Leyla Imret hat ihre Heimat Ende 2016 verlassen. Kein Vertrauen mehr in die türkische Justiz, sagt sie (1). Viermal festgenommen. Viermal zwar gleich wieder freigelassen, aber seit dem 15. Juli 2016 sei alles anders. Der Putschversuch. Der Ausnahmezustand. Menschen, die ohne jede Anklage im Gefängnis sitzen.
Vielleicht ein Jahr wie der Journalist Deniz Yücel, vielleicht drei Monate wie Peter Steudtner, vielleicht viel länger. Menschen, die mit fadenscheinigen Begründungen zu langen Haftstrafen verurteilt werden. Menschen, die ihren Job verlieren. Es gibt eine Website mit dem makabren Titel turkeypurge.com, die solche Fälle zählt, betrieben vermutlich von Leuten aus der Gülen-Bewegung, die in der Türkei seit März 2016 wie die PKK als Terrororganisation gilt und dort für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird (2).
Die Daten vom 22. Juli 2018, zwei Jahre nach dem Putschversuch (3):
170.372 Beamte, Verwaltungsleute, Lehrer, Akademiker, Richter, Staatsanwälte entlassen, 3.003 Bildungseinrichtungen geschlossen und 189 Medienunternehmen, 141.558 Verhaftungen.
Solche Zahlen, zumal in diesen Größenordnungen, übersteigen das, was wir uns normalerweise vorstellen können. Der einzelne Fall: Das ist das, was uns erregt, was uns aufregt.
Die beiden Studenten Suat Mustafa enci und Hüseyin Kaya zum Beispiel, zwei Kurden, die am 20. März 2017 an der Dicle-Universität in Diyarbakir über den Campus schlendern und Lieder pfeifen. Auch »Çerxa oreê«, ein Revolutionslied. Man ahnt, was kommt, und kann sich das im Internet auf einem Video auch anschauen (4):
Zivilpolizisten sind in der Nähe, sie schubsen, sie prügeln. Nach zwei Videominuten sind 17 Studenten festgenommen. Zwölf werden später angeklagt.
Die Vorwürfe: Propaganda für eine terroristische Organisation, Verbrechen im Namen einer terroristischen Organisation, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Wenn es nach der Staatsanwaltschaft geht, gibt es dafür Gefängnis, irgendetwas zwischen acht und 27,5 Jahren. Für das Pfeifen eines Liedes (5).
Im Januar 2018 sitzen in der Türkei 69.031 Studenten im Gefängnis. Noch so eine unglaubliche Zahl. Fatih Kurt, Ufuk Aydın und Barı Okutucu, drei Kurden, Wirtschaft auf Lehramt, haben jeder zwölf Jahre bekommen, von einem Sondergericht. Ihr Vergehen: eine Kundgebung in der Universität. Dass diese Kundgebung genehmigt war, spielte keine Rolle (6). Axel Gehring, der Politikwissenschaftler aus Marburg, ist eher ein Mann der Analyse als der Emotionen.
»Die AKP steht seit 2013 unter Dauerfeuer«, sagt er. Seit Gezi eigentlich. »Sie will verhindern, dass sich all die disparaten Strömungen, all die verschiedenen Oppositionsgruppen unter einem Dach vereinen. Die kurdische Bewegung und die CHP zum Beispiel, die Atatürk-Partei. Auch deshalb hat sie 2015 diesen Bürgerkrieg entfesselt. Dazu kommt die Sorge, dass sich eher konspirative Netzwerke wie die Gülen-Bewegung mit Teilen des Staatsapparates oder mit CHP und HDP absprechen. Das darf nicht passieren, erst recht nicht mehr nach dem Putschversuch. Also: massives Vorgehen gegen alles. Besser 1000 Leute festnehmen und dabei 900 Unschuldige treffen, als einen entkommen lassen. Das ist absolut logisch. Deshalb musste die AKP mit der Rechtsform brechen. Deshalb hat sie den Ausnahmezustand erklärt.«
Recep Tayyip Erdoğan hat die »kurdische Frage« mit einer Diktatur beantwortet (7). Die Presse »gleich- oder ausgeschaltet«, der Ausnahmezustand als »Regelfall« (8). Viele der Bürgermeister, die 2014 auf dem Ticket der kurdischen Bewegung gewählt oder dann als »Co« eingesetzt wurden, sitzen genau wie einige Parlamentsabgeordnete der Partei und Selahattin Demirta im Gefängnis. 90 von 104: Das ist die Zahl der Rathäuser, in die Ankara einen Staatskommissar geschickt hat (9).
»Jede Person, die sich heute zur kurdischen Frage äußert, erleidet den gesellschaftlichen Tod«, schreibt Aslı Erdoğan, eine türkische Schriftstellerin. Noch eine Erdoğan, wieder weit weg vom Präsidenten. »Ihr wird schlaglichtartig vor Augen gestellt, dass Titel, Ansehen, Identität und dergleichen weniger Bestand haben als ein Atemzug« (10).
Wer all die Nachrichten aus der Türkei nicht mehr hören kann, die Berichte über die tagtäglichen, alltäglichen Menschenrechtsverletzungen, über den Krieg gegen die Kurden im eigenen Land und außerhalb, über die Jagd auf überhaupt alles, was sich dem »neuen Sultan« (11) entgegenstellt, der nehme das Buch von Aslı Erdoğan, aus dem dieses Zitat stammt. Man kann dort lesen, wie sich die Putschnacht in Istanbul angefühlt hat. »Schwester, hinlegen! Auf den Boden! Auf den BODEN!« (12).
