel: Diese Frau ist frei. All der Mief von Wichtigtuerei, Heimlichkeiten, Zweifel, Unwahrheiten, Verletztheiten, Schuldzuweisungen und Ängsten, der den menschlich-allzumenschlichen Umgang so oft vergiftet — bei ihr hat er keine Chance. In der klaren Luft, die sie umgibt, vergeht er wie Schnee in der Sonne.
Sie selbst sagte dazu:
„Wenn ich spreche, fließt Energie durch mich wie Elektrizität durch einen Draht. Ich habe das Gefühl, eingestöpselt zu sein in die Quelle universeller Energie; eine Energie, die niemals abnimmt.“
„Das ist der Weg des Friedens: Überwinde Böses mit Gutem, Falschheit mit Wahrheit und Hass mit Liebe.“
Was gab Mildred Norman diese unerschütterliche Kraft? Wie kam es, dass diese Amerikanerin der unteren Mittelklasse im mittleren Alter auf eine „optimistische Wanderschaft“ ging, wie sie es nannte? Ohne Geld, ohne Handy und Kreditkarte, ohne Rucksack und Trekkingausrüstung — einzig eine Zahnbürste und einen Kugelschreiber hatte sie dabei. Auf ihrer Tunika stand mit weißer Schrift: „Peace Pilgrim“. Ihren bürgerlichen Namen hatte sie abgelegt. Einen Wohnsitz hatte sie nicht mehr.
„Ich gehe, bis mich jemand einlädt. Ich faste, bis mir Essen gegeben wird. Ich frage nicht danach — man gibt es mir ungefragt. Denn die Menschen sind gut! Ein Funken Güte ist in jedem, egal wie tief er vergraben sein mag. Er wartet darauf, unser Leben zu regieren. Ich nenne ihn die gottzentrierte Natur.“
„Ich bin ein Pilger, ein Wanderer. Ich werde ein Wanderer bleiben bis die Menschheit den Weg des Friedens gelernt hat; ich werde gehen, bis mir Obdach gewährt wird, und ich werde fasten, bis man mir zu Essen gibt.“
Peace Pilgrim begann ihre Wanderschaft am 1. Januar 1953. Sie legte in den ersten zehn Jahren 40.000 Kilometer zu Fuß zurück, danach hörte sie auf zu zählen. Nach fast 30 Jahren — 1981 — starb sie durch einen Autounfall und erfuhr, wie sie es vorausgesagt hatte, „den herrlichen Übergang in ein freieres Leben.
Es gibt zahllose Briefe und Zeugnisse davon, wie sehr Menschen durch den Kontakt mit ihr neue Entscheidungen getroffen hatten. Es war, als sei da 28 Jahre lang ein weiblicher Bodhisatva unterwegs gewesen — bescheiden, in ihrem Pragmatismus typisch amerikanisch und im Körper einer alten Dame — um in tausenden von Begegnungen die Menschheit zu berühren. Und sie vielleicht ein wenig zu heilen.
Wer war Peace Pilgrim?
Als Mildred Lisette Norman wurde sie am 18. Juli 1908 auf einer bescheidenen Hühnerfarm in New Jersey geboren. Sie war ein helles Kind, später Klassenbeste, hielt sich viel in der Natur auf und schwamm wie ein Fisch. Sie war von klein auf recht diszipliniert und folgte immer ihrem Motto: First things first — das Wichtigste hatte immer Priorität. Wenn sie einen Fehler erkannte, legte sie ihn ab — warum noch lange darüber nachdenken! Eine religiöse Erziehung hatte sie nicht bekommen — „gut“, sagte sie später, so müsse sie weniger wieder loswerden.
Erst als Mildred im letzten Schuljahr war, begann sie sich für Gott zu interessieren. Sie fragte diejenigen, von denen sie dachte, dass sie es wissen müssten, wer oder was Gott sei. Die Antworten befriedigten sie nicht.
Nach der Schule arbeitete sie als Sekretärin, genoss das Leben, ging gerne tanzen, und als sie 25 war, heiratete sie heimlich. Die Ehe war nicht glücklich. Etwas ließ ihr keine Ruhe. Gab es einen höheren Sinn? Wie konnte sie ihn finden?
