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Die Coronabrücke

Die Coronabrücke

Ein Austausch zwischen zwei Frauen mit konträren Ansichten zur Pandemie zeigt, dass die Spaltung der Gesellschaft überwunden werden kann. Exklusivabdruck aus „Briefwechsel“. Teil 1/2.

Pinnow, 29. Mai 2020

Liebe Hanne,

auch auf die Gefahr hin, dass ich dich restlos überrolle, ich muss dir schreiben. Ich habe heute einen anonymen Brief erhalten. Als Reaktion auf deinen Fragebogen. Ich habe keine Ahnung, wer ihn geschrieben hat. Ich weiß nicht mal, ob Mann oder Frau? Der Brief lag einfach im Briefkasten, ohne Briefmarke, ohne alles. Ich finde ihn erschütternd. Ich muss ihn dir weiterleiten. Entscheide du, wann du ihn lesen willst.

Liebe Frau Mittelstaedt,

ich wende mich an Sie, weil ich gehört habe, dass Sie Erlebnisberichte aus der Coronazeit sammeln, als Zeugnisse für die Nachwelt. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus, ich kenne Sie ja gar nicht und habe auch nicht Ihre Bücher gelesen, glaube ich, es ist gut und richtig, wenn ich Ihnen schreibe, wie Corona mir mitgespielt hat. Ich habe meine Schwester verloren. Durch Corona. Aber nicht, weil sie das Virus hatte, sondern mehr deshalb, weil sie es nicht hatte.

Jetzt wundern Sie sich sicher, wie das geht.

Ich verstehe es bis heute nicht. Es ist so schlimm, was passiert ist. Ich habe quasi zusehen müssen, wie meine Schwester gestorben ist. Oder gestorben wurde? Mit 69 Jahren. Weil die Rettungssanitäter nicht bereit waren, sie ins Krankenhaus zu bringen. Weil die Betten für Coronakranke freigehalten werden sollten.

Vier Wochen ist das jetzt her. Es war am 30. April, abends um halb sieben. Ich saß hier zu Hause, als meine Schwester anrief und sagte: „Mir geht es nicht gut.“ Sie wohnte nur ein paar Dörfer weiter. Ich habe mich angezogen und bin zu ihr gefahren. Ihr war schlecht, sie konnte nicht laufen und sah ganz blass und eingefallen aus. Ich habe sofort die 112 angerufen und vorsichtshalber schon mal die Reisetasche für das Krankenhaus gepackt.

Die Feuerwache ist nicht weit. Schon nach zehn Minuten kamen zwei junge Männer. Sie haben Helga Fieber gemessen und dann gesagt, sie sei stabil, sie solle morgen zu ihrem Hausarzt gehen. Ich war ganz perplex und habe die Männer gebeten, Helga mitzunehmen. Daraufhin sagte einer der beiden: „Wir müssen die Betten freihalten — für Corona“. „Hören Sie auf mit so einem Quatsch!“, habe ich gesagt, „meine Schwester muss ins Krankenhaus!“ Zur Antwort bekam ich: „Sie haben einfach noch keinen Coronakranken gesehen!“.

Nein, das hatte ich tatsächlich nicht. Das habe ich bis heute nicht. Wie auch? In meinem Umfeld kenne ich niemanden, der jemanden kennt, der an Corona erkrankt ist. Auch bei uns im Krankenhaus, das haben mir später unabhängig voneinander zwei Ärzte erzählt, lag zu diesem Zeitpunkt kein einziger Coronapatient.

Ich habe nicht lockergelassen. Helga war keine gesunde Frau. Sie war übergewichtig, litt schon lange an Diabetes und im vergangenen Jahr wurde ihr ein Zeh amputiert.

Auf mein Drängen haben die beiden schließlich ihre Leitstelle angerufen. Doch dort war immerzu besetzt. Irgendwann haben sie es beim Bereitschaftsdienst versucht und der versprach so schnell wie möglich zu kommen. Inzwischen war es 23.15 Uhr.

Helga, sie war ganz schlapp, flüsterte mir zu: „Ich glaube, die wollen uns veräppeln.“ Genauso fühlte ich auch. Doch dann kam wirklich ein Arzt mit zwei Koffern. Er hat Helga untersucht und gesagt, sie müsse sofort ins Krankenhaus. Der Arzt hat die 112 angerufen und dann kamen genau die beiden jungen Männer wieder an, die schon einmal da waren. Der Doktor sagte nur: „Die Frau muss mit!“

Helga, sie saß nur im Bademantel im Sessel, hat sich mit Mühe und Not angezogen und immer wieder gesagt: „Mir ist so schlecht!“ Und dann musste sie die Treppe runterlaufen. Vier Treppen. Die beiden haben sie nicht getragen. Mit der linken Hand hat sich Helga am Geländer festgehalten und mit der rechten hat sie sich bei dem einen Sanitäter abgestützt. So hat sie sich Stufe für Stufe die Treppe hinunter geschleppt, bis sie irgendwann am Wagen waren.

