Die transhumanistische Idee, die Natur zu überwinden und den Tod zu besiegen, ist alt. Sie zog mit Mary Shelleys berühmtem Roman Frankenstein oder der moderne Prometheus aus den Laboren einzelner Tüftler in das moderne kollektive Denken ein. Dieser fiktive künstliche Mensch war freilich noch mit allerlei Fehlern behaftet, ein Monster gar, doch immerhin: Es hatte geklappt. Mit der Zeit würde man es schaffen, aus dem makelbehafteten Wesen, das wir sind, ein perfektes künstliches Wesen zu schaffen, besser als Gott selbst es gekonnt hat. Tadellose Maße, perfekte Eigenschaften und dazu die richtige Augenfarbe. Dem idealen Mann, der idealen Frau, dem idealen Dazwischen steht heute nichts mehr im Wege.
So werden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Wir müssen uns zumindest erst einmal nicht mit dem Gedanken an unser eigenes Ende herumschlagen, und die, die unsere Körper zusammenbasteln, können uns so programmieren, wie sie uns haben wollen. Wir verwandeln uns schließlich selbst in eine Art wandelnder Smartphones, bei denen wir uns gerade noch mit der Benutzeroberfläche auskennen. Von den im Verborgenen ablaufenden Programmen verstehen wir nichts.
Unsere Gedanken und Gefühle sind uns fremd geworden. Wir haben nicht mehr selber im Griff, was wir denken und fühlen, sondern werden zunehmend fremdgesteuert.
Nicht nur das Problem der Überbevölkerung kann durch diese Entfremdung gelöst werden: Es würden nur genau so viele Mensch-Maschinen hergestellt werden, wie sie das System gerade braucht. Man bekäme außerdem den Klimawandel und den Hunger in der Welt in den Griff und könnte ungehindert weiter auf Wachstum und materiellen Fortschritt setzen. Diejenigen, die es sich leisten können, wären gerettet! Nichts stünde einer künstlich gestalteten Welt im Wege. Man würde uns so programmieren, dass wir mit allem zufrieden sind. Wir würden gegen nichts protestieren, denn Maschinen haben kein Bewusstsein, keinen freien Willen und können keine Verantwortung übernehmen. Sie haben keine Wahl. Wir würden zu Untoten.
Es gäbe kein Ziel und keinen Sinn in unserem Leben, nichts, wofür wir uns engagieren könnten. Da nicht nur unsere Gedanken, sondern auch unsere Gefühle beliebig programmierbar wären, gäbe es die Liebe nicht mehr, wie alles, was uns mit anderen Menschen und mit der Natur verbindet. Seit Langem wird uns weisgemacht, dass Liebe nichts weiter sei als ein paar mehr oder weniger zufällig zustande kommende neuronale Verbindungen. Unsere Partner und unsere Nachkommen lassen wir uns nach der jeweils gängigen Mode entwerfen und per Drohne anliefern.
Wir laden Programme herunter, die für uns ausführen, was wir nicht mehr können: kreativ sein. Es wird uns nichts ausmachen, in einer phantasie- und kontaktlosen Welt zu leben. Denn wir sind in Sicherheit. Alles, was wir tun, wird kalkulierbar sein. Jeder Schritt wird berechnet werden können. Keine Überraschungen wird es mehr geben, nichts Unvorhergesehenes wird mehr geschehen. Wie auf Schienen fahren wir in unserem verlängerten Leben immer geradeaus.
Und dennoch: Eines Tages wird es vorbei sein. Keine Maschine hält ewig. Das, was von uns an Menschlichem übrig ist, wird mit dem konfrontiert sein, wovor wir uns am meisten fürchten: uns selbst. Im Moment unseres Todes, dann, wenn wir ganz nackt sind, ganz allein, wenn alle Kabel ausgestöpselt sind und alle Maschinen abgestellt, dann werden wir sehen, wer wir waren. Wir werden unser Leben vor unserem inneren Auge Revue passieren lassen und erkennen, mit wem wir es zu tun hatten.
Vielleicht werden wir uns darüber bewusst werden, dass all das, wovor wir in unserem Leben weggelaufen sind und was wir bekämpft haben, ein Teil von uns selbst war.
Die anderen sind uns als Facetten unseres eigenen Wesens begegnet. Was wir für unsere Feinde gehalten haben, waren Gelegenheiten, uns selbst zu erkennen und mit uns Frieden zu schließen. Doch wir haben uns blenden lassen. Wir dachten, wir seien die persona, wie die Maske im antiken Theater genannt wurde. Die Person haben wir gepflegt und poliert und unser Wesen haben wir in der Ecke stehen lassen. Wir haben uns applaudieren lassen und uns eingebildet, wir handelten aus uns heraus. Dabei sind wir nur Regieanweisungen gefolgt und haben uns wie Marionetten an unsichtbaren Fäden führen lassen.
Früher oder später kommt die Wahrheit ans Licht. Die Maschine wird verrosten. Doch an uns wird sich niemand erinnern, denn es gab uns ja nicht wirklich. Wir haben ja nicht wirklich gelebt. Wir haben nicht an der Schöpfung teilgenommen und uns nicht weiterentwickelt. Wollten wir das? Ist es das, was Menschsein für uns bedeutet? Möglichst gut über die Runden kommen und die Dinge einigermaßen hinter sich bringen? Oder glauben wir, dass Leben mehr ist als nur den Sonntag gut herumzukriegen? Sind wir hier, um uns immer mehr einzuspinnen in unseren Kokon oder um uns weiter zu entfalten, sozusagen die Flügel immer weiter auszubreiten?
Wenn aus Raupen Schmetterlinge werden, dann ist der Weg beschwerlich. Es ist anstrengend und manchmal schmerzhaft, den Kokon zu durchbrechen und aus der zu eng gewordenen Verpuppung herauszuschlüpfen. Doch es braucht diesen Prozess, damit die Flügel flugfähig sind. Hierbei kann uns niemand helfen. Wer einem Schmetterling die Flügel entfaltet, wie vorsichtig er dabei auch ist, der tötet ihn.
Doch Anstrengung muss kein Leid bedeuten. Mag uns der Schweiß auf der Stirn stehen, mögen Muskeln schmerzen und Tränen fließen — das, was wir erleben, wenn wir über unsere eigenen Grenzen treten, wenn etwas Neues geboren wird, hat den Geschmack von Glück. Glück bedeutet, von allem zu kosten, alles anzunehmen, was da ist — auch den Schmerz, die Verunsicherung, die Traurigkeit, den Zweifel, die Angst. Wir versperren uns den Weg zum Glück, wenn wir das Haar in der Suppe suchen und mit pikierter Miene zurückweisen, was serviert wird. Denn Glück ist das Gefühl, aus dem Vollen zu schöpfen und ganz und gar da zu sein für das Leben, präsent, und mit dem ganzen Körper einzutauchen in die Fülle.
Glück ist Hingabe und das Bewusstsein tiefer Verbundenheit. Glück schließt alles ein und nichts aus. Glück ist, den Tod ins Leben zurückzuholen.
Er gehört dazu wie der Abend zum Morgen. Es ist nicht das künstliche Licht eines nie endenden Tages, das uns glücklich macht, nicht die ewige Jugend, nicht der makellose Körper. Glück bedeutet, dem Leben hingegeben zu sein wie das Kind im Mutterleib und zu nehmen, was kommt.
So können wir dem Tod entgegengehen. Er wird kommen. Er ist die einzige Gewissheit in unserem Leben, die einzige Sicherheit. Was auch immer wir uns an Materiellem aufbauen: Es wird vergehen. Im Grunde unseres Wesens wissen wir das. Wir wissen, dass wir sterben werden. Diese Wirklichkeit zu fliehen ist die Keimzelle unserer Angst und der dunklen Eigenschaften, die ihr entspringen: Gier, Hochmut, Verschwendungssucht, Ignoranz, Eifersucht, Geiz, Neid, Sturheit, Bösartigkeit. Alles, was uns hart und unnachgiebig macht, hängt mehr oder weniger direkt mit unseren Versuchen zusammen, uns ans Leben zu klammern und es uns aneignen zu wollen.
Doch wir bekommen es nicht zu fassen! Leben ist Fluss, Bewegung, stete Veränderung. Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben, wir könnten es eines Tages dominieren. Diese Illusion ist es, die uns unbeweglich macht und nach unten zieht. Sie hindert uns daran, im Lebensfluss zu schwimmen. Sie ist es, die den Weg in den aktuellen Wahn-Sinn geebnet hat.
Beginnen wir, uns von dieser Illusion zu befreien. Verkriechen wir uns nicht in die Scheinwelt einer Serie, von der nur die ersten Folgen interessant sind und der Rest ein lauwarmer Abklatsch ist. Schöpfen wir aus dem Vollen, gehen wir hinein in das Abenteuer und wagen wir uns an das Alter heran! Es ist leicht, tolle Sachen zu unternehmen, wenn man in vollem Saft steht. Altern jedoch ist etwas für Anspruchsvolle. Es braucht echte Helden, wenn die körperlichen Kräfte nachlassen und wir uns nicht mehr auf unsere äußere Attraktivität und Kraft verlassen können. Dem Tod mit Zuversicht und Neugierde entgegenzugehen ist nichts für Drückeberger und Jammerlappen. Hier ist das Höchste gefragt, zu dem wir in der Lage sind, das Schönste, das Leuchtendste. Hier braucht es echten Mut, denn wir wissen nicht, was danach passiert.
Doch vielleicht weiß es unser Körper. Vielleicht ist schon ein neuer Körper in ihm angelegt. Imagozellen heißen die Zellen in der Raupe, in denen der Schmetterling schon gedacht ist, ohne dass materiell eine Spur von ihm da ist. Diese Zellen schwingen auf einer anderen Frequenz als der Rest des Raupenkörpers und werden von diesem zunächst abgestoßen. Die Imagozellen bilden sich jedoch immer wieder neu und überleben schließlich. Sie beginnen, sich in Clustern zusammenzuschließen und Informationen miteinander auszutauschen. Aus den Clustern werden Gruppen, die sich organisieren und zu etwas Eigenständigem werden, das etwas anderes ist als die Raupe. Diese neue Identität verwandelt den alten Raupenkörper von innen heraus und schafft die Voraussetzungen für die Geburt von etwas vollkommen Neuem.