Ich habe ein Wundermittel entdeckt! Ich habe es immer bei mir. Es wiegt nichts, es kostet nichts und immer, wenn ich ein Problem habe, kann ich darauf zurückgreifen. Es steht mir jederzeit und unbegrenzt zur Verfügung und es hilft mir immer. Je nach Bedarf gibt es mir Energie oder entspannt mich. Es beruhigt meinen Herzschlag, senkt meinen Blutdruck, lindert Schmerzen und löst jede Art von Spannung in mir auf.
Wenn ich nervös bin, gestresst, genervt, durcheinander, unsicher, ängstlich, wütend, aufgebracht, wenn wieder einmal alles daneben läuft, muss ich nur daran denken, von diesem Werkzeug Gebrauch zu machen. Ich halte einen Moment inne in dem, was ich gerade tue, und atme tief durch. Ich spüre, wie die Luft in meine Lungen strömt, in den Bauch, das Becken, bis in den Rücken hinein. Sofort geht es mir besser, egal, ob ich gerade auf einem Zahnarztstuhl sitze, etwas Unangenehmes vor mir habe oder mir den Kopf darüber zerbreche, warum der Nachbar schon wieder so komisch geguckt hat.
Unsichtbarer Hüter
Mein Wundermittel ist mein Atem. Atem ist Leben, die Voraussetzung für alle im Körper stattfindenden Prozesse. Er funktioniert immer, egal ob ich gerade einen Marathon laufe oder im Tiefschlaf liege. Wie ein unsichtbarer Hüter passt er mein Leben lang auf mich auf, ohne dass ich dafür etwas machen muss. In mir vollzieht sich etwas ohne mein Zutun. „Es atmet mich“ heißt eine der Formeln des Autogenen Trainings.
Auch wenn ich meinen Atem lenken und damit Prozesse in meinem Organismus bewusst steuern kann — es ist mir unmöglich, aufzuhören zu atmen, so sehr ich mich auch anstrenge. Wenn ich meinem Atem folge, spüre ich, wie ich mich innerlich aufrichte. Einer Säule gleich steigt er in mir auf. Er verbindet mich gleichzeitig mit dem Boden, der mich trägt, mit der Welt, die mich umgibt und mit dem Himmel, dem ich mich entgegenstrecke.
Im Augenblick präsent
Atmen ist mehr als ein biochemischer Prozess. Mit dem Atem nehmen wir Energie auf, die wir zum Leben brauchen. Über die Atmung können körperlich-vegetative Prozesse wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. In vielen Kulturen wird der Atem mit der Seele in Verbindung gebracht. Er ist eine unsichtbare Brücke zwischen Fein- und Grobstofflichem, Körperlichem und Geistigem.
Der Atem ist Basis vieler Meditationstechniken. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unseren Atem lenken, sind wir ganz da, in diesem Augenblick präsent. Es ist nicht möglich, seinem Atem zu folgen und sich gleichzeitig den Kopf über das Gestern oder das Morgen zu zerbrechen. Der Meditierende nimmt die Haltung eines Betrachtenden ein. So entsteht ein Abstand zwischen dem Beobachtenden und dem, was gerade geschieht. Wenn man etwas direkt vor Augen hat oder bis zum Hals in einer Sache steckt, kann man nicht richtig erkennen, was los ist. Wir sehen klarer, wenn wir einen Schritt zurückgehen und uns die Sache in Ruhe anschauen.
Gedankenrallyes
Ein Bild, das häufig in der Meditation verwendet wird, ist eine durchgeschüttelte Wasserflasche. Wenn wir still werden, setzen sich die festen Partikel am Boden ab, bis das Wasser nicht mehr trübe ist. Doch kaum habe ich mich in Position gebracht, kaum sitze ich mit geradem Rücken und mit beiden Füssen auf dem Boden und habe die Augen geschlossen, kommt Bewegung in meinen Kopf: Sind die Katzen gefüttert? Was gibt es heute zu essen? Bin ich zu blöd zum Meditieren, dass ich meinen Kopf nicht leer kriege?
Ein Einfall jagt den nächsten. Je mehr ich versuche, die vorbeikommenden Gedanken und Gefühle zu zähmen, desto aufdringlicher werden sie. Sie lauern mir auf und kleben sich förmlich an mich. Sie kommen vorbei, wie es ihnen passt, und stürmen durch meine Gehirnwindungen und meinen Körper.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Ich werde meinen Kopf niemals leer bekommen. Und das ist gut so, denn schließlich tun mir meine Gedanken und Gefühle gute Dienste. Ziel der Meditation ist es nicht, sozusagen auf Gedankenjagd zu gehen und sie alle abzuknallen. Meditation ist ein friedlicher und sanfter Prozess, in dem man übt, einen akzeptierenden und wohlwollenden Blick auf das zu richten, was vorbeikommt. Es ist so, als schaute eine Mutter ihren Kindern liebevoll beim Spielen zu, ohne ständig einzugreifen.
