Was tun? Wie komme ich ins Handeln? Immer wieder kreisen meine Gedanken um diese Fragen, und innere Urteile über mein „sinnloses Grübeln“ prasseln auf mein Gemüt wie Hagelkörner. Also flüchte ich mich in Bücher, in die Grübeleien anderer, und übertöne meine eigenen Gedanken damit. Eine Wohltat.
„Warum geschieht in der Welt so vieles, das die einzelnen Menschen je für sich verabscheuen und bedauern?“ Der erste Satz aus „Erfolgsleere — Philosophie für die Arbeitswelt“ von Michael Andrick ist ein Volltreffer. Aufatmen. Soll ein anderer meinen Kopf für eine Weile mit sinnvollen Informationen füllen.
„Am Anfang steht Verwunderung über mich selbst und über uns. In der industrialisierten Welt führen wir heute ein Alltagsleben, das auf der Entrechtung und körperlichen Ausbeutung von Menschen (als ‚Human Resources‘) und auf der planmäßigen Zerstörung des Ökosystems beruht.
Wir zahlen Spottpreise für die Spielzeuge unseres Konsumzeitvertreibs und für die Kellner- und Laufburschenstaffage unserer Pauschalurlaube an den Küsten der Ozeane und an den Trögen der Frühstücksbuffets. Die Rechnung für unsere immense ‚Kaufkraft‘ wird an den verlängerten Werkbänken der westlichen Staaten, im ‚Globalen Süden‘ der Ausgebeuteten, für uns beglichen — nicht in Geld, sondern in menschlichem Leid, in Perspektivlosigkeit und Verzweiflung“ (Seite 11).
Ein dumpfes Seufzen entgleitet meinen geschlossenen Lippen. Ich brauche eine kurze Pause. Die weitere Lektüre gestaltet sich zäh. Philosophische Ausführungen über Moralität und Anpassung, die Ordnung des Ansehens folgen in einer Sprache, die ich immer wieder neu lesen muss, um zu verstehen. Ständig schweifen meine Gedanken vom Gelesenen weg. Ich schließe das Buch und lasse es liegen. Zu anstrengend.
Emilie kommt zum Kaffee, und wir philosophieren über die Welt, tauschen uns über Bücher aus, die wir lesen, und ich erzähle ihr von meinem Dilemma mit „Erfolgsleere“. Im Gespräch mit ihr beschließe ich, mir die Erlaubnis zu geben, es nicht weiterzulesen. Erleichterung.
Am Abend nehme ich es doch wieder zur Hand. Will es nur noch einmal kurz durchblättern, denn der Inhalt ist so vielversprechend, und ich will doch die Welt verstehen. Also setze ich noch einmal an und glaube kaum, was ich lese:
„Es wäre also überhaupt nicht verwunderlich, sollte die philosophisch Schritt für Schritt ‚reformierte‘ Sprache dieses Buchs Anstoß erregen und Ablehnung provozieren“ (Seite 75).
Ich fühle mich verstanden und motiviert. Also lese ich doch weiter, und es lohnt sich. In seinem Meisterwerk über die Zusammenhänge zwischen unserer „Normalität“ der Arbeitswelt und den Abgründen unseres Systems beschreibt Michael Andrick einen wichtigen Aspekt, den ich zuvor noch nicht erkannt hatte, obwohl er uns jeden Tag begegnet und alle betrifft. Er selbst schrieb auch gleich zu Beginn: Es handelt sich um „ein Buch für jeden, der arbeiten geht“ (Seite 11). Also alle.
Besonders heilsam wirkt sich seine Ausführung über die Philosophie und die Nachdenklichkeit auf mein Gemüt aus:
„Philosophieren heißt, bewusst daran arbeiten, der Mensch zu werden, der wir für uns selbst und andere sein wollen“ (Seite 30/31).
Und besonders dieser Absatz:
„Direkt bedrohlich ist Nachdenklichkeit für Leute, die der Richtigkeit ihrer Ansichten versichert und gerade nicht verunsichert werden wollen. Die größten intuitiven Gegner der Philosophie sind Menschen, die an ihrem Leben leiden, aber doch gerade diese Gestaltung ihres Lebens mit größtem Einsatz herbeigeführt haben. Im konventionellen Sinne erfolgreiche Menschen ersticken oft jede Nachdenklichkeit im Keim, in ihrer Freizeitgestaltung und im Gespräch, damit — um einen Ausdruck Nietzsches zu gebrauchen — der Bogen ihres bisherigen Lebens nicht breche“ (Seite 32).
Mir wird klar, dass meine Nachdenklichkeit nicht mein Feind ist, sondern der Schlüssel, der es mir möglich macht, das Leben zu gestalten, das mir sinnvoll erscheint.
Sie ist kein unnützes Geschwätz in meinem Kopf, das mich vom Leben ablenkt, sondern die Grundlage, die es erst ermöglicht. So hatte ich das noch nie gesehen!
