Dass es nun doch eine Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern gibt, die sich für eine strikte Umsetzung von 2G ausspricht, also für den Zutritt nur von Geimpften und Genesenen bei Veranstaltungen oder im Restaurant, hat man der Öffentlichkeit neulich recht stolz präsentiert. Laut Meinungsforschungsinstitut Insa sollen 57 Prozent dafür sein — nur 33 Prozent der Befragten halten ein solches Vorgehen für falsch. Die Mehrheit der Befürworter sei sogar für eine verpflichtende und nicht nur für eine freiwillige, auf Hausrecht basierende Umsetzung.
Als guter Demokrat muss man da zurückstehen und die Mehrheit akzeptieren, oder? Wenn die Menschen mehrheitlich etwas fordern, ist das doch ein Signal, eine demokratische Kennzahl, die man nicht einfach ignorieren kann, stimmt’s? Jedenfalls suggerieren das Medien und News-Ticker, die uns immer wieder auf solche Umfragen mit — sagen wir mal — „überraschenden“ Mehrheitsverhältnissen hinstoßen.
Dass es in vielen Fällen nicht um Fragen geht, die durch die Mehrheit beantwortet werden können — und dass Umfragen eben nur das sind, nämlich lumpige Umfragen, darüber spricht im Medienbetrieb kaum noch jemand.
Man nimmt die Demoskopie hin wie ein Naturgesetz — und verwechselt sie, vermutlich weil fast namensgleich, mit der Demokratie.
Die Demoskopkratie: Willkommen in der Umfrage-Republik!
Seit Jahren schon leben wir in einem Land, das sich zu seiner eigenen Legitimation immer wieder auf Umfrageergebnisse beruft. Mancher mag sich erinnern, dass auch zu jener Zeit, da die Sozialdemokratie und die Grünen die Agenda 2010 realisierten, immer wieder Umfragewerte abgerufen wurden. Eine Mehrheit war damals für Hartz IV. Wieso auch nicht, schließlich hat jeder Tag für Tag in Zeitung und Fernsehen erklärt bekommen, dass man diese raffgierigen und faulen Arbeitslosen nur so in den Griff bekäme. Die Umfragewerte hatten für die Reformer einen moralischen Wert: Auf ihrer Basis witterten sie ein gefühltes Mehrheitsverhältnis — und wenn die Mehrheit dahinter steht, war man ja auf dem richtigen Weg.
Die Meinungsforscher haben sukzessive einen Platz in dieser Republik eingenommen, den man sich gar nicht mehr wegdenken kann.
Die Sonntagsfrage oder die Beliebtheitswerte haben eine derart gravierende Aufwertung erhalten, dass man manchmal den Eindruck hat, eine Oppositionspartei oder ein Oppositionspolitiker interpretierten sich mitten in der Legislaturperiode als geheime Bundesregierung oder als geheimer Bundeskanzler, nur weil sie in diesen Wertungen gerade mal besser abschneiden.
Ab April 2020 war der Bundestag quasi abgeschafft, die Bundesregierung arbeitete mit Notverordnungen und einem Ministerpräsidentengremium, das keinen Verfassungsrang hatte — es dauerte Monate, bis man den Bundestag wieder Entscheidungen treffen ließ. Eine „Institution“ war allerdings immer da, vermutlich noch mächtiger als sonst: Die Demoskopie. Sie flankierte die Corona-Politik mit allerlei wöchentlich präsentierten Umfragewerten. Von 95-prozentiger Zufriedenheit mit der Regierung bis zu 70-prozentigem Zuspruch für Maßnahmen verschiedener Art: Die Meinungsforscher hatten Konjunktur.
Sie bombardierten uns so sehr mit Meinungsbildern, dass es fraglich ist, ob das noch ein Abbild der Wirklichkeit, also Meinungsforschung war — oder ob sie ins Lager der Meinungsmacher umgeschwenkt sind. Man mag dem Bürger Grundrechte eingeschränkt, man mag unliebsame Meinung durch den sozialen Pranger quasi aberzogen haben: Aber eine Instanz blieb auf Tuchfühlung mit ihm, wollte noch immer wissen, was er denkt — die Demoskopie. Die präsentierten Umfragen suggerierten, dass die Bürger doch noch gehört und gefragt würden.
Grundrechte sind nicht verhandelbar
Aber die Demoskopkratie ist keine Demokratie. Sie ist eigentlich sogar das glatte Gegenteil demokratischer Kultur, denn sie reduziert den Souverän auf Zahlenwerte und Indizes. Dabei wird auch kein konsistentes Meinungsbild geliefert, sondern repräsentativ erfragt — und nicht jede Umfrage ist ergebnisoffen angelegt, Multiple-Choice-Fragen schränken sehr ein, lassen nur eine beschränkte Auswahl. Letztlich können unklar definierte Umfragewerte auch eigenwillig interpretiert werden, ohne dass man genau wüsste, nach welchen Grundlagen man nun „repräsentativ befragte“.