Schließlich geschah etwas, das sie am besten in ihren eigenen Worten beschreibt:
„Der Wendepunkt kam, als ich — verzweifelt und auf der tiefen Suche nach einem sinnvollen Leben — eine ganze Nacht lang durch die Wälder lief. Ich kam zu einer mondbeschienenen Waldwiese und betete. Ich fühlte meine vollkommene Bereitschaft, ohne irgendwelche Vorbehalte mein Leben zu geben, mein Leben dem Dienen zu widmen. ‚Bitte lass mich dein Werkzeug sein‘, betete ich zu Gott. Und ein großer Friede überkam mich. Das war ein Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Danach begann meine zweite Lebensphase. Ich begann zu leben, um zu geben, statt zu leben, um zu nehmen. Mein Leben bekam Sinn.“
Dieses Erlebnis bezeichnete sie als ihre erste spirituelle Erfahrung.
„Es ist jedoch ein großer Unterschied zwischen der Bereitschaft, zu leben, um zu geben, und der Fähigkeit, dies wirklich zu tun. Für mich lagen 15 Jahre innere Arbeit und inneres Suchen dazwischen.“
„Ich sah, dass das selbstzentrierte Leben es nicht wert war, gelebt zu werden. Wenn das, was du tust, keinem außer dir selbst nützt, ist es nicht wert, getan zu werden.“
1940 begannen sich die USA, auf den Krieg vorzubereiten. Mildred wollte den Krieg nicht durch ihre Einkommenssteuern unterstützen. Sie kündigte ihren sehr gut bezahlten Job und achtete fortan darauf, nicht mehr als 12 Dollar pro Woche zu verdienen, um unter der Steuergrenze zu bleiben. Ihr Mann ging als Soldat nach Deutschland, verliebte sich in eine Deutsche und ließ sich von Mildred scheiden.
Sie blieb allein in der gemeinsamen Wohnung. Sie hinterfragte ihre Lebensgewohnheiten. Nach und nach trennte sie sich von allem Unnötigen. Sie hatte nur noch noch wenige Kleider und lebte von weniger als 10 Dollar pro Woche. Gleichzeitig lernte und studierte sie Yoga, Philosophie und christliche Nächstenliebe, unter anderem bei Father Divine, einem farbigen Priester — ein Vorläufer von Martin Luther King. Langsam formte sie ihr eigenes Weltbild. Sie bereitete sich methodisch und intensiv auf etwas vor, das sie noch nicht kannte.
„Das spirituelle Leben ist das wirkliche Leben; der Rest ist Einbildung und Täuschung. Nur diejenigen, die einzig an Gott hängen, sind wirklich frei.“
Ihr ganzes Sein spitzte sich zu auf den Wunsch, die selbstzentrierte Natur endgültig abzulegen. Immer wieder bestieg sie geistige Höhen, verlor sie aber auch wieder. Endlich — es war Ende 1952, sie war 44 Jahre alt — begann der neue Lebensabschnitt. In einer schwierigen Nacht voller Zweifel hielt sie Rücksprache mit Gott und sagte ihm:
„Mir scheint, wenn ich immer im Harmoniezustand bleiben könnte, könnte ich nützlicher sein — jedes Mal wenn ich daraus abgleite, beeinträchtigt es meine Nützlichkeit.“
Als sie morgens aufwachte, war sie zurück auf der spirituellen Höhe.
„ Ich wusste, für mich war der Kampf vorbei. Endlich hatte ich es geschafft, mein Leben zu geben, d.h. inneren Frieden zu finden. Dies ist wieder ein Punkt ohne Umkehr.“
In diesem Zustand erkannte sie ihre Zukunft — und erlaubte nie mehr einen Zweifel daran:
„Mit dem geistigen Auge sah ich mich wandern. Ich sah eine Landkarte der Vereinigten Staaten. Die großen Städte waren markiert, als hätte jemand mit einem Buntstift eine Zickzack-Linie gezeichnet, von Küste zu Küste, Grenze zu Grenze, von Los Angeles nach New York. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Das war die Vision der Pilgerroute für das kommende Jahr 1953.“
„Wenn die Welt friedlich werden soll, müssen die Menschen friedlicher werden. Unter reifen Menschen wäre Krieg kein Problem — er wäre unmöglich.“
Jetzt gab es nur noch wenig zu tun. Der 1. Januar 1953 kam. Auf ihrer blauen Tunika trug sie weiß aufgestickte Worte: „Peace Pilgrim“ und hinten: „Walking Coast to Coast for Peace“. Die Aufschrift hatte einen Zweck: Sie brachte Menschen dazu, sie anzusprechen. Sie hatte eine Botschaft für sie:
„Meine Mission ist es, Frieden zu fördern, indem ich anderen helfe, inneren Frieden zu finden. Wenn ich ihn finden kann, dann kannst du es auch.“
Das Pilgern hatte für sie auch einen spirituellen Grund: Beim Wandern lenkte sie nichts mehr ab von ihrem permanenten Gebet: „Mache mich zu einem Instrument, durch das nur die Wahrheit sprechen kann.“
„Wenige, wirklich engagierte Menschen können die schlechten Auswirkungen einer Masse von Menschen, die nicht in Harmonie sind, ausgleichen. Deshalb dürfen wir, die wir für den Frieden arbeiten, nicht zögern.“
Was immer sie brauchte, wurde ihr geschenkt.
