Heute sah ich mir einen Dokumentarfilm über Stephen King an und stellte fest, dass ich meine frühere Angst vor Serienmördern und Amokläufern völlig vergessen hatte. Neulich fragte jemand in die Runde, was aus dem Ozonloch geworden ist, und auch über einen Lkw, der in eine Menschenmenge rasen könnte, mache mir schon lange keine Gedanken mehr.
Seitdem ich mich mit Medienkritik beschäftigte, bin ich immer wieder von Neuem sprachlos, wenn ich feststelle, welch enormen Einfluss die Berichterstattung verschiedener Medien auf meine Realität und meine Wahrnehmung der Realität hat, obwohl ich sie seit einiger Zeit nicht einmal selbst konsumiere. Und wie sehr sie die Wahrnehmung meiner Mitmenschen beeinflusst, deren „Realität“ ganz anders aussieht und mit der ich dann in Gesprächen konfrontiert bin.
Ich hinterfrage meine Wahrnehmung immer wieder. Das ist anstrengend. Ich weiß, dass ich vieles nicht weiß und gar nicht wissen kann, dass ich anderen Instanzen vertrauen muss, um bestimmte Entscheidungen für mein Leben und mein Verhalten zu treffen.
Und doch weiß ich einiges, so zum Beispiel, dass viele Menschen in meinem Umfeld sich haben impfen lassen, obwohl sie keine Angst vor dem „neuartigen Coronavirus“ hatten, sondern einfach, weil sie wieder „normal leben“ wollten. Das weiß ich, weil ich sie selbst fragen und die Berichterstattung der Medien in meinem Umfeld selbst überprüfen konnte. Bei den meisten Informationen kann ich das nicht.
Dennoch weiß ich, dass die USA in der Vergangenheit immer wieder logen (1, 2), um Kriege für ihre politischen Interessen zu führen. Ich weiß, dass die USA viel mehr Geld für Rüstung ausgeben als irgendein anderes Land und sogar als Russland und China zusammen (3). Dieses Wissen habe ich aus Massenmedien. Dieselben Massenmedien publizieren aber aktuell Texte wie „Wladimir Putin: Gefährlich wie nie“ von Carsten Luther (4), der darin Folgendes schreibt:
„Niemand bedroht Russland, niemand kreist es ein. Oder um es für alle Ostpolitik-Nostalgiker noch einmal klar zu sagen: Niemand ist scharf darauf, Sicherheit gegen Russland verteidigen zu müssen — mit Russland gemeinsam daran zu arbeiten, das würden alle bevorzugen“ (4).
Was lerne ich nun aus dieser Nachricht? In einem Fall vertraue ich den Medien: Vielleicht weil sie mein Weltbild widerspiegeln? Im anderen Fall möchte ich mir an den Kopf fassen und den Autor fragen, ob er wirklich glaubt, was er schreibt, in Anbetracht der Rüstungsausgaben der USA und deren geopolitischen Interessen. Mir erscheint diese Nachricht völlig unlogisch, doch der Autor des Kommentars in der Zeit stellt sein Weltbild nicht infrage. Seine Meinung steht dort, als sei sie eine unerschütterliche Wahrheit. Wie er zu der Meinung kommt, verrät er ebenso wenig. Als Autor eines Massenmediums hat seine Interpretation der aktuellen Lage einen enormen Einfluss auf das Weltbild von wesentlich mehr Menschen, als ich es je haben könnte.
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (5).
Das ist ein Zitat aus dem Buch „Die Realität der Massenmedien“ von Niklas Luhman, der darin beschreibt, wie einflussreich diese Medien sind. Ich kenne es dank Michael Meyen, der Luhman in seinem Buch „Die Propaganda-Matrix“ zitiert. Mein Eindruck ist, dass viele Leser oder Zuschauer von Massenmedien die dort publizierten Informationen mit Wissen verwechseln, so wie ich die weiter oben genannten Informationen aus denselben Medien auch für Wissen halte. Meyen ergänzt das Luhman-Zitat in seinem Buch:
„Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen — und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen“ (5).
Ich las die Bücher „Megamanipulation“ von Ullrich Mies, „Die Propaganda-Matrix“ von Michael Meyen und „Zombie-Journalismus“ von Marcus Klöckner und beschloss, nun selbst noch ein Journalismus-Fernstudium zu belegen, um herauszufinden, was guten Journalismus ausmacht und wie ich ihn selbst umsetzen kann, seitdem ich erkannte, welche Verantwortung Medien zukommt, vor allem, wenn sie von immer mehr Menschen konsumiert werden.
Die Frage ist: Sind sich die Journalisten der Massenmedien ihrer eigentlichen Aufgabe und Verantwortung als Wächter der vierten Gewalt bewusst? Und welche Verantwortung kommt jedem einzelnen Medienkonsumenten zu, der die Beiträge entweder als „die Realität“ aufnimmt oder als eine Information, die er immer hinterfragen muss?
Michael Meyen, selbst Journalist und zudem auch Kommunikationswissenschaftler, versucht, Antworten darauf zu finden. Er kennt den Journalismus unter einer Diktatur wie der DDR und den Journalismus des wiedervereinigten Deutschlands und analysiert nicht nur die aktuellen Medien, sondern sucht auch nach Lösungen für einen Journalismus, der seine eigentliche Aufgabe erfüllt.
„Walther von La Roche, einer der Godfather der deutschen Journalismus-Lehre, hat die Aufgaben von Journalisten mal so definiert: Recherchieren und Dokumentieren. Formulieren und Redigieren. Präsentieren. Organisieren und Planen. Das fasst gut zusammen, was Journalisten den ganzen Tag machen.
Wichtig ist bei ihrer Arbeit, dass sie kritisch darüber berichten, was andere tun. Fremddarstellung heißt das und ist genau das Gegenteil von der Selbstdarstellung, die etwa Pressesprecher im Auftrag eines Unternehmens betreiben. Deren Interesse ist es, den eigenen Arbeitgeber möglichst gut aussehen zu lassen: ‚Dieses Müsli ist vorzüglich!‘, behaupten sie. Die Aufgabe von Journalisten ist es, das kritisch zu hinterfragen und bei der Gelegenheit nicht nur mit dem Müsli-Hersteller, sondern auch seinem Konkurrenten, den Kunden und der Lebensmittelaufsicht zu sprechen. ‚Audiatur et altera pars‘ — die andere Seite ist zu hören, nennen Experten mit großem Latinum diese Praxis.
Damit sie funktioniert, müssen Journalisten unabhängig sein. Sie dürfen ihr Gehalt nicht von demjenigen bekommen, über den sie berichten, und sie müssen sich der Wahrheit verpflichtet fühlen. Hinzu kommen noch weitere Aufgaben wie etwa die Wahrung der Menschenwürde, Einhaltung des Jugendschutzes oder die Korrektur von Fehlern, die auch Journalisten unterlaufen können (sind schließlich auch nur Menschen). Woran sie sich halten sollen, steht im Pressekodex. Da es sich dabei um eine ethische Selbstverpflichtung der Branche handelt, nicht um ein Gesetz, hat es allerdings keine schwerwiegenden Konsequenzen, wenn jemand dagegen verstößt“ (6).
Allein das reicht, um zu begreifen, dass die Medien in unserer aktuellen, dem Markt und Profit unterworfenen Gesellschaft nicht so arbeiten können, wie es für eine wirkliche Demokratie überlebensnotwendig wäre.
Ein weiteres Problem der heutigen Medienlandschaft sieht Meyen in der Homogenität der Redaktionen, die fast nur aus weißen Mittelschicht-Akademikern mit demselben Weltbild bestehen (7). Als ebenfalls weiße Mittelschicht-Akademikerin stelle immer wieder bestürzt fest, wie gut es mir gelingt, mir selbst etwas vorzumachen. Zum Thema sozialer Gerechtigkeit spreche ich oft für „die Armen“ und gegen „die Ultrareichen“, doch was weiß ich denn wirklich über die Lebensrealität dieser Menschen? Müssten sie nicht für sich selbst sprechen und schreiben können?