Ich habe oben am Fenster gestanden und alles beobachtet. Der Rettungswagen war unmittelbar vor der Haustür geparkt. Als die Tür aufging, ist Helga mit Ach und Krach eingestiegen und dann mehr auf die Pritsche gefallen, als dass sie sich gelegt hat. Ich hörte noch, wie der eine der beiden zu ihr sagte: „Rutschen Sie mal ein bisschen höher, das reicht nicht.“ Dann ist die Tür zugeknallt.

Oben vom Fenster konnte ich sehen, wie einer der jungen Männer sich an Helga zu schaffen gemacht hat. Der andere hat energisch auf seinem Telefon rumgetippt. Ich habe noch gedacht: Mit wem telefoniert der denn?

Nach einer Weile kam ein Notarzt und hastete in den Rettungswagen. Was im Wagen passierte, konnte ich nicht erkennen. Mit einem Mal fuhr auch der Bereitschaftsarzt wieder vor. Der, der Helga eingewiesen hatte und dann weggefahren war.

Ich stand oben am Fenster und war hilflos. Ich habe gedacht: Was ist da los? Warum sagt keiner was? Warum redet keiner mit mir? Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ist der Notarzt zu mir hochgekommen und hat mit mir gesprochen. Er hat gesagt, sie würden Helga mitnehmen und ich solle am nächsten Vormittag im Krankenhaus anrufen. Halb zehn habe ich angerufen. Der Arzt, den ich am Telefon hatte, sagte mir, dass Helga gestorben sei. Und dann sagte er noch, meine Schwester hätte die Mitnahme verweigert. „Nein“, rief ich. Ich war entsetzt. „Das ist nicht wahr, ich war dabei, das ist gelogen!“

Ich konnte Helga auch nicht mehr sehen. Der Bestatter hatte sie schon abgeholt. Das war der nächste Schlag. Ich hatte niemanden beauftragt. Natürlich war dieser Bestatter ziemlich preisintensiv. Ich nehme an, da gibt es einen Vertrag mit dem Krankenhaus.

Ich habe mir einen günstigeren Bestatter gesucht, der hat Helga übernommen. Nun wollte ich Helga gerne noch einmal sehen. Der Bestatter meinte, das sei gar kein Problem. Es war dann aber doch eins. Helga war nämlich schon eingeschweißt. Mit dem Vermerk: Nicht getestet auf Corona.

Es ist so schlimm. Sie war doch ein Mensch. Ein guter Mensch. Sie konnte zuhören. Sie hatte Freunde. Viele Freunde. Niemand verdient so ein Ende. Nicht einmal Abschied konnten wir nehmen. Ich wollte damit an die Presse gehen. Aber mein Neffe Vincent hat mich davon abgehalten. Er ist Rettungssanitäter. Die beiden jungen Männer sind seine Kollegen. Vincent erzählte mir, dass es bei Ihnen sowieso ordentlich rumore. Dieser so systemrelevante Berufsstand ist nämlich, das wissen Sie sicherlich, absolut unterbezahlt. Vincent fürchtet, dass unsere familiären Bande ihn seinen Job kosten könnten. Er hat sich etwas aufgebaut. Er kann es sich nicht leisten entlassen zu werden. Er hat Angst. Er war entsetzt von meiner Idee.

Das hat mir den Rest gegeben. Was läuft denn hier? Ich war so zähneknirschend. Doch Repressalien in der Familie wollte ich auch nicht. Ich will doch mit allen gut auskommen.

Vincent hat gesehen, wie ich gelitten habe. Er hat mir einen Termin bei seinem Chef besorgt. Er sagte, wenn, dann sei das die richtige Anlaufstelle. Der Chef war ein älterer Mann. Er erzählte mir, er sei selbst zwanzig Jahre im Rettungswagen mitgefahren. „Ich weiß, was da los ist“, hat er gesagt. „Helga könnte noch leben“, habe ich ihm gesagt. Er hat genickt. Aber was sollte er machen? Er hat sich die beiden jungen Männer geholt. Vielleicht hat er sie verwarnt. Ich weiß nicht, was man da macht?

Ich habe es noch über meinen Anwalt versucht. Irgendwie muss man dieser Ungerechtigkeit doch beikommen. Aber der hat nur den Kopf geschüttelt. Da Helga schon beerdigt ist, haben wir keine Chance.

Helga liegt jetzt auf einer grünen Wiese.

Und in den Medien tun sie weiter so, als wenn hier die Seuche ausbricht. Und die Krankenhäuser spielen mit. Schlimm ist das.

Liebe Frau Mittelstaedt, machen Sie mit meinem Bericht, was Sie für richtig halten. Herzliche Grüße.

PS: Um alle zu schützen, bleibe ich lieber anonym.

Krefeld, 30. Mai 2020

Liebe Nora,

ganz kurz nur. Morgen ist der große Tag. Alles ist vorbereitet. Ich bin voll freudiger Anspannung.

Dennoch will ich dir schnell ein paar Zeilen zu diesem anonymen Brief schreiben, den du erhalten hast. Offenbar hat er dich sehr bewegt. Vielleicht können dich meine Gedanken ein wenig beruhigen.

Schon beim ersten Lesen habe ich gedacht, so etwas passiert auch ohne Corona.

Natürlich, es ist tragisch und für denjenigen, der so unmittelbar betroffen ist, unverzeihlich. Aber auch im Gesundheitssystem sind die Menschen nicht davor gefeit, Fehler zu machen. Darüber, dass es in unseren Kliniken etliche Defizite gibt, haben wir uns bereits ausgetauscht. Vor dem Rettungsdienst, das ist nicht neu, machen etwaige Missstände nicht halt. Nicht jeder Mitarbeiter ist wirklich für diesen Job geeignet. Dummheit, Faulheit, Arroganz, Schlamperei und mangelnde Empathie treiben mitunter leider auch in diesem Berufsstand Blüten.

Das klingt in deinen Ohren vermutlich hart, aber ich denke, solche Situationen hat es vor Corona gegeben und wird es auch nach Corona geben. Das soll keine Entschuldigung sein. Für die Angehörigen ist es unentschuldbar und eine Tragödie.

Verstärkt wurde diese dadurch, dass sich die Verwandten nicht mehr verabschieden konnten. So lese ich es aus dem Brief und denke, dass ist der Schmerz, für den sie Corona verantwortlich machen. Der anonyme Schreiber konnte die Schwester nicht mehr sehen, weil sie schon eingeschweißt war. Diese „Corona-Maßnahme“ hat dem Arzt und den Rettungssanitätern geholfen, ihre unterlassene Hilfeleistung zu vertuschen. Zwischen den Zeilen spüre ich sehr deutlich die Ohnmacht des Schreibers.

Ohne Corona wäre ein Vertuschen sicher auch möglich, aber viel schwieriger gewesen. Da hätten die Angehörigen eine Obduktion fordern können.

Ja, liebe Nora, auf so etwas war ich nicht gefasst, als ich den Fragebogen entworfen und um Rückmeldungen gebeten habe. Aber es zeigt sich, was für ein weites Feld Corona ist. Beziehungsweise welche Blicke Corona auf lange vernachlässigte Felder freigibt — Corona ist ja nur die Lupe, das Brennglas.

Hast du eine Idee, über welchen Weg dieser Mann oder diese Frau von unserem Fragebogen erfahren hat?

Liebe Grüße und morgen einen schönen Pfingstsonntag,
Hannelore.

Pinnow, 31. Mai 2020

Leider, liebe Hanne, haben mich deine Zeilen überhaupt nicht beruhigt. Nichtsdestotrotz danke ich dir natürlich, dass du es versucht hast. Vor allem so schnell. Und noch vor deinem „großen Tag“.

Ich hatte wirklich dolle an diesem anonymen Brief zu schlucken. Ich schlucke immer noch. Ich habe sogar schon von Helga geträumt.

Weißt du, was mich so empört? Dass in den Medien immer wieder auf dieser Triage herumgeritten wird, die man unbedingt verhindern möchte. Dieses Sortieren der Patienten danach, ob sie eine Überlebenschance in Form eines Beatmungsgerätes bekommen oder nicht. Mit diesem Brief ist mir klar geworden, dass die Triage bereits praktiziert wird. Hier in Deutschland. Allerdings wird bei uns, anders als in Italien und Frankreich, ohne Not sortiert. Aus reiner Angst davor, dass die Not kommen könnte. Es werden Betten freigehalten für Patienten, von denen man nicht weiß, ob es sie jemals geben wird. Und diese Frau wird einfach nicht mitgenommen. Das darf doch nicht sein!

Weder vor Corona, noch während Corona, noch nach Corona. Wobei NACH Corona Quatsch ist, denn nach allem, was ich gehört habe, wird Corona bleiben, wie so viele andere Viren auch, und wir müssen lernen, damit zu leben.

Ich denke wirklich, die Sanitäter hatten Anweisung von oben. Empathielos scheinen sie darüber hinaus auch noch gewesen zu sein. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sie die schwerkranke Frau die vier Treppen bis zum Krankenwagen haben laufen lassen. Da hört mein Verständnis wirklich auf.

Und was soll dieser Mist mit dem Einschweißen? Das wusste ich noch gar nicht. Wie entwürdigend ist das denn? Werden diese Menschen wirklich in Plastesäcke gepackt? Hast du davon gehört? Wenn ich mir das vorstelle, kriege ich Panik. Wie soll denn da die Seele entweichen? Halt mich jetzt bitte nicht für spinnert, aber ich denke, unsere Vorfahren haben ihre Toten nicht umsonst drei Tage aufgebahrt.

Ich würde mir das als Angehörige nicht gefallen lassen. Die müssen mir doch den Abschied ermöglichen. Was soll denn dabei passieren? Ich denke, die Viren werden vorrangig über den Atem weitergegeben und nachrangig vielleicht über Berührung?! Beides geschieht in einer solchen Abschiedssituation nicht. Ich verstehe es nicht. Ich will es auch nicht verstehen. Das macht mich stinkesauer.

Am Donnerstag war ich bei meinem Osteopathen. Seit Jahren habe ich wiederkehrend mit meinem Rücken zu tun. Mein Osteopath sagt, das hänge ursächlich mit meiner Leber zusammen. Er fragte, ob mir öfter eine Laus über die Leber laufe. Ich kann die Läuse schon gar nicht mehr zählen. Das ist eine ganze Armada. Witzigerweise, nein witzig ist es eigentlich nicht, träume ich in letzter Zeit auch von Läusen, die entweder auf meinem Kopf oder denen der Kinder hocken. Kennst du solche Träume? Ich träume öfter von Parasiten. Wahrscheinlich ist das ein Ausdruck des Unterbewussten dafür, dass irgendetwas, irgendjemand an mir zerrt. Normalerweise kann ich darauf reagieren, kann etwas ändern. Aber jetzt? Ich fühle mich ohnmächtig.

Gestern hatten wir wieder unsere „Demo“, unseren Gesprächskreis. Damit begegne ich dieser gefühlten Ohnmacht. Ich finde, wir müssen auf die Straße gehen und zeigen dürfen, dass wir das, was derzeit geschieht, nicht gutheißen. Ich weiß, wir sind eine Minderheit. NOCH. Ich weiß, dass du nicht meiner Meinung bist, dass du die Maßnahmen befürwortest.

Ich ringe jeden Tag mit der Frage, was ist richtig, was ist falsch? Ich versuche zu verstehen. Dabei kam ich bisher immer wieder zu dem Schluss, dass hier irgendetwas gehörig schief läuft.

Corona ist da. Ja! Corona ist gefährlich. Ja! Für eine bestimmte Risikogruppe!!! Dafür kann man doch aber nicht die Grundrechte eines ganzen Volkes beschneiden und die Wirtschaft runterfahren und und und. Wo bleibt denn da die Verhältnismäßigkeit?

Meine Freundin Sonja war übrigens auf einer dieser Demonstrationen, von denen du schreibst, es sei schlimm, was sich da zusammenrottet. Liebe Hanne, woher weißt du, wer sich auf diesen Demos zusammenrottet? Und was soll zusammenrotten eigentlich sagen? Wenn ich dieses Wort lese, zieht sich mir alles zusammen. Auf Facebook schrieb eine Bekannte vom „Mob, der sich in den Grundrechten beschränkt fühlt, weil er nicht in Horden durch Parks ziehen, grillen und Bier trinken darf“. Ich wünsche mir sehr, dass dieses Vorverurteilen aufhören möge. Wenn so viele Leute auf die Straße gehen, sollte man lieber genau nachfragen, warum sie das tun.

Ich habe mir unlängst eine dieser Samstagsdemos auf dem Rosa-Luxemburg-Platz angeschaut. Ein unabhängiger Journalist hat im Livestream darüber berichtet. Das heißt, berichtet in dem Sinne hat er gar nicht, er hat die Menschen gefragt, warum sie auf die Straße gehen. Die hatten alle ähnliche Beweggründe, wie ich sie auch habe, und waren Menschen wie du und ich. Das waren keine wie auch immer gearteten Radikalen. Dennoch war diese Demo sehr, sehr beklemmend. Über Lautsprecher hörte man immer wieder, wie die Polizei die Leute anwies, den Platz zu räumen, und drohte, nachzuhelfen, wenn die Menschen nicht freiwillig gingen. Das war gespenstisch.

Nichtsdestotrotz hatte ich überlegt, in der Folgewoche auf eben diese Samstagsdemo vor der Volksbühne zu gehen. Ich wollte mich zeigen, weil ich darin die einzige Chance sah, zum Ausdruck zu bringen, dass ich mit dem, was hier passiert, nicht einverstanden bin. Ich hatte mich sogar schon mit Sonja verabredet. Dann aber rief mich am Samstagmorgen meine Freundin Viki an, sie hatte gerade erfahren, dass in einer Stunde bei ihr um die Ecke in Feldberg eine Demo beginnen würde.

Ich lag noch im Bett. Bis Feldberg sind es fünfzig Minuten mit dem Auto. Natürlich kam ich nicht pünktlich. Die eigentliche Demo war schon so gut wie vorbei. Aber was heißt Demo? Es war ein Demoleinerchen. Mit maximal zwanzig Teilnehmern. Trotzdem fand ich es richtig, dort gewesen zu sein. Unsere Regionalpolitiker müssen merken, dass es auch hier in der Provinz Menschen gibt, die den verordneten Maßnahmen und der medialen Auseinandersetzung nicht zustimmen.

Initiiert hatte diese Mini-Demo ein pensionierter Arzt, dessen Rede ich leider verpasst habe. Viki jedoch war sehr beeindruckt und inspiriert. Ihr Plan, der dann auch zu meinem Plan wurde, war es, in unserer Kreisstadt Prenzlau ebenfalls auf die Straße zu gehen. Allerdings nicht, um im klassischen Sinne zu demonstrieren, sondern, um ins Gespräch zu kommen. Wir hatten beide erlebt, wie sprach- und hilflos Corona die Menschen macht, und wollten einen Rederaum schaffen.

Ich bleibe aber noch mal in Feldberg. Auf der Rückfahrt ist mir nämlich etwas passiert ... Acht Kilometer von Feldberg entfernt befindet sich die Schäferei Hullerbusch. Dort gibt es die weltbesten Lammwiener. Ich habe mir gedacht: Ach machst du noch schnell einen Abstecher und holst ein paar Würste auf Vorrat. Na Pustekuchen. Im letzten Ort vor Hullerbusch, in Carwitz — ein traumhaftes Örtchen, in dem übrigens Hans Fallada gelebt hat und später auch Ruth Werner — empfing mich die Polizei. Die beiden Herren in Uniform waren reserviert freundlich und fanden es überhaupt nicht schlimm, dass ich für eine Demo die Demarkationslinie nach Mecklenburg überschritten hatte. Die Weiterfahrt nach Hullerbusch allerdings verweigerten sie mir.

Das fand ich krass. Diese Grenze, die für mich bisher lediglich eine Schlängellinie auf der Landkarte war, wurde mit einem Mal zu einer Trennlinie — bis hierhin und nicht weiter. Mit ein wenig Humor könnte man sagen, das war „erfahrene“ Geografie. Bis dato hatte ich Feldberg nämlich immer als Teil meiner neuen uckermärkischen Heimat betrachtet. Nun weiß ich, dass die Uckermark und damit Brandenburg auf der Landstraße zwischen Thomsdorf und Carwitz endet. Ich fand die Situation total skurril. Aber gleichzeitig auch interessant. Früher waren diese Grenzen wirklich Grenzen, an denen die Händler Zoll bezahlen mussten, wenn sie mit ihren wackeligen Fuhrwerken einreisen wollten, und an denen der ein oder andere, wie nun auch ich, sicher abgewiesen worden ist.

Corona jedoch, glaube ich, wird sich durch solche Maßnahmen nicht aufhalten lassen. Findest du es nicht verrückt, was für teilweise unsinnige Anweisungen im Namen des Virus durchgezogen werden? Wenn ich höre, dass Menschen, die auf Usedom leben, eine Zeit lang nicht an den Strand durften, sofern sie nicht in einem der Küstenorte wohnten, stellt sich für mich die Frage, was damit erreicht werden soll. Kennst du den Strand auf Usedom? Ich bin sicher, sämtliche Insulaner hätten dort locker Platz, um alle zeitgleich im Abstand von eineinhalb Metern durch den Sand waten zu können. Heißt es nicht gerade von der Meeresluft, sie helfe bei Atemwegserkrankungen? Müssten nicht vielmehr Strandwanderungen für jeden Usedomer verpflichtend gemacht werden?

Angesichts solch absurder Maßnahmen muss sich niemand wundern, wenn die Menschen auf die Straße gehen. Ich habe meine Freundin Sonja gefragt, wie es auf der Berliner Demo war. Weißt du, was sie geantwortet hat? „Total schön.“ Dabei hat sie vorher Muffensausen gehabt. Im Vorfeld wurde in der Presse ordentlich Stimmung gemacht. Es war wohl auch wirklich viel Polizei am Start. Aber es blieb alles friedlich. Sonja sagt, es war eine einzigartige Stimmung. Sie war richtig froh, dabei gewesen zu sein, und Gesicht gezeigt zu haben.

Warum wird überhaupt nicht thematisiert, weshalb die Menschen auf die Straße gehen? Stattdessen werden alle in eine rechte Tüte gesteckt. Ich bin wirklich viel, aber wenn ich eins nicht bin, dann rechts! Meines Erachtens wird mit uns Demonstranten genau das gleiche getan wie mit den schon mehrfach genannten Ärzten — es wird ein Etikett aufgeklebt, wie „rechts“, „radikal“, „Verschwörungstheoretiker“, und damit wird ausgegrenzt und jegliche Auseinandersetzung im Keim erstickt.

Hatte ich dir schon geschrieben, dass mir Verschwörungspraktiker viel größere Sorgen bereiten als Verschwörungstheoretiker?

Am Freitag rief mich ein Redakteur des Nordkuriers an. Er wollte eine kleine Ankündigung für unseren Gesprächskreis schreiben. Ich hatte den Eindruck, er war sehr froh, sich endlich einmal mit jemandem austauschen zu können, der ähnlich auf den Coronawahnsinn schaut wie er. Statt mich zu interviewen, hat er fast ausschließlich von seinen Corona-Erfahrungen berichtet. Ich fand das sehr spannend, ein Journalist hat ja doch noch andere Einblicke.

Sicher kennst du das Bild aus Norditalien, auf dem in einer riesigen Flugzeughalle Reihe für Reihe, Sarg an Sarg steht. Im März ist das Foto in so ziemlich jeder Zeitung abgedruckt und auch durch alle sonstigen Medien gejagt worden. Bei mir hat es seine Wirkung nicht verfehlt. Die Angst vor dem Virus ist nach wie vor da und wird durch solche Bilder verstärkt. Nun erzählte mir der Redakteur, dass inzwischen nachgewiesen worden ist, dass in den Särgen keine Coronatoten lagen, sondern Flüchtlinge, die 2013 vor der Insel Lampedusa im Mittelmeer ertrunken sind. Was soll ich davon halten? Das schürt meinen Argwohn. Das ist in meinen Augen Missbrauch. Es festigt meine Meinung, dass hier etwas faul ist, dass bewusst Angst geschürt werden soll.

Die Schwester des Redakteurs ist Ärztin. Weil es in der Klinik, in der sie arbeitet, bisher keinen einzigen Coronafall gibt, sie aber unbedingt helfen möchte, hat sie sich als Freiwillige für Krisenkrankenhäuser gemeldet. Sie hat keinen Mann, ist kinderlos und damit flexibel. Weißt du, was man ihr geantwortet hat? Kein Bedarf! Da schlackern mir die Ohren. Uns wird doch immer suggeriert, noch ein bisschen mehr und dann droht unseren Krankenhäusern der Kollaps. Dabei habe ich auch schon von anderen Menschen gehört, dass es Ärzte und Pflegepersonal gibt, die in Kurzarbeit geschickt werden. Wem soll ich was glauben?
Ganz perfide wird es dann, wenn mir eben dieser Redakteur erzählt, dass er permanent erlebt, wie sich die Politiker selbst nicht an die Vorgaben halten, die sie dem Volk aufoktroyieren. Auf Pressekonferenzen und sonstigen politischen Veranstaltungen, sagt er, trage kaum jemand eine Maske.

Bei mir heißt das Ding Maulkorb. Und wem legt man einen Maulkorb an? Sich selbst wohl nicht.

Damit sind wir wieder beim Thema Kommunikation. Für mich stimmt es in unserem sprachlichen Miteinander vorne und hinten nicht. Das, was du als gute Kommunikationspolitik unserer Regierung beschreibst, empfinde ich weder als gut, noch hat es für mich etwas mit Kommunikation zu tun. In meinen Augen praktizieren unsere Volksvertreter eine sehr einseitige Informationspolitik, die zunehmend in eine Vorschriftspolitik ausartet. Natürlich nur um uns zu schützen. Hannelore, warum können wir nicht selbst entscheiden, wie wir uns schützen? Warum spricht niemand darüber, wie wir vorbeugen können? Warum behandelt man uns nicht wie mündige Bürger? So wie es die Schweden tun. Dort wird informiert und empfohlen, und vor allem vertraut.

Unweigerlich kommt mir Gerald Hüther in den Sinn. Wie du weißt, bin ich ein großer Fan von ihm und habe alle seine Bücher verschlungen. Dabei hätte ich früher nie gedacht, dass mich Neurobiologie jemals interessieren geschweige denn faszinieren könnte. In all seinen Büchern beschreibt Hüther, wie zerstörerisch es ist, wenn man von anderen Personen benutzt und zum Objekt gemacht wird. Man fühlt sich, sagt er, in seiner Würde bedroht.

Genau das erlebe ich gerade. Wir werden bevormundet. Uns wird gesagt — jetzt komme ich noch mal mit Castorf —, dass wir uns die Hände waschen sollen, wen wir alles nicht mehr treffen und schon gar nicht umarmen dürfen, dass wir uns einen Lappen vor den Mund binden sollen. Und wenn wir das alles nicht tun, gibt es Leute, die uns anschnauzen und/oder mit der Polizei drohen. Das kann doch nicht wahr sein! Wir alle werden zu Objekten gemacht. Hüther sagt, das sei die schlimmste Verletzung, die man jemandem zufügen könne, denn das Schmerzzentrum im Gehirn reagiere darauf wie auf einen körperlich erlittenen Schmerz, das täte richtig weh.

Hannelore, diesen Schmerz spüre ich. Ich will nicht vorgeschrieben bekommen, ob und wann ich meine Eltern sehen darf, ob ich sie umarmen darf, wo ich eine Maske trage oder dass ich überhaupt eine trage, mit wem ich mich wann und wo treffen oder — noch schlimmer — nicht treffen darf.

Wirf mir jetzt bitte nicht vor, das sei Jammern auf hohem Niveau. Dieses Argument musste ich mir bereits mehrfach anhören. Ich frage mich jedes Mal: Wann darf man anfangen zu jammern beziehungsweise aufzubegehren? Gerade mit Blick auf die Geschichte finde ich das eine hochinteressante und berechtigte Frage.

Das Gedicht, das du mir geschickt hast, geht, so lese ich es, ebenfalls in die Richtung, dass wir wertschätzen sollen, was wir haben, und nicht darüber jammern, dass wir auf einige Freiheiten und Rechte eine Zeit lang (wie lang wird die Zeit sein???) verzichten müssen. Ich kann diese Sichtweise sehr gut verstehen. Augenscheinlich geht es uns doch richtig gut. Gerade wenn ich an Lesbos und die noch auf dem Mittelmeer treibenden Flüchtlinge denke. Worüber jammern wir?

Es gibt Menschen, denen haben die Maßnahmen hier den Boden unter den Füßen weggezogen. Wir gehören nicht dazu. Noch nicht? Aber was ist zum Beispiel mit deinem Onkel August? Oder meiner Freundin Iris und ihrer Mutter? Erinnerst du dich an Iris? Ihr Fragebogenrückläufer war der erste, den ich dir geschickt hatte. Vor ein paar Tagen ist Iris´ Mutter achtzig geworden. Im Pflegeheim. Iris hat mir geschrieben, wie sie diesen Geburtstag erlebt hat. Ein Drama. Ich schicke dir ihre Zeilen im Anhang.

Wenn sich zeigen würde, dass sich das Virus durch die Maßnahmen bezwingen ließe, keine Frage, dann würde ich alles ertragen. Doch angesichts der sich mehrenden Stimmen, die für mich nachvollziehbar erklären, das Virus sei überhaupt nicht für alle gefährlich und nur die Gefährdeten müssten anders und besser geschützt werden, muss hinterfragt werden dürfen. Wenn darauf nicht eingegangen, stattdessen aber munter diffamiert und denunziert wird, wächst mein Misstrauen.

Ich habe keine Lust, ohne nachvollziehbaren Grund vom mündigen Bürger zum bloßen Befehlsempfänger degradiert zu werden.

Ich habe meine Eltern seit drei Monaten nicht gesehen. So lange habe ich sie noch nie nicht gesehen. Meine Eltern haben Angst, deshalb halten sie sich streng an das Kontaktverbot. Ich finde es abartig, was unsere Medien veranstalten. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es regt mich einfach auf! Ich lasse Papa hin und wieder mal ein paar andere Informationen als die aus der gängigen Berichterstattung zukommen. Die will er sich partout nicht anschauen. Er sagt, er sei einfach übervoll und könne das Wort Corona nicht mehr hören. Ich frage mich, warum er sich dann jede Nachrichtensendung anschaut?

Letztens hat er mir erzählt, dass sogar während der einzigen Unterhaltungssendung, der er verfallen ist, der Serie „Rote Rosen“, ein Banner durch die untere Bildschirmhälfte läuft, auf dem die neuesten Coronanachrichten vermeldet werden. Das ist doch widerlich! Da kann man doch nur abschalten! Und/oder sich anderweitig informieren. Ich merke, wie ich sauer werde und auch trotzig, wenn Papa das so rigoros verweigert. Der prüft doch sonst alles. Und überhaupt ist er so schlau. Warum sieht er nicht, was ich sehe?

Ich hatte dir, glaube ich, geschrieben, dass ich, obwohl ich mehrmals in der Nähe meiner Eltern zu tun hatte, nicht vorbeigeschaut habe. Wir hätten uns durchs Fenster unterhalten können oder mit Maske sogar in der Wohnung. Aber das ging für mich nicht. Allein die Vorstellung fand ich furchtbar.

Nun hat ausgerechnet meine kleine Schwester mir gesagt, ich solle mal ein bisschen empathisch sein. Normalerweise bin ich diejenige, die Katharina öfter daran erinnern muss, sich in unsere Eltern hineinzuversetzen, um nicht zu verurteilen, sondern zu verstehen. Ihre Worte haben jedenfalls in mir gearbeitet. Inzwischen habe ich Papa und Mama Visiere zugeschickt. Der Mann meiner Grafikerin hat sie entwickelt. Sie sind für mich die einzige Alternative zu diesen Stofffetzen. Der Luftaustausch funktioniert wesentlich besser und das Sichtfeld wird nicht beeinträchtigt, die Brille passt mit runter und beschlägt nicht.

Mittwoch hat Mama Geburtstag. Ich will sie überraschen. Ich habe dolle Sehnsucht. Ich nehme mein Visier mit und wenn sie wollen, setze ich es auch auf. Hauptsache ich sehe die beiden mal wieder.

Wie ich sie hasse, diese blöde Maskerade. Ich bekomme wirklich Beklemmungen, wenn ich mir Mund und Nase verhänge. Mir wird sofort heiß und schwindelig. Doch selbst wenn es nicht so wäre, ich war in Biologie, Chemie und Physik kein Ass, aber so viel naturwissenschaftlichen Verstand habe ich, dass ich weiß, dass es nicht gesund sein kann, seine Ausatemluft zu großen Teilen wieder einzuatmen. Hinzu kommt, dass ein Coronavirus so winzig klein sein soll, dass es durch die Poren der Stoffmasken wie durch ein offenes Fenster fliegt.

Deshalb kann ich auch die Ansicht von Jan Kalbitzer nicht teilen, von dem du schreibst, er sage, dass Meinungsfreiheit nicht Handlungsfreiheit bedeute. Das sehe ich grundlegend anders. Wenn mir etwas widersinnig erscheint, ich darüber aber nicht diskutieren darf — damit sind wir nun wieder bei Hüther und seinen Subjekten und Objekten — dann erwacht mein Widerspruchsgeist. Es muss debattiert werden dürfen. Wir sind doch nicht bei der Armee. Es darf doch nicht sein, dass man nicht mehr offen und ehrlich sagen kann, was man denkt. Ständig bin ich am Lavieren, überlege, ob ich etwas sage, wem ich was sage oder wann ich lieber schweige. Auch wenn ich dir schreibe, schwingt immer die Sorge mit, dass es dir zu viel werden könnte, du dir meine Gedanken nicht mehr zumuten willst und im schlimmsten Fall den Kontakt abbrichst.

