„Sometimes that light at the end of the tunnel is a train“ — Murphy‘s Law.
Gerechtigkeit als gesellschaftliches Strukturprinzip
Das Volk ist zu doof für die Demokratie. Deswegen braucht es Experten, um nicht von egoistischen Machthabern manipuliert und hintergangen zu werden. Dieser Ruf nach einer „wahrheitsbasierten“ Epistokratie (altgriechisch: episteme „Wissen“ und kratia „Herrschaft“) stammt nicht von mir, sondern von Philosophen wie Platon, John Stuart Mill oder David Estlund.
Ihnen zufolge habe sich Gesellschaft nicht an Gleichberechtigung zu orientieren, sondern sei nach dem Prinzip der Gerechtigkeit zu gestalten. Diese entstünde beispielsweise bei Platon, sobald sich jedes Individuum auf die Funktion beschränke, die ihm aufgrund seiner Konstitution auch zustehe: Diejenigen, die von Natur aus zur Lenkung des Ganzen befähigt sind, sollen über jene herrschen, deren Wesen darin bestehe, sich unterzuordnen. Der Einzelne müsse sich selbst erkennen und verstehen „das Seinige zu tun“ (1). Nur so erreiche er seinerseits eine „gerechte Seelenverfassung“ und nähere sich der Eudaimonie, dem guten Leben mit sich selbst sowie innerhalb der Gemeinschaft.
Ebenso wie sich für Platon ein glückliches Leben durch gerechtes Handeln bedingt, setzte er für letzteres die Struktur einer hierarchischen Beziehung zwischen den drei Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung voraus: Im gleichen Maße, wie diese vom Individuum und der Gemeinschaft gelebt würden, intensiviere sich auch die innere Harmonie der Polis, des Raums, in dem ethisches Leben möglich ist. Triumphieren allerdings Macht, Ehrgeiz und Ruhmsucht über Sittlichkeit, herrscht Beliebigkeit und es entstünden ungenügende Ordnungsstrukturen und Dauerkonflikte privater Einzelinteressen. Für Platon, der sowohl in einem Übermaß individueller Freiheit als auch der Teilhabe unqualifizierter und eigennütziger Personen die Grundfehler der Demokratie sah, bedeutete dies das Ende der Vernunftherrschaft.
Sein Ideal einer regierenden Philosophenaristokratie hat damit einen gravierenden Haken: Sie funktioniert nur so lange, wie ihre Weisen auch am Wahren interessiert sind. Werden jedoch universelle Werte in den Dienst des Weltlichen gestellt, erlischt nicht nur jede Unterscheidung zwischen richtig und wahr oder gut und gut gemeint, sondern auch jede Gerechtigkeitsutopie.
Sobald die Freiheit und Eigenverantwortung des Individuums genauso wie die moralische Korrumpierbarkeit eines Philosophen verkannt wird, geht es nicht mehr um Wahrheit, sondern um Macht. Wird der Wille, dem Bürger mittels Reflexion und Selbsterkenntnis zur Eingemeindung ins „harmonische Ganze” zu verhelfen, ins Illiberale verkehrt, mag dieser zwar weiterhin zum „Guten” erzogen werden, doch kommt dieses „Gute” nun nicht mehr nur ihm zugute, sondern denjenigen, die darüber entscheiden, was er darunter zu verstehen habe.
Im Dienst des Weltlichen
Es war der französische Philosoph Julien Benda, der es sich in Anbetracht der Gewissenlosigkeit seiner Zeit zur Aufgabe machte, die Beschaffenheit des Intellektuellen erneut auf den platonischen Aspekt der Tugendhaftigkeit zu prüfen. So definierte er in seinem 1927 geschriebenen und 1946 überarbeiteten Essay „Der Verrat der Intellektuellen“ dessen natürliche Konstitution als interessensfrei, statisch und rational.
