Im Jahre 1848 schrieb der Forscher Major Mitchell, einer der ganz wenigen frühen europäischen Siedler des australischen Kontinentes, die sich respektvoll den dortigen jagenden und sammelnden Ureinwohnern widmeten, über deren von ihm weitreichend bezeugte Existenz:
„Solch eine Intensität des Daseins, dies muss, kurz gesagt, sehr weit über allen Genüssen des zivilisierten Menschen liegen, über allem, was ihm die Künste je erbringen könnten“ (1).
Ganz ähnlich äußerte sich Tom Petrie, der sogar mehrere Jahre seiner Jugend bei reinen Jägern und Sammlern lebte, ihre Sprachen lernte und ihre Lebensweise so intensiv kennenlernte wie wohl kaum irgendein anderer Europäer. Er erinnerte sich als alter Mann im Jahr 1904:
„Für sie war es ein wirkliches Vergnügen, sich die Nahrung in der Natur zu beschaffen. Sie waren so leichtherzig und fröhlich, es gab nichts, was sie belastete“ (2).
Diese Sätze von Mitchell und Petrie passen überhaupt nicht zu den allermeisten zeitgenössischen Darstellungen der europäischen Kolonialisten zur Existenz der australischen Ureinwohner. Die beschrieb man nämlich in der Regel als elendig, hungernd und degeneriert. Wie extrem niedrig das Dasein der Ureinwohner im Blickwinkel der neuen Siedler erachtet wurde, lässt sich auch daran erkennen, dass es regelrechte Jagden gab, bei denen die „Wilden“ mit Hunden gehetzt und mit Gewehren abgeknallt wurden. In vielen Regionen, wie etwa Tasmanien, löschten die Kolonialisten die ursprünglichen Stämme bis auf den letzten Menschen aus.
Nun mag es auf den ersten Blick so erscheinen, als seien die drastischen Widersprüche zwischen den äußerst positiven Zeugnissen des natürlichen Daseins der Jäger und Sammler durch die Praktiker Mitchell und Petrie einerseits und den nicht mehr steigerbaren Erniedrigungen durch das kolonialistische System andererseits etwas, das mittlerweile längst überwunden wurde. Aber das stimmt nicht.
Zunächst einmal ist es, auch über die Grenzen politischer Lager und sonstiger Bewegungen hinweg, auch heute noch ganz üblich, die gesamte Existenz der vorzivilisatorischen Kulturen als ein von Fressfeinden, Angst und Hunger gehetztes Dasein anzunehmen. In filmischen Animationen erfährt man, dass die Menschen vor dem Aufkommen der Landwirtschaft in einer düsteren Welt ums nackte Überleben kämpften und sich dabei ständig unsicher umschauten.
Noch drastischer als das Dasein der menschlichen Jäger und Sammler in der Natur wird ganz aktuell jenes anderer Tiere verzerrt und verdreht. In den größten Nachrichtenmagazinen des Internets wie „Spiegel Online“ oder „bild.de“ lässt sich dieses Phänomen gut beobachten. Weil diese Medien mittels hochfeiner Analysewerkzeuge präzise darauf achten, welche Inhalte gerne angeklickt werden und welche nicht, wirken sie sogleich wie ein sich selbst ausrichtender Spiegel des kollektiven Geistes.
Auffällig ist zunächst, dass sich die Artikel bis auf einen einstelligen Prozentwert und somit fast ausschließlich um den Menschen selbst drehen. Dieses Umsichselbstdrehen geht soweit, dass sogar der Begriff „Welt“ oft verwendet wird, wenn eigentlich die Menschheit gemeint ist.
Man schreibt dann also „die Welt schaut nach New York“ oder meint mit „Welthunger“ den Hunger von Menschen.
Die wenigen Thematisierungen anderer Tiere wiederum teilen sich hauptsächlich in wenige Kategorien auf. In einer der größten davon stellt man sie als „niedlich“ oder „süß“ dar — und erniedrigt sie somit. Ein weiteres großes Feld betrifft fotografische Dokumentationen zu Fällen, in denen einzelne Tiere von Menschen gerettet und nun umrahmt von schützenden Menschenhänden abgelichtet werden. Kleinere Anteile entfallen auf Nachrichten zu wissenschaftlichen Neuigkeiten aus der nichtmenschlichen Tierwelt. Und nur im Promillebereich und somit faktisch fast gar nicht mehr thematisiert wird das Dasein jener Tiere im System der Massentierhaltung — also immerhin der Quelle fast aller tierischen Nahrungsmittel in den Supermärkten.