„Das Problem ist nicht, wie ich genug zu essen bekomme. Es ist vielmehr, auf freundliche Art zu vermeiden, zu viel zu bekommen. Jeder will mich überfüttern.“
Immer wieder wurde sie von der Polizei aufgegriffen und wegen Landstreicherei ins örtliche Gefängnis gesteckt. Ihr Gesetzesverstoß war, kein Geld zu haben. Doch ihre entwaffnende Freundlichkeit machte es den Polizisten schwer, sie streng zu behandeln. Sie wurde jedesmal am nächsten Tag wieder entlassen, worauf sie sich ohne jede Ironie für den wunderbaren Aufenthalt bedankte.
Die Leute wunderten sich, dass sie so voller Freude war. Sie antwortete darauf: „Wer könnte Gott kennen und nicht voller Freude sein?“
Einmal nahm sie ein Mann im Auto mit, der grobschlächtig und gewalttätig aussah — doch sie rollte sich voller Vertrauen neben ihm auf dem Beifahrersitz zum Schlafen ein, im Wissen, dass ihr nichts geschehen würde, was gegen Gottes Plan wäre. Als sie aufwachte, war der Fahrer in Tränen — tief berührt, dass ihm solches Vertrauen begegnete, wo doch sonst alle Menschen Angst vor ihm hatten.
Jahrein, jahraus wanderte Peace Pilgrim durch die Vereinigten Staaten, Kanada, Mexiko. Anfangs benutzte sie im Winter Schal und Pullover, aber schließlich wurde das überflüssig. Sie trug dieselben Sachen, Sommer wie Winter, drinnen und draußen, einfache Turnschuhe, eine lange, weite, marineblaue Hose und Hemd und darüber ihre bestickte Tunika. Im Sommer wanderte sie nach Norden und im Winter nach Süden. Sie blieb all die Jahre kerngesund.
Sie wurde oft eingeladen, in Schulen oder Radiostationen zu sprechen — sie nahm alle Einladungen an, sprach mit Politikern und Hausfrauen, Unternehmern und Kindern, Bettlern und Priestern. Überall vermittelte sie ihre pragmatische Botschaft: Leben, um zu geben — nicht um zu bekommen — macht frei. Freunde sammelten ihre Worte und stellten ein Buch zusammen; es gibt auch Video- und Tonbandaufnahmen.
Viele Menschen tragen Erinnerungen an sie wie kostbare Geschenke. Ann Rush vom Peace Pilgrim Center schreibt:
„Ich erinnere mich, als sie in der Kirche der Religious Science in Whittier sprach. Sie verweigerte ein Mikrofon, obwohl die Kirche brechend voll war. Sie strahlte vor jugendlicher Energie. Der Pastor schrieb an seine Pastorenkollegen im ganzen Land: ‚Von allen einzelnen Ereignissen machte sie den größten Eindruck auf mich und mein Leben.‘“
Anfang 1981 wurde sie von einer Gruppe von Kirchenleitern für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Doch im Juli desselben Jahres trat sie in „ihr freieres Leben ein“.
„Es gibt ein Kriterium, nach dem du die Richtigkeit deiner Gedanken und deiner Handlungen beurteilen kannst, und zwar: Haben sie dir inneren Frieden gebracht? Wenn nicht, dann versuche es weiter.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Wie Mildred Norman alias Peace Pilgrim mehrmals zu Fuss die USA durchquerte“ zuerst im Zeitpunkt.
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Quellen und Anmerkungen: