„Kein Mitgefühl für Ungeimpfte“ lautete im Herbst 2021 die Überschrift auf der Titelseite einer regionalen Tageszeitung. Das hat mich nachdenklich gemacht. Unabhängig von den medizinischen, politischen und juristischen Blickwinkeln auf Corona, die Corona-Maßnahmen und die Corona-Impfung irritiert mich der gesellschaftliche und zwischenmenschliche Aspekt dieser Aussage. Die explizite und vorsätzliche Verweigerung von Mitgefühl einer gewissen Personengruppe gegenüber scheint mir Symptom einer mitleids-losen, mitgefühls-losen und empathie-losen Gesellschaft.
Warum? Das will ich im Folgenden erklären und an vier Faktoren untersuchen:
- Sprache
- Schuld
- Neurobiologische Grundlagen von Mitgefühl
- Täter-Opfer-Struktur
Inklusive Sprache ist politisch korrekt
Ungeimpfte. Beginnen möchte ich mit diesem Begriff.
Ständig wird in der Sprache auf Political Correctness Wert gelegt:
„Die Studierenden sind Menschen, die studieren. Es sind Menschen wie du und ich, aber eben Menschen, die studieren.“
„Die Geflüchteten sind Menschen, die geflohen sind. Es sind Menschen wie du und ich, aber eben Menschen, die geflohen sind.“
„Menschen mit Behinderung sind Menschen, die mit einer Behinderung leben. Es sind Menschen wie du und ich, aber eben Menschen, die mit einer Behinderung leben.“
Politisch korrekt wird das Menschsein, das Verbindende in den Vordergrund gestellt.
Exklusive Sprache schließt Menschen aus
Den Ungeimpften sprechen wir das Menschliche ab, das Menschsein, — indem wir von „Ungeimpften“ oder „Impfverweigerern“ sprechen.
Wir sprechen nicht von „Menschen mit und ohne Impfung“, sondern von „den Geimpften und den Un-Geimpften, den Genesenen und den Nicht-Genesenen.“
Es geht nicht mehr um Menschen, sondern um Etikettierungen, Eigenschaften, eine Impfung haben oder keine Impfung haben. Das Menschliche und das Verbindende bleiben außen vor.
Wenn es um Corona geht, werfen also viele die sprachliche und politische Correctness über Bord.
Welche anderen Bezeichnungen man für Ungeimpfte verwenden kann, habe ich in dem Blog Über geimpfte und ungeimpfte und was Sprache mit uns macht geschrieben.
Sprache kann stigmatisieren
Was aber macht Sprache, die Menschen mit Etiketten versieht? Diese Sprache stigmatisiert.
Vor allem Menschen mit Behinderung kennen sich in Sachen Inklusion aus. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich arbeite als Peerberaterin in diesem Bereich. Lesen wir also, was die Website www.inklumat.de dazu zu sagen hat. Der Inklumat unterstützt Fachkräfte bei der Umsetzung inklusiver Angebote, die sich auf Menschen mit Behinderungen in all ihrer Vielfalt beziehen. Für Nicht-Fachleute: Inklusion heißt: Alle dürfen mitmachen.
„Stigmatisierung bezeichnet einen Prozess, bei dem verschiedene Merkmale von Personen und Gruppen wie beispielsweise Religion, Rasse, Behinderung mit negativen Bewertungen belegt und die Betroffenen als ‚die Farbigen’, oder ‚die Behinderten’ oder ‚die Psychos’ bezeichnet werden.“
Stigmatisierung und Spaltung
Aha. Und genau das passiert, wenn wir von den Geimpften und den Ungeimpften, von den Genesenen und den Nicht-Genesenen sprechen.
Das Merkmal „ungeimpft“ wird mit negativen Bewertungen belegt, und die Betroffenen werden als „die Ungeimpften“ bezeichnet. Stigmatisierung eben. Menschen werden nur noch anhand eines bestimmten Merkmals definiert.
Außerdem messen sich die Un-Geimpften an den Geimpften und die Nicht-Genesenen an den Genesenen. Genau das, was Inklusion verhindern will. Dass nämlich ein Merkmal zu einer Bewertung und zur Exklusion führt. Auf der einen Seite „normal“ und auf der anderen Seite ein „Defizit“, ein „Makel“. Also auf der einen Seite „normal” und auf der anderen Seite „behindert“ — dies war der alte Behindertenbegriff, der in der UN-Behindertenrechtskonvention abgeschafft wurde.
Das neue Normal ist also das „geimpft“. Und das neue andere ist das „nicht geimpft“ und das „nicht genesen“.
Soweit zur Sprache. Schauen wir uns im Folgenden das Thema mit der Schuld an.
Kein Mitgefühl, wenn man selbst schuld ist
Wenn Ungeimpfte aufgrund von gesetzlichen Regelungen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden, dann sind sie „selbst schuld“. Denn sie könnten sich ja impfen lassen und wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Sie sind also selbst für den Schaden und die Exklusion verantwortlich.
Und weil sie selbst schuld sind, haben sie kein Mitgefühl verdient. Das will uns die Zeitungsüberschrift vermitteln. Doch stimmt das?
„Selber schuld!“, haben die Erwachsenen zu mir gesagt, wenn ich als Kind hingefallen bin, weil ich zu schnell gerannt bin. Ich bin zu schnell gerannt. Okay, aber weh getan hat es trotzdem.
Deshalb hätte ich mir Trost und Mitgefühl gewünscht. Auch wenn ich selber schuld bin.
Doch das waren die Erziehungsmethoden der 60er- und 70er-Jahre des vergangenen Jahrtausends. Seitdem ist fast ein halbes Jahrhundert vergangen. Wir haben uns in unserem Verständnis von Erziehung, Bildung und Miteinander weiterentwickelt.
Wollen wir wirklich eine Gesellschaft sein, die anderen das Mitgefühl verweigert, wenn sie selbst schuld sind?
Und was heißt schon „schuld“?
Schuld — was ist das?
Sind die Ungeimpften wirklich selbst schuld, dass sie von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden? War ich als Kind wirklich „selber schuld“, wenn ich hingefallen bin?
Leben ist kompliziert und komplex. Es ist nicht so einfach, wie wir es uns vorstellen oder wie man es uns einzureden versucht.
Als Kind bin ich gerannt und hingefallen. Wenn ich gewusst hätte, dass ich hinfallen würde, wäre ich langsamer gerannt und hätte besser aufgepasst. Aber ich hätte mir nicht das Rennen abgewöhnt, denn Kinder wollen rennen und spielen und sich ausprobieren. Die Fähigkeit, auf die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen und sie einschätzen zu können, müssen sie erst noch entwickeln. Also sage ich mit meinem Verständnis: Ich hatte keine Schuld, sondern befand mich noch im Lernprozess. Und der Schmerz des Hinfallens war Lerneffekt genug, da brauchte es nicht noch die blöden besserwisserischen Sprüche der Erwachsenen.
Impfen ist eine komplexe Entscheidung
Und wie ist das mit dem Impfen?
„Wer geimpft ist, ist geschützt und schützt andere.“
„Wer ungeimpft ist, gefährdet sich und andere und ist verantwortungslos.“
Eine einfache Wahrheit?
Nein. Da sind wissenschaftliche Fragen offen:
- Schützt die Impfung vor der Erkrankung mit dem Coronavirus und vor welcher Variante? Oder schützt sie nur vor einem schweren Verlauf?
- Schütze ich durch die Impfung meine Mitmenschen? Oder übertrage ich auch als Geimpfter die Viren?
- Haben die sogenannten Impfungen wirklich keine Nebenwirkungen?
Wir sehen: So einfach liegen die Dinge nicht. Schwarz-weiß, richtig-falsch. Wo ist das Mittelmaß? Die Grauschattierung? Und bei so viel Komplexität: Wo ist da die Schuld?
Wissen wir, wohin wir mit diesem Denken kommen?
Ich wage zu behaupten: Menschen, die sich nicht impfen lassen, sind keine grundsätzlichen Impfverweigerer — und sie sind auch nicht dumm. Sie haben auf Basis ihrer Informationen eine wohlüberlegte Entscheidung getroffen. Punkt.
Und sollen sie für diese Entscheidung mit dem Entzug von Mitgefühl bestraft werden? Im Folgenden möchte ich den Aspekt beleuchten, ob wir unser Mitgefühl überhaupt bewusst abstellen können, und auf die neurobiologischen Grundlagen für Mitgefühl eingehen.
Mitgefühl auf Knopfdruck
„Kein Mitgefühl für Ungeimpfte“ bedeutet: Wir verweigern bestimmten Menschen unser Mitgefühl.
Aber können wir unser Mitgefühl einfach abstellen — wie den Regler einer Herdplatte, wenn der Topf überkocht, oder wie den Lichtschalter im Schlafzimmer, wenn wir uns schlafen legen? Ist es psychologisch und neurobiologisch überhaupt möglich, Mitgefühl auszustellen?
Menschen sind von Natur aus zu Mitgefühl fähig. Mitgefühl geschieht automatisch und intuitiv. Empathie ist eine natürliche menschliche Reaktion. Das ist zweifelsfrei wissenschaftlich erwiesen.
In einem Experiment haben Neurobiologen wissenschaftlich nachgewiesen: Wenn der Versuchsteilnehmer sieht, wie sich ein anderer Mensch die Hand in der Autotür einklemmt, dann sind in seinem Gehirn die Bereiche für Schmerz aktiv.
Also geschieht Mitgefühl natürlich. Und wir müssen aktiv und bewusst etwas tun, um Empathie abzustellen. Doch ist das überhaupt möglich?
Empathie bewusst abtrainieren
In den 1960er Jahren führte der US-amerikanische Psychologe Stanley Milgram einen Versuch durch:
Die 40 Versuchsteilnehmer sollten einem anderen Menschen Stromschläge versetzen, wenn dieser ihm gestellte Fragen falsch beantwortete. Sie konnten ihn nicht sehen, aber ihn schreien hören, und damit hören, wie ihm die Stromschläge weh taten.
Die Versuchsteilnehmer weigerten sich, weiter Stromschläge zu verabreichen, weil sie Empathie und Mitgefühl zeigten, und dem anderen nicht schaden und ihn nicht verletzen wollten.
Doch wer sich weigerte, wurde vom Versuchsleiter, einer Autoritätsperson in weißem Kittel, dazu aufgefordert, mit den Stromschlägen fortzufahren, indem er versichert hat, dass alles in Ordnung sei und die Stromschläge zu wissenschaftlichen Zwecken notwendig seien.
Daraufhin — und erst daraufhin — haben 26 Versuchsteilnehmer mit den Stromschlägen weitergemacht. In Wirklichkeit gab es keine Stromschläge, die Schreie und Schmerzen waren „Fake“, wie wir es heute nennen würden.
Das Ergebnis deutet darauf hin, dass etliche Menschen unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise aus wissenschaftlichen Gründen, den Anweisungen einer Autorität folgen, also aktiv ihre Empathie und ihr Mitgefühl unterdrücken und ihren Mitmenschen schreckliche Schmerzen zufügen.
Aber wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, die die natürliche Fähigkeit zum Mitgefühl aktiv unterdrückt?
Schauen wir uns nun an, wie durch die Überschrift „Kein Mitgefühl mit Ungeimpften“ eine Opfer-Struktur etabliert wird — und die Täter unsichtbar bleiben.
Geimpfte haben kein Mitgefühl
„Kein Mitgefühl mit Ungeimpften“, lautete die Überschrift der Tageszeitung.
Was aber, wenn ich diese Überschrift anders formuliere, nämlich vom Passiven ins Aktive? Also nicht: „Kein Mitgefühl mit den Ungeimpften“, sondern: „Geimpfte haben kein Mitgefühl.“ Die Überschrift verschweigt, wer denn nun kein Mitgefühl hat. Aber aus dem Sinnzusammenhang ergibt sich, dass es nur die Geimpften, Genesenen oder die Gesellschaft sein können.