Wenn diese Angst kommt und ich darüber nachdenke, merke ich aber auch, ich will mich nicht verbiegen. Unser Briefwechsel bedeutet mir sehr viel. Ich denke, wir beide leben hier etwas, das in der Gesellschaft so kaum stattfindet.

Warum werden Experten wie Wodarg, Bhakdi, Schiffmann oder Bahner ausgegrenzt? Zwar dürfen sie noch sagen, was sie denken, aber mit welchen Konsequenzen? Beate Bahner ist in der Psychiatrie gelandet.

Ich verstehe, dass die Regierung und die Wissenschaftler anfänglich sehr unter Druck standen. Inzwischen jedoch ist das Virus nicht mehr so neu. Wir haben Erfahrungen sammeln können und wissen mehr als noch vor zwei Monaten. Eine dieser Erfahrungen besagt übrigens, dass der Lockdown offenbar überflüssig war. Ich habe dazu ein sehr aufschlussreiches Interview mit dem Finanzwissenschaftler Professor Dr. Stefan Homburg gesehen. Anhand der Zahlen des RKI hat er verdeutlicht, dass der R-Wert bereits drei Tage vor Beginn des Lockdowns unter eins gesunken war und der Lockdown damit nicht nötig gewesen wäre.

Während unserer „Demo“ gestern kam die Frage auf, ob eigentlich jemand jemanden kenne, der Corona habe oder gehabt hätte. Weißt du, wie viele sich gemeldet haben? Kein einziger.

Als wir später unseren Gesprächskreis abräumten — wir dekorieren ihn jedes Mal liebevoll mit Kerze und Blumen und Gräsern, kam ein Pärchen vorbei und erkundigte sich, was wir hier machten. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die Frau eine gebürtige Russin war, an einer renommierten russischen Universität studiert hatte und darüber mit Menschen in aller Herren Länder vernetzt ist. Auch sie sagte, keiner ihre Freude, weder die in China, noch die in Amerika, Bulgarien, Rumänien oder Portugal würden jemanden kennen, der an Corona erkrankt sei.

Die beiden waren jedenfalls sehr begeistert von unserem Engagement und meinten, wir sollten unbedingt weiter machen, schon alleine, weil diese Angst- und Panikschürerei so hinterhältig sei. In Russland, erzählte sie noch, laufe die Informationsmaschinerie komplett anders. Dort würden zwar ebenfalls alle Nachrichtensendungen mit Corona beginnen, auch würden gehetzte Ärzte auf Krankenhausfluren gezeigt werden, der Grundtenor jedoch sei immer: Wir haben genug Schutzausrüstung, wir haben genug Betten, wir haben alles im Griff.

Meine Schwester hat mir irgendwann während des Lockdowns eine Geschichte weitergeleitet, die ihr ein Freund geschickt hatte. Der Freund ist Doktor der Biologie und Verhaltensforscher und Katharina hatte ihn um eine Einschätzung der Situation gebeten. Lies mal, was er geschrieben hat:

Ein Student ist auf dem Weg in eine große Stadt. Vor dem Stadttor trifft er auf den Tod, der im Schatten der Stadtmauer sitzt. Der Student setzt sich daneben und fragt: „Was hast du vor?“ Der Tod antwortet: „Ich gehe gleich in die Stadt und hole mir 100 Leute!“ Der Student erschrickt, rennt in die Stadt und schreit: „Der Tod ist auf dem Weg in die Stadt! Er will sich 100 Leute holen!“ Die Menschen rennen in ihre Häuser, verbarrikadieren sich ... Aber vor dem Tod gibt es kein Versteck.

Nach vier Wochen verlässt der Student die Stadt. Im Schatten der Stadtmauer sieht er erneut den Tod sitzen. Er rennt auf ihn zu und brüllt ihn an: „Du Lügner! 100 Leute hattest du holen wollen! Nun aber sind über 5.000 tot!“ Der Tod erhebt sich betont langsam und sagt: „Ich habe mir planmäßig die 100 geholt, die ich jede Woche hole. Alte, Schwache, Kranke ... Die anderen hat die ANGST getötet! Und diese hast DU in die Stadt getragen!“

Ich finde dieses Gleichnis sehr treffend.

Damit will ich es für heute aber bewenden lassen. Um dem Brief noch eine positive Note zu geben, hatte ich dir zwar noch von unseren Störchen schreiben wollen, deren Küken dieser Tage schlüpfen müssten, aber es ist Pfingstsonntag und wir wollen gleich ein gemütliches Kuchenpicknick am See machen. Sophie und Claudius haben gebacken. Es wird also nach ganz viel Liebe schmecken.

Dir toi, toi, toi für euer virtuelles Familientreffen.
Liebe Grüße,
Nora.


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