„Die stille Macht des Nachdenkens“
Andrick geht noch weiter:
„So betrachtet ist das Philosophieren die eigentliche, die charakteristische Tätigkeit eines moralischen Wesens. Denn indem wir die Ziele unseres Lebens und das Handwerk ihrer Verfolgung bestimmen, setzen wir Werte in die Welt. Dies ist unser Vorbehalt gegen den etablierten Lauf der Dinge, unser erstes wirklich eigenes Wort und zugleich das letzte Wort, auf dem wir beharren werden, wo es bestritten wird. Hier liegt die Hoffnung, über die Bedrückungen unseres bisherigen Lebens und die grausamen Missstände unserer ererbten Welt hinauskommen zu können zu etwas Besserem. Hier, in unserer Autonomie, liegt unsere einsame Würde“ (Seite 35).
Natürlich! Es ist so offensichtlich, wenn man es liest.
„Wo alle auf ihr Äußeres achten, achten sie (moralische Personen, Anmerkung der Autorin) auf ihr Inneres; sie sorgen sich um ihre eigene Integrität. Deshalb haben moralische Personen die echte und eigentliche Macht. Sie können ganz anders handeln, als es in ihrer Gesellschaft üblich ist, denn sie haben eigene, auf ihren Wertvorstellungen und ihrem Nachdenken beruhende Alternativen. Moralische Personen können deshalb die Gesellschaft verändern; Konformisten können sie nur betreiben“ (Seite 45).
Meine Begeisterung wächst mit jeder Seite.
„Die moralische Person ist die lebendige Bedrohung des Zeitgeistes und seiner sozialen Institutionen und deshalb ihr einziger rechtmäßiger Gesetzgeber“ (Seite 45).
„Ohne Nachdenken funktionieren wir für andere. Wo wir als Funktionär agieren, ist unsere Persönlichkeit nicht gegenwärtig; wo wir gewohnheitsmäßig als Funktionär agieren und dies nicht mehr bemerken, sind wir gewissermaßen bei lebendigem Leibe verstorben: Wir können dann nicht mehr ins selbstbestimmte Leben zurückkommen, weil wir nicht sehen, dass wir es verlassen haben“ (Seite 55).
Ins Handeln kommen
Als passiven Nichtsnutz verurteilt mich in Phasen des Grübelns mein innerer Funktionär, den ich erst nun als solchen identifizieren kann. Natürlich ist er so giftig zu mir, denn auch wenn er in meinem Kopf viel herumspukt, konnte er mein Handeln und die moralische Person in mir nicht stoppen. Ich sehe mich selbst in einem ganz neuen Licht und möchte alle nachdenklichen Menschen, die mit ähnlichen Selbst- oder Fremdvorwürfen zu kämpfen haben, sanft in diese Erkenntnis hüllen.
Andricks „Philosophie für die Arbeitswelt“ entwaffnet alle Vorurteile gegenüber der Philosophie als weltfremde Disziplin für Intellektuelle und nimmt den Leser unaufgeregt und sachlich an die Hand auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und Selbstreflexion. Denn genau hier beginnt die Transformation der zerstörerischen Funktionsärsgesellschaft hin zu einer menschlicheren Welt:
„So entsteht Handeln. Erst treten wir individuell aus dem einfachen Denken in erlernten Gehorsamsreflexen aus und hören damit auch auf, einfach etwas zu tun. Sozial beginnt das Handeln im nachdenklichen Austausch mit anderen: Wir setzen die auf unserer Stille ruhende Eintracht mit den herrschenden Verhältnissen aus und beginnen Verständigung und Politik. Denn der Mensch, der einfach denkt und einfach tut, der also funktioniert, handelt nicht, sondern führt die herrschende Ordnung aus, und er bleibt dabei, wie er eben geworden ist — so wie er den Machthabern ungefährlich und nützlich ist“ (Seite 59).
Erfolg und Ansehen als Ablenkung von uns selbst
„Die Ablenkung von uns selbst hat einen solchen Grad erreicht, dass es zum ‚life-changing program‘ erklärt werden kann, sich doch einfach mal auf seine Atmung zu konzentrieren und ‚in diesem Moment ganz präsent zu sein‘“ (Seite 96).
Wie oft klagen coronamaßnahmenkritische Menschen über die „neue Normalität“. Wie erschreckend ist es für mich, festzustellen, dass auch die alte Normalität bereits einer Dystopie ähnelte, ohne dass ich sie bewusst als solche wahrnahm.