Den Monkey Mind beschäftigen
Ich kann also nichts dagegen tun, dass es in mir rumort. Was ich jedoch tun kann: das unablässige Geplapper in meinem Kopf, den Monkey Mind, wie es im Buddhismus genannt wird, mit einem Auftrag beschäftigen (1). Ich sage ihm also, dass er auf meinen Atem achten soll. Begeistert stürzt er sich auf die Aufgabe. Er will beschäftigt sein und zu etwas nutze. Das Schlimmste für ihn wäre, wenn ihn keiner mehr braucht. Deswegen plappert und schnattert er auch die ganze Zeit herum.
Ich befehle also meinem Monkey Mind, aufmerksam jeden Atemzug zu verfolgen: Einatmen — Ausatmen. Solange meine Aufmerksamkeit bei meiner Atmung ist, ist alles gut. Ich bin hier. Präsent. In diesem Augenblick. Natürlich bleibt es nicht dabei. Monkey Mind ist munter und springt auf alles auf, was vorbeizieht. Ich ermahne ihn, zu seinem Job zurückzukehren, was er auch sofort emsig tut. Da kann ich mich auf ihn verlassen!
Mit der Zeit werde ich gelassener. Ich nehme es meinem Monkey Mind immer weniger übel, so sprunghaft zu sein. So ist er eben. Auf die gleiche Weise versuche ich, mit meinen Gefühlen umzugehen. Es ziept hier und nervt da. Schon allein die Haltung! Dabei sitze ich nicht einmal im Lotussitz auf dem Boden, sondern eigentlich ganz bequem auf einem Stuhl. Ich werde ungeduldig. Würde ich häufiger meditieren und nicht ständig etwas anderes vorschieben, könnte ich das jetzt besser. Aber ich habe doch so viel zu erledigen. Wann soll ich denn das alles machen, wenn ich ständig meine Zeit mit Nichtstun und nur Dasitzen und Atmen verbringe? Was tue ich mir hier eigentlich an?
Es plappert, ich lenke meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem. Es plappert wieder. Ich versuche, eine Art Spiel daraus zu machen und das Ganze nicht so ernst zu nehmen. Meditation ist schließlich keine militärische Übung, die man mit verkniffenem Gesicht durchexerziert. Es geht hier darum, alles anzunehmen, was passiert, um es dann wieder loszulassen. Schließlich kann man nichts loslassen, was man vorher nicht hatte.
Also her mit dem Nerv, der Unzufriedenheit, den Selbstvorwürfen. Sollen sie doch vorbeikommen. Wenn ich sie wahrnehme und nicht gegen sie ins Feld ziehe, verschwinden sie von ganz alleine. Sie kommen wieder. Ich nehme sie wieder wahr. Sie verschwinden wieder. Ein Ende ist nicht abzusehen. Hört das denn nie auf?
Vom inneren zum äußeren Frieden
Solange ich am Leben bin, werde ich — so hoffe ich — denken und fühlen können. Ich bin jedoch nicht dazu verdonnert, mich von meinen Gedanken und Gefühlen tyrannisieren zu lassen. Ich kann meine Haltung ihnen gegenüber verändern. Ich weiß nun, dass ich nicht meine Gedanken und Gefühle BIN, sondern die, die sie beobachtet.
Wie auf einer Theaterbühne geht es in mir zu. Jede nur erdenkliche Rolle kann besetzt werden: Mutige und Zaudernde, Liebende und Ängstliche, Großzügige und Knausernde, ... Was auch immer sie mir vorspielen, ich sehe mir das Stück an. Es ist in Ordnung. Dabei hilft mir mein wunderbares Werkzeug: mein Atem. Dank ihm kann ich immer wieder meine Aufmerksamkeit auf das lenken, was wesentlich ist.
Das erleichtert mir auch das Leben in meiner Außenwelt. Ich werde dadurch nicht indifferent den Geschehnissen gegenüber. Vieles macht mich wütend und traurig. Doch ich muss meine Zeit nicht mehr damit verbringen, die anderen dafür anzuklagen. Ich kann meine Wut und meine Trauer in mir selbst annehmen und besänftigen.
So werde ich auch nach außen hin friedlicher. Ich muss meine Energie nicht damit verschwenden, andere zu beschuldigen, zu beschimpfen, zu erniedrigen, zu manipulieren oder zu tyrannisieren, wenn ich in mir selbst für mehr Harmonie sorge. Dadurch verändere ich nicht die Welt. Doch ich verändere meine Welt. Und vielleicht haben andere Lust, das auch zu tun.
Quellen und Anmerkungen: