Ein Buch mit sieben Kapiteln, keins mit sieben Siegeln. Die Kapitel versammeln zwischen 7 und 16 Gedichte, 79 insgesamt. Ob es alles Gedichte sind, mag der eine oder andere Kritiker bezweifeln. Sicher ist, dass sich alle 79 als Antworten oder Kommentare auf die 79 Zitate lesen lassen, die ihnen vorgeschaltet sind.
Dieses Buchkonzept finden wir schon in seinem 2005 im eigenen Nemesis Verlag erschienenen Band „Menetekel – Fotogramme zur Jahrtausendwende“, als dessen Vorbild man die „Kriegsfibel“ von Brecht betrachten kann. Damals wurden Bilder, diesmal werden Zitate poetisch interpretiert. Unvergessen sein Vierzeiler über das Bild einer Zeitung zum Weltwirtschaftsforum in Davos, auf dem zwei der über 2500 schwerbewaffneten Sicherheitskräfte zu sehen sind. Sie lauten:
*„Die Polizei, so steht geschrieben
beschützt uns vor der Unterwelt.
Doch die ist unten nicht geblieben
und hat den Schutz für sich bestellt.“
Die meisten der Gedichte dieses jüngsten Buches, das auf Zitate namhafter Persönlichkeiten antwortet, können auch ohne den Bezugspunkt des Zitats bestehen. Viele sind wahrscheinlich auch ohne diesen Bezugspunkt entstanden. Es ist sicher legitim und schmälert den Wert des Konzepts nicht im Geringsten, wenn man die Zitate nicht nur als Vorlage, sondern auch als Beweisstücke für die Inhalte dieser teils hochpolitischen Gedichte betrachtet.
Die Zitate stammen von bedeutenden Staatsmännern, Politikern, Unternehmern, Bankern und anderen Konzernchefs, Wissenschaftlern, Ärzten, Journalisten, Künstlern, Literaturkritikern und Verwaltungsbeamten. Es sind überwiegend Äußerungen aus den Jahren 2010 bis 2016. Fahr hat sie aus dem Internet gefischt, aber auch Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen entnommen. Und jede der 79 Fundstellen ist sorgfältig in einem Quellenverzeichnis ausgewiesen.
Eine Zitatensammlung wie diese zusammenzustellen, ist schon für sich genommen ein verdienstvolles, weil aufklärerisches Unternehmen der Kulturkritik. Wer weiß schon oder erinnert sich noch, dass US-Präsident und Friedensnobelpreisträger Barak Obama sagte: „Ich bin wirklich gut im Töten von Leuten.“ Das dazu verfasste Gedicht Fahrs handelt allerdings nicht von Obama, sondern von den zur Tötung von Terroristen eingesetzten (und erhebliche Kollateralschäden anrichtenden) Drohnen. Der Titel: „kennst du die unsichtbaren wesen?“
Auf zwei Zitate antwortet Fahr nur mit einer Gedichtsüberschrift, unter dem ein Wort bzw. ein Vers steht. Unter dem Zitat des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki: „Ich bin im Grunde ein bescheidener, schüchterner und wortkarger Mensch“ steht als Gedichtstitel: „mein nachteil“. Und als „Gedicht“ ausschließlich eine Verszeile mit der Wortschöpfung: „ich bin unausstehrlich“.
Das andere Beispiel: Ein Zitat des us-amerikanischen Unternehmers und Großinvestors Warren Buffett, „Konzentrieren sie ihre Investments. Wenn Sie über einen Harem mit vierzig Frauen verfügen, lernen sie keine richtig kennen“, beantwortet der Poet mit einem „Gedicht“, das mit dem Titel „macht“ überschrieben ist. Unter diesem Titel steht aber nur ein einziges Wort, nämlich: „lächelt“. Man liest das Ganze als: „macht lächelt“. Ein überlebenswichtiger Hinweis. Denn glauben wir nicht lieber, nur die sich den Mächtigen anbiedernde Ohnmacht würde lächeln?
Gewidmet hat Peter Fahr den Gedichtsband seinem Landsmann und Inspirator Jean Ziegler. Wie Ziegler gehört Fahr zu den in der Schweiz eher seltenen Exemplaren, die man als Dissidenten bezeichnen könnte. Auch sie lieben ihr Land, sind aber einsame, teils verhasste, teils verhöhnte, am liebsten totgeschwiegene Propheten. Man möchte sagen: Propheten einer nahezu bedingungslosen Humanität. Ihrer Warmherzigkeit schlägt daher meist nichts als eisige Kälte entgegen. Denn beide sprechen aus, worüber in diesem – ihrem – Land niemand gerne spricht: Die urdemokratische Schweiz ist auch deshalb zum „Schlaraffenland“ geworden, weil sie immer wieder Fluchtgelder von Diktaturen und sozialstaatsfeindlichen Steuerhinterziehern der kapitalistischen Demokratien versteckt und verwertet hat. Sie ist deshalb für Fahr wie für Ziegler für Hunger und Elend vieler Länder dieser Erde und die großen Migrationsströme mit verantwortlich.
Unter einem Zitat des eidgenössischen Staatssekretärs Yves Rossier, man wolle der Türkei helfen, Rechtsstaat zu bleiben, finden wir das gegen Erdogan gerichtete und auf Böhmermanns Zotenlied gemünzte Gedicht „lachen gehört sich nicht“. Daneben die Äußerung des türkischen Chefredakteurs einer Zeitung, Can Dündar: „Die Friedhöfe und Gefängnisse sind voll mit Journalisten.“ Peter Fahrs Gedicht dazu heißt
von der pressefreiheit
ihr text
ist erstaunlich
sagt der redakteur
mein lieber mann
sie sind begabt
doch leider
zu persönlich
zu politisierend
zu polarisierend
zu demoralisierend
so kann schreiben
wer rente kriegt
sagt der Redakteur
vergeuden sie nicht
ihr talent
seien sie
fundiert
ausgewogen
geistreich
unterhaltsam.
Man entdeckt, wenn man beide gut kennt, bei Fahr und Ziegler viele Gemeinsamkeiten. Dennoch gibt es feine Unterschiede. Wenn der sprachgewaltige Verfasser politischer Prosa, Jean Ziegler, mit seiner Gesellschaftskritik auf das Ganze der Globalisierung zielt, spricht er bekanntlich von der „kannibalischen Weltordnung“.
Der Poet Peter Fahr benutzt diesen Ausdruck nicht. Das fällt auf, wenn man im Vorwort zu seinem neuen Gedichtsband liest, dass er als junger Mann, damals noch Aktionskünstler, eigene Texte auf Plakaten und öffentlichen Werbeflächen ausgehängt und ein Passant auf eines der Plakate „Fahr zur Hölle“ geschmiert hat. Sein Kommentar: „Ein unmöglicher Rat. Die Hölle war kein Ort, wohin ich fahren konnte. Ich war schon da.“
Da haben wir’s: Was für Ziegler die „kannibalische“, ist für Fahr die infernalische Weltordnung. Er nennt sie nicht so, aber was könnte er sonst meinen, wenn ihm das Hier und Jetzt schon die Hölle ist. Fahr weiß, zumal er sein täglich Brot noch nicht mit seinen Büchern, sondern als Geschäftsführer der „Kinderhilfe Emmaus“ in Bern verdient, die weltweit Not und Elend bekämpft, dass er zu den wenigen Privilegierten gehört. Sie werden von dieser Hölle verschont. Er zählt sich „zu den Nutznießern eines Wirtschaftssystems“, das „im ökologischen Kollaps, im Selbstmord der menschlichen Spezies enden könnte“, fügt aber hinzu, dass er sich beinahe täglich schämt für seine Unterlassungen, seine Gleichgültigkeit und seine „heile Welt“, die wunderschöne Schweiz. Aber er bekennt sich – wie Ziegler – zu diesem eklatanten Widerspruch und erklärt ganz lapidar: „Ich schreibe trotzdem.“
Das ist gut so. Man lese nur das Gedicht zu Niklas Luhmanns Zitat: „Jedes Reden wiederholt das Schweigen“, in dessen erster Strophe es heißt: „ich will nicht schweigen / über das vergessen / die katastrophen von einst / in archive verbannt / solange in laboren / neue katastrophen / heraufbeschworen werden“. Es endet mit der achten Strophe, in der geschworen wird: „ich will nicht schweigen / über die hoffnung / auf gerechtigkeit und frieden / zwischen den menschen / bis der traum / einer besseren welt / sich erübrigt“. Ein Gedichtsband gegen Zweifel und Verzweiflung, ein Geschenk des Himmels von einem, der in privilegierter Position darunter leidet, in einer Welt zu leben, die auch der Privilegierte, wenn er ein soziales Gewissen hat, als Hölle erlebt.
Eindrucksvoll das Gedicht, das Peter Fahr auf Alexander Gaulands Äußerung zu Auschwitz verfasste.
Zitat:
„Ich war kürzlich das erste Mal in Auschwitz.(…) Wenn man die vielen Haare und Pinsel und Koffer sieht, hat man plötzlich das Gefühl, das ist versteinert, das spricht nicht mehr.“ Alexander Gauland – Landesvorsitzender der AfD Brandenburg (inzwischen Mitglied des Deutschen Bundestags)
Peter Fahr antwortet mit dem
lied einer jüdischen mutter
in der morgendämmerung
wurde mordechai geholt.
klare worte. ich verstand.
wochen später kam der brief
mit dem ring, der uns verband.
ojojoj, die nacht währt lang,
lang die namenlose angst.
sing, mein kind, vom neuen tag;
sing, damit ich frieden find.
simon, siebzehn jahre nur,
hat sich niemals umgedreht.
sabotage. widerstand.
früh verraten sank er hin
mit der waffe in der hand.
ojojoj, die nacht währt lang,
lang die namenlose angst.
sing, mein kind, vom neuen tag;
sing, damit ich frieden find.
ein betrunkener soldat
hat die anna angelacht.
warf sich auf sie. und verschwand.
anna lebt und lebt nicht mehr,
seit ich sie im keller fand.
sterne sind wir in der nacht,
ojojoj, die nacht währt lang.
sing, mein kind, vom neuen tag;
sing, damit ich frieden find.
Peter Fahr:
„Dekadenzen – Gedichte zur Zeit“
Münster Verlag – Basel 2017
info@muensterverlag.ch
144 Seiten, gebunden, CHF 24,-