Für Benda repräsentiere der klassische Intellektuelle Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernunft in ihrer abstrakten Form (2). Er sei nicht darauf aus, Gerechtigkeit auf Erden zu finden, sondern suche nach Befriedigung in sich selbst. Galt sein ureigenes Interesse dem Erkennen und nicht den Erkenntnissen, stellte für den Intellektuellen das „rein spekulative Denken“ (3) die vielleicht edelste Form denkerischer Tätigkeit dar. Besann er sich auf sie, lebte der Intellektuelle nach dem, was Spinoza einst „zeitbedingte Vollkommenheit“ (4) nannte: eine Art Universalismus innerhalb der geistigen Lebensweise, aus dem sich wiederum ein Ewigkeitssinn zu entwickeln vermag.
Ist des Intellektuellen Reich folglich „nicht von dieser Welt“ (5), sei er auch nicht darauf aus, anhand „subjektiver Ideologien“ bestimmte „Weichen“ im Menschen zu stellen und diesen damit „umzuerziehen“. Sein Sinn für das Ganze lässt ihn den Menschen stets als Selbstzweck, als ein Subjekt mit Würde, Moral und Verstand betrachten, dem niemand vorzuschreiben braucht, was er zu tun oder zu lassen habe.
Schrieb George Orwell 1940 noch über sich selbst: ,,Gefühlsmäßig bin ich definitiv ‚links’, aber ich glaube, dass ein Autor nur ehrlich bleiben kann, wenn er sich von Parteietiketten freihält” (6), sah Benda im Wegfall einer Unparteilichkeit den Verrat der Intellektuellen. Denn ihre eigentliche Aufgabe sei die unparteiische Suche nach Wahrheit unter Einsatz ihrer Vernunft.
Sowie Intellektuelle sich etikettierten und mit ihren Lehren politische Leidenschaften anstelle von ewigen Weisheiten begründeten, hörten sie für ihn auch auf, Intellektuelle zu sein. Sie würden zu Dienern des Weltlichen (7); zu Experten oder „Medienintellektuellen“, die sich dem Dogma „der fortwährenden Entwicklung von Wissenschaft“ (8) verschrieben und damit alles als wertlos erachteten, was nicht zum „Realen“ gehörte. Sie begannen, zu agieren, „als hätte das Denken nicht ausschließlich Denken zu sein, ohne sich in ‚den Dienst‘ von was auch immer stellen zu wollen“ (9) und wurden zu Unterstützern eines Systems, „welches das Denken nur insofern achtet, als es ihm dient, und es ächtet, sobald es die Befriedigung im reinen Vollzug seiner selbst findet“ (10).
Die Entlarvung des Expertenethos
Er will Doktrinen aufrechterhalten, nicht den Menschen. — während dieser Verrat des Intellektuellen an seinem geistigen Erbe selbst Noam Chomsky dazu veranlasste, den modernen Experten als Anti-Intellektuellen, als Anhänger einer „Art säkularen Priesterschaft“ (11) für die Machtelite zu bezeichnen, dient diese „Aufgabenverteilung” geistiger Tätigkeiten Michel Foucault zur Unterscheidung zwischen dem „universalen“ und dem „spezifischen Intellektuellen“ (12): War der universale Intellektuelle noch ideologiefrei, erlaubte ihm dies, allgemeine Werte zu verdeutlichen und mit ihnen „das Gewissen aller“ (13) zu repräsentieren. Will er Verschiedenheiten in ihrer ganzen Tiefe und Unauflöslichkeit fühlen, strebt der spezifische Intellektuelle nach Einigung.
Der spezifische Intellektuelle sei als das Ergebnis einer Welt zu betrachten, deren Horizont sich von Tag zu Tag derart erweitert, dass Spezialisierung als einzige Möglichkeit der Komplexitätsreduktion erscheint. Damit ist auch er — ebenso wie nun seine Themen nicht mehr universaler, sondern spezifischer Natur sind — nicht mehr unbefangen und urteilsfrei. Als Experte oder „Medienintellektueller“ besteht seine Aufgabe fortan nicht mehr darin, Wahrheit und Gerechtigkeit zu verdeutlichen, sondern „durch Gedanken zu beeinflussen, Ideen für die Mächtigen zu entwickeln und allen zu verkünden, was sie glauben sollen“ (14). Er kann Pläne, Strategien, Theorien und Rechtfertigungen liefern, aber keine Autonomie, keine Anerkennung, keine Wertschätzung für das Individuum.
Letztendlich endet der Experte als Gefangener seiner eigenen Denkschranken — außerstande zu erkennen, dass er in seinem Versuch, allein aus seiner eigenen Disziplin heraus, eine universelle Moral und Wahrheit begründen zu wollen, eben diese verrät. Während sein Weltbild genauso fragmentiert ist wie die Interdisziplinarität seiner Wissenschaften, ist er derart von sich und seiner Materie eingenommen, dass seine Engstirnigkeit jede Form der unkonventionellen Lösungsfindung unterdrückt und ihm schlussendlich selbst zum Verhängnis wird.
Derart an die Fragilität jener „Wertskalen des Irdischen“ gefesselt, verschwinden öffentliche Orte des langen Nachdenkens oder der aufklärerischen Diskussion aus seinem Hörradius, lassen sich ihre Sorgen weder in Statistiken noch in Studien ausdrücken. Sein Glaube, mittels Forschung eine höhere Evidenz und Sicherheit für das gute Leben zu generieren, übersteigt letztendlich sein Vertrauen in dieses gute Leben selbst.
Ist das noch Politik oder schon Getriebenheit?
Sobald eine Gesellschaft versucht, Wahrheit durch sich selbst zu begründen, wird sie blind gegenüber der Brüchigkeit eigener Wissensgrundlagen. Unter diesem Aspekt lässt sich auch der Verlust des klassischen Intellektuellen als geistig und materiell unabhängiger Begleiter des Geschehens betrachten: Mit dem Wegfall seiner Rolle als „Störfaktor“ (Joseph A. Schumpeter) verschwand schließlich nicht nur die — bis dato gängige — Fundamentalkritik am herrschenden System, sondern zugleich auch jener Geist, der den Versuchungen der Unfreiheit noch die Stirn zu bieten wusste.
Was bleibt, ist eine von Prominenz und Stolz getriebene Interventionslosigkeit des öffentlichen Diskurses sowie ein sich auf die Orientierungslosigkeit der Moderne stützendes, von Gehorsam, Rückgratlosigkeit und Befehlsstrukturen durchzogenes Kollektivdenken.
„Die Erneuerung der Gesellschaft muss vom Zweifel ausgehen“ — Ivan Illich (15).
Befreit von oppositionellen Aufständigkeiten konnten jene Doktrinen erstarken, die immer dort auf fruchtbaren Boden treffen, wo dem Menschen alternativlos eine moralisch vertretbare Wirklichkeit offeriert wird. Folglich braucht es nicht zu verwundern, dass gerade unsere westliche Hemisphäre derlei Hybris anheimgefallen ist: Sie schützt schließlich nicht nur sich und ihre Mitglieder vor vielerlei Formen der systemischen Pathologisierung, sondern erzeugt zugleich eine Eigendynamik, die nichts außer Universalität, Kohärenz, Homogenität und Präzision im Sinn hat. Bleibt Reibung aus, kann auch kein Widerspruch auftreten. Und wo der Mensch auf keinerlei Ungereimtheit stößt oder gegen Türen rennt, gibt es auch keinen Grund, die Dinge zu hinterfragen. Eine Linientreue, die Rudi Dutschke bereits 1967 in seinem Gespräch mit Günter Gaus wie folgt definierte:
„Wir haben aber systematisch immer wieder Regierungen bekommen, die man gewissermaßen bezeichnen könnte als institutionalisierte Lügeninstrumente, Instrumente der Halbwahrheit, der Verzerrung, dem Volk wird nicht die Wahrheit gesagt. Es wird kein Dialog mit den Massen hergestellt, kein kritischer Dialog, der erklären könnte, was in dieser Gesellschaft los ist. (…) wir (haben) nach 1945 eine sehr klare Entwicklung der Parteien, wo die Parteien nicht mehr Instrumente sind, um das Bewusstsein der Gesamtheit der Menschen in dieser Gesellschaft zu heben, sondern nur noch Instrumente, um die bestehende Ordnung zu stabilisieren, einer bestimmten Apparatschicht von Parteifunktionären es zu ermöglichen, sich aus dem eigenen Rahmen zu reproduzieren, und so also die Möglichkeiten, dass von unten Druck nach oben und Bewusstsein nach oben sich durchsetzen könnte, qua Institution der Parteien schon verunmöglicht wurde.“
Erbaut sich Macht auf Basis von Unterdrückung, verliert Wahrheit ihre Zuhörer. Es geht nicht mehr um Erkenntnis, sondern um Konsens: Stehen bürgerliche Interessen im Widerspruch zu polit-ökonomischen, wird dazu tendiert — anstatt die Maske des Fürsorgestaates fallen zu lassen und somit selbst zum Schrecken zu mutieren —, Umstände zu erfinden, die das gewünschte Handeln durch Unterdrücken bestimmter Bedürfnisse von selbst bezwecken. Reingewaschen durch den Vorsatz, einzig dem Wohl der Allgemeinheit dienen zu wollen, gerät der Mensch als eigentlicher Zweck aller Bestrebungen aus dem Blickfeld. Worin Bildung, Politik oder Behandlung letztendlich bestehen könnten, wird zweitrangig. Wo einzig ihre Anwendung zählt, wird ihr Befolgen zum Selbstzweck.