Wie viele Medienmacher und Konsumenten wissen überhaupt, dass andere Bevölkerungsgruppen als die weiße Mittelschicht in der Medienrealität so gut wie nicht vertreten sind? Sie schreiben über Billiglöhne und Hartz-IV-Empfänger, aber was ist mit den Menschen, die davon leben müssen? Wer sieht oder kennt ihren Alltag? Wer lässt sie selbst zu Wort kommen? Wo begegnen wir ihnen in unserem Alltagsleben? Randerscheinungen, an denen wir an Bahnhofsvorplätzen, im Supermarkt und an Tankstellen schnell vorbeigehen, weil sie nicht in unsere Realität passen und eine gewisse Scham in uns wecken?
Michael Meyen analysiert nicht nur, was schiefläuft, sondern erstellte auch zusammen mit Alexis Mierbach und dem bayerischen Forschungsverbund ForDemocracy das Projekt „Media Future Lab“, das folgende Fragen erforscht und auf seiner Website dokumentiert:
„Wie müssen Journalismus und Massenmedien organisiert sein, damit sie die normativen Funktionen erfüllen können, die ihnen demokratietheoretisch zugeschrieben werden? Genügen dafür (juristische, finanzielle, ethische) Anpassungen im Bereich der traditionellen Massenmedien (Presse, Hörfunk, Fernsehen), ergänzt möglicherweise um die Förderung von Alternativangeboten, wie sie sich im Internet entwickeln (über Stiftungen, Crowdfunding, Abonnements, Aktivismus, soziale Bewegungen, Selbstausbeutung), oder braucht es neue Lösungen jenseits des Neben- und Miteinanders von kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Anbietern? Ganz generell gefragt: Was erwarten wir (die Gesellschaft) von Medienangeboten, was verstehen wir unter gutem Journalismus und was wollen wir uns das kosten lassen?“
Die Coronakrise weckte mich auf, in einem schleichenden, aber nachhaltigen Prozess. Ich bin entsetzt und fasziniert zugleich, welche Macht Medien haben und wie lange ich diese übersah.
Sie bestimmen die Matrix, in der wir leben und die wir für die Realität halten. Es kommt den Mächtigen dieser Welt sehr zugute, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Macht der Medien unterschätzt, ja sogar anzweifelt, dass es so etwas wie „die Mächtigen“ geben soll, nur weil sie nicht mehr wie einst klar im Gewand eines Präsidenten oder Diktators zu sehen sind, sondern vielleicht eher als die reichsten Menschen der Welt verehrt werden, ohne ihren Reichtum mit politischer Macht zu verknüpfen.
Also was tun? Michael Meyen setzt auf unermüdliche Aufklärung und Ausbildung. Auf der Plattform „Wissen ist relevant“ beschreibt er, wie Medienmanipulation funktioniert und wie wir die Medien-Matrix durchschauen, um daraus auszubrechen. Dazu brauchen wir Mut, Verantwortungsbewusstsein und Rückgrat, wie wir in jeder Begegnung mit der Medienrealität der Mehrheit unserer Mitmenschen schnell feststellen.
Mich inspiriert Michael Meyen, da es ihm trotz Diffamierungen in Massenmedien gelingt, stets menschlich, freundlich und kompetent seine Erkenntnisse vorzutragen und trotz des auf ihn ausgeübten Drucks nicht einzuknicken und seinen Weg weiterzugehen. Sogar soweit, dass er eine Akademie für freien Journalismus gründete, um sowohl Medienschaffende der neuen, unabhängigen Plattformen auszubilden, als auch Medienkonsumenten in ihrer Medienkompetenz zu schulen.
Sein Vortrag „Die Medien-Matrix“ ist ein perfekter Einstieg.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/pentagonpapers-101.html
(2) https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2014-07/vietnam-krieg-usa-50-jahre
(3)https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157935/umfrage/laender-mit-den-hoechsten-militaerausgaben/
(4) https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/wladimir-putin-russland-ukraine-krieg
(5) Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix, Seite 26
(6) https://www.mdr.de/medien360g/medienwissen/was-ist-journalismus-100.html
(7) https://medienblog.hypotheses.org/10010