Wenn also die Überschrift des Artikels lauten würde: „Geimpfte haben kein Mitgefühl!“, dann ändert sich inhaltlich an dieser Aussage nichts: Geimpfte haben kein Mitgefühl mit den Ungeimpften.
Aber uiuiui — das liest sich doch schon ganz anders. Das klingt anders. Es ruft andere Bilder und andere Gefühle bei den Lesern hervor.
Empathie und Mitgefühl stehen hoch im Kurs und sind gesellschaftlich erstrebenswert. Und Menschen ohne Empathie und Mitgefühl sind nicht hoch angesehen.
Wenn Geimpfte kein Mitgefühl haben, dann werden die Geimpften als Gruppe sichtbar und angreifbar. Dann handeln die Geimpften aktiv und werden zu „Tätern“.
Vermutlich wollen und sollen die Geimpften als Täter unsichtbar bleiben. Zumindest in der passiv formulierten Überschrift handeln die Menschen, die kein Mitgefühl haben, sprachlich aus dem Verborgenen heraus.Wer keine Empathie und kein Mitgefühl hat, wird in der Überschrift nicht erwähnt. Erwähnt wird nur, wer es nicht verdient, Mitgefühl zu erhalten.
Ungeimpfte werden durch die Passivformulierung zum Objekt. Die unsichtbaren anderen sind handelndes Subjekt. Vielleicht sind sie sogar „Täter“ in einer vermeintlich unsichtbaren Täter-Opfer-Struktur, wie wir sie aus der Psychologie kennen.
Mitgefühl in der Gesellschaft
Genau da möchte ich den Finger in die Wunde legen, in die sprachliche Wunde der Corona-Sprache und in die gesellschaftliche Wunde, wie wir miteinander umgehen:
- Wollen wir Menschen sein, die anderen das Mitgefühl verweigern?
- Wollen wir uns den natürlichen menschlichen Impuls des Mitgefühls abtrainieren?
- Wollen wir Menschen aus der Gesellschaft ausschließen wegen bestimmter Merkmale?
- Wollen wir Menschen exkludieren, weil sie eine bestimmte Entscheidung bezüglich einer gesundheitlichen Maßnahme getroffen haben?
Ich wünsche mir,
- dass wir Mitgefühl füreinander haben — unabhängig von der Schuldfrage,
- dass wir unsere natürliche empathische Reaktion nicht unterdrücken — egal aus welchen Gründen,
- dass wir Entscheidungen anderer respektvoll akzeptieren, auch wenn es nicht unsere eigenen sind,
- dass wir uns mit Toleranz begegnen,
- dass wir keine Menschen ausschließen — egal aus welchen Gründen,
- dass wir aus der Vergangenheit lernen,
- dass Stigmatisierung, Etikettierung und Exklusion für immer der Vergangenheit angehören,
- dass wir miteinander reden und uns gegenseitig zu verstehen versuchen.
Wenn wir aufhören, Mitgefühl füreinander zu haben, ist das das Ende einer menschlichen Gesellschaft.
Mitgefühl für alle Menschen
Empathie und Mitgefühl brauchen wir alle. Es gibt Menschen, die Angst vor Corona haben, Angst davor, an Corona zu erkranken oder daran zu sterben. Es gibt Menschen, die Angst vor der Spritze haben, Angst davor, von der Spritze krank zu werden oder an der Spritze zu sterben. Ungeimpfte und Geimpfte wollen alle dasselbe: Sie wollen gesund sein und lange leben. Das ist das Verbindende. Das ist das Menschliche. Nur die gewählten Wege dahin sind unterschiedlich.
Deshalb möchte ich, dass wir miteinander reden — ohne Vorwürfe und Vorurteile. Ich wünsche mir, dass wir über unsere Sorgen und unsere Ängste reden, die zutiefst menschlich sind und die uns miteinander verbinden. Dass wir dem anderen zuhören, auch wenn er eine andere Meinung hat.
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