Ich spürte innere Verzweiflung, eine eigene innere Leere, Sinnlosigkeit und zum Teil Todessehnsucht, doch interpretierte sie so, als stimme etwas mit mir nicht. Nun erkenne ich — wieder einmal —, dass dies eine kollektive Erfahrung ist, die andere Mitmenschen ebenfalls so wahrnehmen. Ich bin nicht allein. Geschickt entlarvt Andrick den großen Irrtum und die falsche Tugend der Professionalität und des Ehrgeizes:
„Professionalität und Erfolg können ungemein zufrieden machen und ein Gefühl der Rechtschaffenheit verleihen, obwohl sie mit Moralität und Tugend nichts zu tun haben. (…) Die berufliche Praxis ist für den Funktionär die religio, die Rückversicherung über das für seine Existenz Entscheidende in seinem täglichen Denken und Tun. Das erklärt den unbegrenzten Fanatismus, mit dem modernen Institutionen gedient worden ist und gedient wird; sie, nicht die etablierten Religionen, erlösen die meisten von uns von Ortlosigkeit, Unsicherheit und Bedeutungslosigkeit.
Deshalb konnte in der jüngeren Geschichte ‚Otto Normalverbraucher‘ bei entsprechenden Vorgesetzten so oft und so reibungslos zu ‚Otto Normalverbrecher‘ werden.
Ohne entschiedenen geistigen Widerstand aufgrund eigener Wertvorstellungen kann die Vertiefung in dieses Spiel der Karriere das ganze Dasein des Einzelnen in seinen Bann schlagen, ihn zum Funktionär machen und ihn so als Menschen aus der Welt schaffen. Wem dies zu dramatisch klingt, der denke für einen Moment an die ihm bekannten Fälle, in denen das ‚Arbeitsleben‘ eines Menschen seine Familie und seine sonstigen persönlichen Beziehungen zerrüttet hat.
*Hoffentlich ist kein Leser dieses Buchs ein solcher Fall: moralische Leere, völliger Mangel an tieferen menschlichen Beziehungen oder Kälte im Umgang mit den wenigen Bezugspersonen, begleitet von einem sinnlosen Übermaß materieller Güter und ihrem zügellosen Verbrauch — der nicht Genuss ist; geistige Windstille inmitten eines Sturms von Geschwätz, Aktionismus und bis zur Lächerlichkeit wählerischem Konsum“ *(Seite 103 ff).
Unsere Nachrichten, unsere privaten Gespräche: Oft thematisieren wir die Probleme anderer, wollen unterdrückte Musliminnen vom Kopftuch befreien, armen Afrikanern Hilfe schicken, andere Kulturen mit unserem Wohlstand beglücken, ohne je uns selbst und unsere Lebensweise mindestens genauso kritisch zu hinterfragen. Ich beobachte es individuell: „Meine Schwester arbeitet zu viel.“ Und kollektiv: „Wir müssen etwas gegen Polizeigewalt in den USA unternehmen.“
Für mein eigenes Leben lernte ich, meine blinden Flecken daran zu erkennen, was ich anderen für „kluge Ratschläge“ gebe, denn meistens haben sie mit mir selbst mindestens genauso viel zu tun wie mit den anderen. Wenn wir also von fanatischen Islamisten sprechen oder im Rückblick unsere Vorfahren und ihren Fanatismus bis hin zu Kreuzzügen im Namen des Christentums verurteilen, könnten wir uns fragen, was das mit uns zu tun hat. Andrick liefert die Antwort: Auch wir sind Fanatiker unserer Lebensweise.
„Wenn Erfolg das moderne Erlösungsversprechen ist, so kommt uns diese Verheißung teuer zu stehen; sie ist ‚nicht die Erlösung vom Übel, sondern die üble Erlösung‘ (Thomas Mann).
Zunächst ist ihr Grundsatz, man entschuldige den drastischen Ausdruck, idiotisch: Wir streben im Erfolgskampf nach Selbstsicherheit, indem wir die Selbstverunsicherung mit dem sportlichen Eifer unseres Ehrgeizes betreiben. Denn die stete Anpassung an die wechselnden Erwartungen stetig wechselnder Personenkreise in unseren Karrieren erfordert eine andauernde, geradezu bewusst erzeugte Verunsicherung über unsere Wirkung auf andere“ (Seite 112).
Es ist bei uns völlig normal, sich dem zu unterwerfen, was der Arbeitsmarkt vorgibt. Ich kenne Leute, die ihr Leben der Karriere anpassen und wirklich glauben, es gebe keine Alternative. In Gesprächen warfen sie mir vor: Wir leben nun einmal in der Realität, Elisa. Als würde ich in einer Traumwelt leben. Arbeitswelt ist Realität, und wirkliches Leben — Natur, Atmen, Spielen, Freude, Verbundenheit, Liebe — ist ein Accessoire in der Wahrnehmung der Professionalisten.
Immerhin leiden viele darunter, was Hoffnung darauf macht, dass ihre innere moralische Person nicht so leicht aufgibt. Für diese bietet „Erfolgsleere“ von Andrick eine hervorragende Orientierung, um hinauszufinden aus der Arbeitswelt ins Leben.