Trägt der heutige Totalitarismus zwar lieber Anzug und Kittel statt Uniform, behielt er doch sein Korsett aus Engstirnigkeit: Stürzen die einen sich mittels Konsum und Massenkultur in eine Art sublimierten Konformismus, erleiden die anderen eine sogenannte Déformation professionnelle; eine Adaption der beruflichen Brille auf die gesamte Lebenspraxis.
Vermag sich dies bei Designern, Gärtnern oder Köchen noch im Rahmen einer penetranten Alltagskomödie abspielen, zieht eine solche Universalität sowohl bei Politikern, Polizisten und Lehrern als auch Wissenschaftlern, Ärzten und Virologen deutlich weitreichendere Konsequenzen nach sich: Auf einmal wird alles politisch, jeder potenziell ansteckend oder zum vermeintlichen Gefährder, zudem sind Dritte involviert, deren Lebensbahnen sich bislang noch außerhalb jeder Übergriffigkeit zu bewegen vermochten. Verwischen die individuellen Konturen und der Mensch wird nur noch als schablonisierter Beschulter, Konsument, Klient oder Patient gesehen, droht laut Ivan Illich jene Auflösung des Privaten, die er einst als „Entmündigung durch Experten“ bezeichnete.
In der Suppenküche des politischen Realismus
Gingen Philosophen wie Aristoteles und Hegel noch davon aus, dass Wahrheit einer inneren Dynamik unterliege und man sich ihr stets nur annähern, sie aber nie erreichen könne, stand ihr Denken nicht nur außerhalb jenes Widerspruchs von Ewigkeit und Status. Sie lebten vielmehr eine Anspruchslosigkeit auf die Sinnzusammenhänge dieser Welt, der unser heutiger Alleingeltungsanspruch diametral entgegensteht: Vor allem in Zeiten der Krise erleben wir, wie wissenschaftliche Totschlagargumente von Politikern dazu genutzt werden, ihre eigenen Entscheidungen zu immunisieren.
Ob Klimawandel oder pandemische Notlage: Unter dem Aspekt der Souveränität werden Regeln entworfen, an denen diejenigen verfahrensmäßig beteiligt sein müssten, die diesen unterworfen werden — ein induktives Verfahren, das die Richtigkeit im Einzelnen zur Gültigkeit im Allgemeinen erklärt. Damit stellt es ein Ausmaß an Übergriffigkeit dar, das insofern breite Wellen der Empörung hervorrufen müsste, wenn unser Lebensstil nicht ein Niveau an Passivität erreicht hätte, welches uns Bevormundung mehr als Entlastung statt als Entmündigung wahrnehmen lässt.
Ihren Ursprung sah Benda in der Dreigleisigkeit politischer Leidenschaften — bestehend aus der Schwächung der intellektuellen Haltung, der Abschaffung des Idealismus sowie der Dezimierung des Unterscheidungsvermögens (16). Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts wurde durch sie ein Gesinnungsfeld geschaffen, durch das sich das Unterfangen des Staates, sämtliche moralischen Ressourcen für sich zu mobilisieren, nicht mehr auf Kriegszeiten zu beschränken braucht: Anstatt den Menschen inmitten einer offenen Utopie eigene Ideen und Werte entwickeln zu lassen, hat man sich dazu entschlossen, ihn mittels geistiger Verkümmerung in der Angewiesenheit auf jene bereits vorgefertigten Narrative zu halten.
Ob die Debatte unter dem Motto Digitalisierung, Gendern, Kriegsbefürwortung, Ökokommunismus oder „mehr Diktatur wagen“ verläuft, ist demnach völlig egal geworden — des Menschen moralischer Wille integriert sich heutzutage derart schnell in das Wertegerüst jener vorgefertigten Leitlinien, dass das Erstarken einer neuen politischen Religiosität nur noch schwer von der Hand zu weisen ist.
Unsere Innen- wie Außenwelt wird schlichtweg zu einseitig bespielt, um dies nicht als eine Art „Semipermeabilisierung” unseres Selbst aufzufassen: Je anfälliger wir für Fremdeinflüsse geworden sind, desto mehr hat unsere Stimme an Relevanz eingebüßt. Es ist egal geworden, was wir eigentlich wollen, wie wir eigentlich leben möchten und worin unser Gefühlszustand eigentlich bestünde, würde man uns nicht ständig so verdrehen.
Die Medialisierung, Medikalisierung und Mathematisierung unserer Wirklichkeitswahrnehmung hat diese derart von der Realität unseres Alltags entkoppelt, dass Auto-, Experto- und Technokraten leichtes Spiel dabei haben, die losgelösten Unsicherheiten über richtig und falsch; gut oder böse mit ihren eigenen Wertvorstellungen zu restabilisieren. Während der Einzelne im Sprachgift der Masse seine Stimme verliert, wurde diese mit der Zeit so fragil, dass sie aus Angst davor, im Zuge eigener Entscheidungen Fehler zu machen, anstelle von Anleitungen lieber Anweisungen und anstelle von Ratschlägen nur noch Befehle befolgte.
„Fürsorgliches Verhalten hat einen Hang zur Entmündigung. Beschützen hält die Menschen klein. Fürsorge ist daher Nummer eins der zehn Möglichkeiten, Menschen passiv zu machen“ — Reinhard K. Sprenger.
Die Unbeirrbarkeit des Erasmier
Hat auch jede Generation das Recht, an ihrer eigenen Dummheit zu scheitern, ist es dennoch weitaus zu kurz gegriffen, den Grund für fehlende Emanzipation einzig beim Individuum zu suchen. In Zeiten, wo Universitäten zu Konzernen mutieren und die Diskussionsrunden sämtlicher Medienformate nur noch auf quotenbringendes „Confrontainment“ statt auf Aufklärung und Bildung einer kritischen Öffentlichkeit ausgerichtet sind, reicht es schlichtweg nicht mehr aus, die Wurzeln früherer autoritärer Systeme zu „kennen“— zumal diese meist bei jener „kultivierten“ Gesellschaftsschicht auf den fruchtbarsten Boden trafen.
Die Hörigkeit des eigenen Zeitgeistes zu enttarnen, obwohl sich dessen Vertreter nicht nur nicht als Verfechter der Aufklärung, sondern als Profiteure bis Initiatoren der Unfreiheit erweisen, erfordert mehr als „Wissen” oder den Einblick ins Politische: Um jenen Mut aufzubringen, inmitten einer sich irrtümlicherweise für frei und unabhängig haltenden Gesellschaft für Freiheit und Unabhängigkeit aufzustehen, braucht es ein von den Zwängen der Zeit unverdorbenes Selbst, das sich nicht davon beirren lässt, was man eben gerade so zu denken und zu sagen hat, sondern — unabhängig aller moralischen Verfassungen — den Wert der Gerechtigkeit in sich zu bewahren weiß.
„Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“ — Antonio Gramsci, Gefängnisheft 28, Paragraf 11, 2232.