Vor allem aber findet man Texte zur »kurdischen Frage« und zur Antwort der AKP, von einer Türkin, die »nicht Mittäterin sein« will (13). »Krieg, Auschwitz oder Cizre« in einer Zeile. Die Angriffe auf HDP-Büros und kurdische Geschäfte als »Spielart« der Kristallnacht (14). Aslı Erdoğan sieht eine Parallele zum Armenier-Genozid. Weil man dieses Kapitel kaum besser zusammenfassen kann, kurz vor Schluss ein langer O-Ton:
»Oder die Kurden, von denen wir zunächst behaupteten, sie würden gar nicht existieren, und denen wir nun, wenn sie denn doch weiter auf diesem Stück Erde existieren wollen, mitteilen, dass sie nur zu unseren Bedingungen und nach unseren Definitionen weiterleben können … Und am meisten geben unsere Reaktionen, unsere Lügen und unsere Massaker preis. Wenn jemand an einer Protestkundgebung teilnimmt, fordert die Staatsanwaltschaft sechs Mal lebenslänglich, wer nicht daran teilnimmt, bekommt elf Jahre. (Das ist die ermäßigte ›Strafe‹ in diesem Land, die für das Tragen eines Kurdenschals verhängt wird!) Die Angehörigen derjenigen, die von F16-Jägern abgeschossen wurden, werden wegen ›versuchten Mordes‹ festgenommen, diejenigen, die über Kinder berichten, die in Gefängnissen vergewaltigt werden, nimmt man wegen ›Propaganda‹ fest« (15).
Ergenekon war nur das Vorspiel für das, was die Türkei seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 erleidet. Als wir mit Leyla Imret sprechen, im November 2017, im ruhigen Norddeutschland, ist die zweite Ausgangssperre in Cizre anderthalb Jahre her. Die junge Frau, die im Film von Aslı Özarslan lächelt und winkt, Lebensfreude und Optimismus ausstrahlt, gibt es nicht mehr. Vor uns sitzt eine Politikerin, die der Welt erzählen muss, was sie erlebt hat. Die Leichenkeller, die Scharfschützen. Aber auch der ganz normale Wahnsinn.
»Irgendwann haben sie mit Hausdurchsuchungen angefangen. Jedes Haus, zwei, drei Mal in der Woche. Einfach um Unruhe zu stiften, auch da, wo es gar keine Gefechte gab. Faschisten. Sie haben in den Straßen den Nationalmarsch gespielt und die Menschen beschimpft. Vor jedem Haus standen zehn Militärs. In der Stadt waren es locker 15.000. Man konnte sich nicht frei bewegen. Manche von uns wurden gefoltert. Je nach Laune. Sie haben gerufen: Ihr Armenier! Ihr seid keine Muslime! Ihr seid alle Christen! Ihr Kurden verdient es nicht anders. Ihr seid wie der IS.«
Ezgi Baaran spricht von einem Teufelskreis. Die Jugendlichen, die die Gräben in Cizre ausgehoben haben: Das seien die Söhne und Töchter, die Brüder und Schwestern von denen, die der türkische Staat in den 1990er Jahren getötet hat. Kinder, die damals tagelang zwischen Leichen lagen und den Gestank nie vergessen konnten. Enkel, die in einem Kriegsgebiet groß wurden und gesehen haben, wie Eltern und Großeltern leiden.
Das ist die Geschichte von Leyla Imret, die ihre Jugend fern vom Grab ihres Vaters verbringen musste und in Cizre trotzdem oder gerade deshalb Bürgermeisterin sein konnte. Aus einem Teufelskreis gibt es kein Entrinnen, solange der Teufel selbst an der Macht ist.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vgl. »Frieden in der Türkei wird es nur mit Öcalan geben«. Interview mit Leyla Imret von Lars Langenau. In: sueddeutsche.de vom 3. Februar 2018. Online: http://www.sueddeutsche.de/politik/kurden-konflikt-frieden-in-der-tuerkei-wird-es-nur-mit-oecalan-geben-1.3851295 (4. Juni 2018)
(2) Vgl. Başaran, Frontline Turkey, S. 185
(3) https://turkeypurge.com/ (24. Juli 2018)
(4) https://www.facebook.com/kerem.schamberger/videos/10211746292558195/ (22. Februar 2018)
(5) Ebd.
(6) Vgl. https://www.facebook.com/story.php?story_fbid=10211524455292402&id=1394905422 (4. Juni 2018)
(7) Vgl. zu dieser Einschätzung zum Beispiel Cem Özdemir: Freiheit für den »kleinen Kanarienvogel« – Aslı Erdoğan und die Türkei. In: Aslı Erdoğan: Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Essays. München 2016, S. 7–27, hier14 f.
(8) Ebd., S. 15
(9) Vgl. »List of State Commissioners« und »Imprisoned Co-Mayors from the Kurdish Region, Turkey«. Dokumente der HDP vom 13. Mai 2017, im Besitz der Autoren
(10) Opfer werden. In: Aslı Erdoğan, Schweigen, S. 51–55, hier 53 f.
(11) Kemal Bozay, Hasan Kaygısız: Der neue Sultan. Die Türkei zwischen Repression und Widerstand. Köln 2017
(12) Am Fuße einer Mauer. In: Aslı Erdoğan, Schweigen, S. 29–39, hier 29
(13) In: Ebd., S. 61–67, hier 62
(14) Krieg und Krieg. In: Ebd., S. 81–93, hier 81, 83
(15) Erster Text, erstes Schweigen. Ebd., S. 175–179, hier 178