Neben den bis hierhin aufgezählten Kategorien gibt es aber noch eine weitere, die oft sogar am häufigsten auftritt: Nämlich Berichte, in denen Fotografien von Erbeutungsszenen in der Natur eingebunden sind. Man reißt also einen Sterbeprozess, der in der Realität vielleicht nur Sekunden gedauert hatte, aus dem Rahmen der Zeit und liefert ihn dem Publikum als Dauerereignis. Im Ergebnis — welches häufig auch in filmischen Dokumentationen produziert wird — entsteht der Eindruck, dass die Existenz der nichtmenschlichen Tiere in der Natur darin besteht, über fast ihr gesamtes Leben hinweg gefressen zu werden. Die größte deutschsprachige Nachrichtenseite des Internets, „bild.de“, betrieb hierzu sogar über längere Zeit eine eigene Rubrik namens „Natur brutal“. Dort wurde dann etwa das Foto eines Graureihers gezeigt, der gerade ein Entenküken verschlingt und mit diesen Sätzen garniert:
„Reiher verschlingt süßes Entenküken. So grausam kann Natur sein: Eben noch ein flauschiges Entenküken, jetzt bloß noch Hauptspeise eines gefräßigen Graureihers“ (3).
Wer danach sucht, findet das gleiche Schema auch bei „Spiegel Online“. Da wird dann schon mal in der Rubrik „Wissenschaft“ ein „Rätsel der Woche“ mit der Überschrift „Fressen und gefressen werden“ präsentiert. Und der Textkörper beginnt so:
„Es geht brutal zu in der wilden Natur. Mit viel Aufwand zieht eine Tiermutter den Nachwuchs auf. Dann kommt ein hungriges Raubtier und reißt eines oder mehrere der Tierkinder“ (4).
Um nun — quasi als medial vorgeschädigter Mensch — zu erkennen, dass es zwischen diesem künstlichen Bild der „grausamen Natur“ und der praktisch beobachtbaren Realität einen ganz ähnlichen Widerspruch gibt wie bei dem vorhin skizzierten Beispiel rund um die australischen Ureinwohner, wirft man am besten mal selbst einen unvoreingenommenen Blick in ein Stück möglichst unbeeinflusster Natur. Wer sich dort zunächst auf die — relativ einfach beobachtbaren — Wirbeltiere konzentriert, der kann bald etwas von größter Bedeutung entdecken, das im Weltbild der Zivilisation kaum einen Platz hat: Die Tatsache nämlich, dass sich die freien Tiere in der Natur bis zu einem weit gegen absolut gehenden Grad ihrer Existenz im Zustand der selbstbestimmten Entfaltung all ihrer angeborenen Merkmale befinden, während längeres Leid, Elend und Siechtum echte Seltenheiten sind.
Man kann dies auch indirekt reflektieren, indem man mal darüber nachdenkt, wie oft einem in der realen Natur etwa Vögel — also auch Entenküken — begegnet sind, die gerade bei lebendigem Leibe gefressen wurden oder in irgendeiner sonstigen Weise wirklich konkret gelitten haben. Es werden nur wenige Fälle gewesen sein, deren Anzahl in der Relation zu den abertausenden frei entfalteten und gesunden Exemplaren einen weit gegen null gehenden Bruchteil ausmachten.
Wenn der drastische Widerspruch zwischen dem verzerrten Bild der Zivilisation über die anderen Tiere und ihrer realen Existenz in ersten Ansätzen erkannt ist, dann lässt sich diese Entdeckung noch in eine äußerst interessante Ebene hinein vertiefen. Und zwar beweisen heute zahlreiche empirische Nachweise aus den Neurowissenschaften, dass die im System der Zivilisation als Exklusivitäten des Menschen angenommenen kognitiven Eigenschaften wie etwa „Ich-Bewusstsein“, „freier Wille“ oder „Vernunft“ als solche keinerlei stabile Basis haben. Sie alle wurden nämlich künstlich erfunden, oder aber sie sind bei anderen Tieren genauso vorhanden wie bei uns.
Dazu kommt, dass die Sinnesleistungen einschließlich der Verarbeitungsprozesse im menschlichen Gehirn nur unterdurchschnittlich ausgeprägt sind. Und schließlich war die organische Basis für alles rund um den Genuss und das Glücksgefühl nach unwiderlegten Erkenntnissen der paläontologischen Neurowissenschaften zumindest bei den Wirbeltieren etwa 500 Millionen Jahre lang grundsätzlich gleich wie jene eines heutigen Menschen (5).
Wenn man — nach der Entdeckung der regelmäßigen Freiheit und des nur winzig kleinen Anteils von Elend und Leid in der Natur — nun auch noch diese empirischen Erkenntnisse rund um die Kognition akzeptiert hat, dann schließt sich ein Kreis hin zu den Zeugenaussagen von Major Mitchell und Tom Petrie: Jetzt gibt es nichts mehr, das dagegenspricht, dass auch die anderen Tiere seit jeher jenes „wirkliche Vergnügen“ dabei empfanden, ihre Nahrung in der freien Natur zu beschaffen. Es lässt sich folgern, dass sie dabei auch so „leichtherzig und fröhlich“ waren, wie es die beiden Praktiker bei den menschlichen Jägern und Sammlern erkannt hatten. Und die stärkere Ausprägung der Sinne sowie die völlig selbstständige Existenz mit nichts als dem blanken Körper deuten darauf hin, dass die Intensitäten ihres Daseins tatsächlich sogar „sehr weit über allen Genüssen des zivilisierten Menschen“ liegen muss.
Die irdische Natur war also in der Realität seit Hunderten Millionen von Jahren nicht nur ein Ort der freien Entfaltung, während längeres Leid und Elend nur relativ seltene Randerscheinungen darstellten. Sondern sie war auch ein Ort des sehr intensiven und bewussten Erlebens und ebensolchen Genusses, der Leichtherzigkeit und des großen Vergnügens.
Aber warum will die Zivilisation dies nicht wahrhaben? Die Natur ist doch nicht weniger als die gesamte Welt. Wie kann es sein, dass die Menschheit die gesamte Welt so schlechtredet wie irgend möglich, sich also ein völlig verdüstertes Weltbild zusammenbastelt, anstatt sie als das zu erkennen was sie seit jeher war? Warum tut man so etwas? Und welche weiteren kausalen Folgen ergeben sich daraus?
Die Frage nach dem Warum lässt sich leicht beantworten, aber die Akzeptanz dieser Antwort ist noch schwerer als das Anerkennen der großartigen und schönen Realität der Natur. Sie liegt nämlich darin, dass die Wurzeln der Zivilisation in nichts anderem bestehen als der Versklavung nichtmenschlicher Lebewesen.
Mit der sogenannten „Neolithischen Revolution“ verließen die Menschen jenes Paradies der freien Entfaltung und des Genusses, in dem ihre — ausschließlich freie Tiere und Pflanzen jagenden und sammelnden — Vorfahren seit jeher existierten. Um die Widernatürlichkeit der lebenslangen Unterwerfung der gezüchteten und versklavten „Nutzorganismen“ nicht bewusst wahrnehmen zu müssen, fingen sie an, die gesamte freie Natur so zu verdrehen und zu erniedrigen, dass die eigene widernatürliche Position künstlich erhoben werden konnte. Das fing an mit erfundenen Gottesbefehlen zur Unterwerfung der Erde und erstreckt sich bis heute hinein in die Massenmedien. Und der Preis dafür war jenes völlig kaputte und falsche Weltbild, das nun alle Menschen in ihren Köpfen tragen.
Wer es schafft, diese Zusammenhänge nicht nur zu begreifen, sondern sie auch wirklich zu akzeptieren, der muss zwar zunächst einige große Schmerzen ertragen. Diese aber halten nicht ewig an. Und wenn sie nachlassen, dann entsteht eine Verständnishöhe, von der aus sich ein äußerst positives Weltbild eröffnet. Das ist so ähnlich, als würde man plötzlich von einem erstmals bestiegenen Hügel aus einen sehr weiten Horizont entdecken, vor dem sich eine bunte und schöne Landschaft erstreckt — die sich von dem kaputten Boden des verrückten zivilisatorischen Weltbildes aus gar nicht wahrnehmen lässt.
Und wer nun in einem noch weitergehenden Schritt herausfinden möchte, wie es denn eigentlich sein kann, dass die Menschheit — trotz ihrer auf manchen Feldern immerhin doch ganz passablen Intelligenzpotenziale — besonders in der Gegenwart alles daran zu setzen scheint, die gesamte Natur und somit auch die eigene Existenzgrundlage so schnell wie irgend möglich zu vernichten, der hat jetzt auch diese Antwort in seinen Händen: Sie liegt in dem verstärkten psychischen Problem, welches durch die immer extremere Intensivierung der Versklavung der anderen Lebewesen entstanden ist.
Es wird geschätzt, dass heute weit über 50 Prozent der Biomasse sämtlicher Landwirbeltiere des Planeten auf die sogenannte industrielle Massentierhaltung entfallen (6). Zwar sieht kaum noch ein Mensch mit eigenen Augen, woher denn diese riesigen Mengen an Joghurts und Würsten stammen, die sich in den immer längeren Kühlregalen der Supermärkte stapeln. Aber jeder einzelne Mensch weiß es.
Das ist der springende Punkt. Die Menschen wissen es also, sie wissen, dass die Existenz der dortigen Tiere, die ihnen ja bis auf ein paar Details sehr ähnlich sind, über ihr gesamtes Leben hinweg von nichts anderem als Elend und Siechtum bestimmt ist — also genau gegenteilig zu der Situation der freien Tiere. Und um dies nicht an die Oberfläche des Bewusstseins kommen zu lassen, hat sich das kollektive Unterbewusstsein darauf geeinigt, stattdessen die gesamte Welt auf den Kopf zu stellen.
Der heutige Mensch hat sich also zwar — im Sinne des Geldes — billige Nahrung verschafft. Aber eigentlich zahlt er dafür sehr hohe Preise. Diese reichen von dem kaputten und eng zusammengeschnürten Weltbild bis hin zu schweren Störungen der geistigen Gesundheit seiner Kinder. Und als kausale Gesamtfolge liegen sie schließlich in der Überlebensunfähigkeit des gesamten zivilisatorischen Systems. Ein solch gestörter kollektiver Geist, der sich nur noch um sich selbst dreht und um sich herum nur noch künstlich erzeugte Düsterheit sieht, der kann die echte Welt nicht zu schätzen wissen. Dadurch ist er verloren, kann nicht die richtigen Entscheidungen treffen, hat keine Orientierung und kein Ziel, weiß nichts Vernünftiges mit sich anzufangen und geht schließlich an all dem zugrunde.
Der Schlüssel zum Herstellen eines gesunden Selbstverständnisses sowie folglich auch der Überlebensfähigkeit kann also nur in dem möglichst sofortigen Rückbau der eskalierten Perversion der Versklavung der anderen Lebwesen bestehen. Solche extremen Formen wie die industrielle Massentierhaltung müssten unmittelbar, also von einem Tag auf den anderen abgeschafft werden. Die gesamte Landwirtschaft einschließlich des perversen Umganges mit den „Nutzpflanzen“ müsste in einen massiven Extensivierungsprozess gelenkt werden. Jeder Erwachsene hat die Pflicht, daran mitzuwirken. Niemand kann es schaffen, sich aus dieser Verantwortung herauszuwinden. Denn es gibt immer irgendetwas, mit dem er dazu beitragen kann, dass die Menschheit sich doch wieder der Realität annähert.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Tim Low, Wild Food Plants of Australia, Angus & Robertson
(2) Tim Low, Wild Food Plants of Australia, Angus & Robertson
(3) https://www.bild.de/news/leserreporter/in-freier-wildbahn-12427904.bild.html
(4) https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/raetsel-der-woche-loewen-schlangen-und-antilopen-a-1046539.html
(5) The vertebrate mesolimbic reward system and social behavior network: a comparative synthesis. O'Connell LA1, Hofmann HA, Institute for Cellular and Molecular Biology, University of Texas at Austin, USA. PMID: 21800319 DOI: 10.1002/cne.22735
(6) Ernst Ulrich von Weizsäcker, Andreas Wijkman u.a. "Club of Rome: Der große Bericht — Wir sind dran" / Teil.1 Kap. 1.4, Gütersloher Verlagshaus, 2017