Von Karl Popper, Isaiah Berlin und Norberto Bobbio über Alexander Mitscherlich, Erich Fried, Michel Foucault und Golo Mann bis hin zu Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Primo Levi, Alexander Solschenizyn, Jan Patočka oder der Gruppe 47: Sie alle haben sich in „Zeiten der Prüfung“ — der eine mehr, der andere weniger — ihr Gerechtigkeitsgefühl nicht austreiben lassen. Sie widerstanden nicht nur den Versuchungen der Unfreiheit, sondern brachten inmitten aller Gleichschaltung die Stimme der Vernunft zum Klingen. Für sie war Freiheit noch das Fehlen von Zwang.
Dies machte sie für Ralf Dahrendorf zu Erasmier, zu jenen „querdenkenden Individualitäten“, die als Repräsentanten des liberalen Geistes — und damit immun gegen die Strömungen ihrer Zeit — oft alleine dastanden. Behielten sie moralisch und politisch ihren klaren Kopf, indessen andere ihn verloren, wurde Einsamkeit zum Preis ihrer Gedanken und damit auch der Preis ihrer Freiheit. Sind Raymond Aron oder Walter Benjamin für dieses Prinzip noch gestorben, fehlt es dem heutigen Hofintellektuellen an jeglicher Form der Disziplin, Selbstkontrolle und Besonnenheit, um auch nur noch annähernd ein vergleichbares Opfer im „Kampf für die Vernunft” zu leisten.
Zweifelsfrei, das „Binden“ moralischer Entscheidungen an die Vernunft ist seltener denn je. Zugleich fehlt es an jenen kühlen, klugen Köpfen, die die Dinge noch vom Ende her — Wie wollen wir leben? Wer wollen wir (gewesen) sein? — gedacht haben; an jener Wesensart, die sich stets den Weitblick zu bewahren wusste, ohne dabei aus der eigenen Mitte zu fallen.
Es mangelt an eher fragenden als sagenden Stimmen, Denkern, deren Aphorismen die Menschen noch dazu anregten, selber zu denken, anstatt sie mittels Emotionalisierung zu einem moralisierenden Stimmungsbrei zu verkochen.
Jene „Wächter der Wahrheit“, deren Wissensvorrat zwar so weit reichte, um sie als „Weltspezialisten” bezeichnen zu dürfen, die ihre Kompetenzen aber nie dazu nutzen, ihre Mitwelt klein zu halten. Diejenigen, deren Anliegen darin bestand, dem Menschen differenzierte Gedankengänge in die Hand zu geben, damit dieser wiederum in dieser Welt nicht den Kopf verliert? Kurzum: Es fehlt an jenen Denkern, zu denen man aufblicken kann, ohne sich klein zu fühlen. Wer aber sagt, dass wir diese Köpfe nicht auch selber sein können?
„Wenn ich sage, die Menschen haben ihre Geschichte schon immer gemacht, aber noch nicht bewusst gemacht, dann soll das bedeuten, wenn sie sie bewusst machen, dann stellt sich das Problem der verselbstständigten Eliten, der verselbstständigten Apparate nicht mehr. Denn das Problem besteht darin, gewählte Repräsentanten wieder abzuwählen — sie jederzeit abwählen zu können — und das Bewusstsein der Notwendigkeit der Abwahl zu haben“ — Rudi Dutschke, im Interview mit Günter Gaus, 1967.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Platon, Politeia 433a.
(2) Benda, Julien: Der Verrat der Intellektuellen. Essay. VAT Verlag André Thiele 2012, Seite 71.
(3) Ebenda, Seite 62.
(4) Ebenda, Seite 73.
(5) Ebenda, Seite 107.
(6) Zitiert nach Dahrendorf, Ralf: Versuchungen der Unfreiheit. die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. Verlag C.H. Beck, München 2006, Seite 174.
(7) Benda 2012, Seite 129.
(8) Ebenda, Seite 48.
(9) Ebenda, Seite 77.
(10) Ebenda, Seite 56.
(11) Chomsky, Noam: Eine Anatomie der Macht. Der Chomsky-Reader. Europa-Verlag, Hamburg 2004, Seite 66.
(12) Foucault, Michel: Die politische Funktion des Intellektuellen. In: Derselbe: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band III: 1976-1979. Hergegeben von Daniel Defert/ François Ewald. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, Seite 146.
(13) Ebenda, Seite 145.
(14) Chomsky 2004, Seite 66.
(15) Illich 1973, S. 8
(16) Benda 2012, Seite 194.