Nein, demokratisch ist das nicht. Es ist demoskopisch. Die schiere Deckungsgleichheit dieser beiden Begriffe ist eine tragische Entwicklung.
Sie lässt uns quasi zu Meinungsmaschinen werden, zu Wesen, die immer und überall Meinungen absondern sollen. Dabei ist es gar nicht immer so einfach, eine dezidierte Meinung zu entwickeln.
Demoskopen reduzieren meist gesellschaftlich Relevantes auf Ja-Nein-Fragen. Jeder Mensch mit drei Jahren Lebenserfahrung weiß allerdings: So eindeutig kann man manches nicht beantworten. Wer bei einer Umfrage mitmacht, antwortet zwangsläufig und sagt zum Beispiel „Ja“, möchte aber noch was hinzufügen, unter welchen Umständen er für ein „Ja“ wäre. Das interessiert die Demoskopen aber nicht weiter. Sie brauchen ein klares Meinungsbild und kein Wischiwaschi.
War das bei der 2G-Umfrage, die ich eingangs erwähnte, etwa auch so? Haben da viele ihren Zuspruch geäußert, wollten aber noch klarmachen, dass dieses Modell nur an bestimmten Stellen, unter bestimmten Voraussetzungen angewandt werden soll? Konnten sich die Befragten frei und allumfassend erklären? Oder konnten sie zwischen einem Ja- und einem Nein-Kästchen wählen? Was wurde als Alternative zu 2G oder 3G angeboten? Gab es außerhalb dieser Modelllogik noch andere Szenerien? Wenn ja: 2G oder Lockdown? Oder doch ganz mutig: 2G oder Freedom-Day?
Den Elefanten im Raum sieht aber ganz offenbar niemand mehr: Umfragewerte über die Berechtigung oder die Ablehnung von 2G fragen indirekt ja auch nach, wie man zu den Grundrechten steht.
Die Demoskopen verhandeln mit solchen Erhebungen über Werte, die der grundgesetzlichen Ewigkeitsklausel unterliegen. Keine Mehrheit im Bundestag und Bundesrat kann die Grundrechte abschaffen — die Meinungsbefrager hebeln dieses Prinzip jedoch mit einem lausigen Umfragekatalog aus.
Kein stiller Chronist, sondern Trendsetter
Klar, natürlich wurden die Grundrechte abgeschafft. Das ist mir nicht entgangen. Oder sagen wir besser: Sie wurden aufgehoben. Denn es gibt sie ja noch. Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann. Aber die Mehrheit im Bundestag oder Bundesrat hat sie ja tatsächlich nicht außer Kraft gesetzt. Das war ganz am Anfang eine Minderheit, die sich in einem grundgesetzlich nicht vorgegebenen Gremium an allen anderen vorbeigeputscht hat. Monate später dann, als der Bundestag dann seine Mitsprache zurückerhielt, bestätigten die Abgeordneten die ohnehin geschaffenen Tatsachen bloß.
Bis dahin hatten die Meinungserfasser als Meinungsmacher fungiert. Kaum ein Tag, an dem sie den Zuspruch nicht mit gigantischen, ja honeckeresken Zustimmungswerten garnierten. Der Burgfrieden der Demoskopen wies den Weg. War der Zuspruch in der Bevölkerung wirklich durchgehend so hoch? War das repräsentativ? Man muss den Demoskopen nicht Betrug unterstellen, um zu erahnen, dass täglich präsentierte Umfragewerte eben nicht im luftleeren Raum landen. Sie beeinflussen auch dann, wenn sie es gar nicht beabsichtigten.
Denn der Demoskop ist eben kein stiller Chronist mehr — er steht mitten im Geschehen und verändert seine Umwelt. Er bildet nicht ab, er gestaltet das Bild. Zeigt Tendenzen nicht nur auf, sondern verstärkt sie, ja fungiert gar als Trendsetter.
Die Präsentation von Umfragewerten erfolgt nicht einfach nur einem Informationsbestreben, also um den Bürgern aufzuzeigen, wie ein Meinungsbild sich gerade gestaltet: Sie soll eine Richtung weisen, eine Neuausrichtung ausloten und kann so bewirken, dass sich der eine oder andere doch fügt.
Jedenfalls ist es kein Anzeichen einer gesunden Demokratie, wenn man — wie in den letzten anderthalb Jahren ganz besonders — ständig mit irgendwelchen Umfragewerten traktiert wird. Sie dienen nicht der Orientierung, sondern manipulieren auf perfide Weise und flüstern den Bürgern ein, wie sie sich zu positionieren haben. Man sollte mal eine Umfrage starten, ob Menschen Umfragen überhaupt Glauben schenken. Infratest dimap hat im Herbst 2020 etwas ziemlich ähnliches gefragt, nämlich ob die Bürger den Medien noch vertrauten. Sie taten es mit recht hohen Werten. Ob das Ergebnis nun für die Medien spricht oder für meine Schwurbelthese, die ich in diesem Text beschrieb, kann sich jeder jetzt freilich aussuchen.