Schon Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts äußerte Richard von Weizsäcker, von 1984 bis 1994 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, scharfe Kritik an den deutschen Parteien. Über die Aussagen von Weizsäckers schreibt der Rechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim in seinem Buch Parteienherrschaft statt Volkssouveränität (49), dass die Parteien ihr tatsächliches Wirken weit über die vom Grundgesetz vorgesehene Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes hinaus ausgedehnt hätten: „ … vergleiche man die Wirklichkeit unseres Verfassungslebens mit Artikel 21 des Grundgesetzes, dann kommen dem einen die Tränen der Rührung, und bei anderen schwellen die Zornesadern“ (49).
Mit dem Parteiengesetz würden die Parteien über den Umweg und mithilfe des Gesetzgebers über sich selbst verfügen — eine andere Bezeichnung für Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache. Auf diese Weise hätten sie sich einen viel zu weiten Gestaltungsauftrag erteilt: „Die Parteien wirken an der Bildung des gesamten gesellschaftlichen Lebens aktiv mit. Sie durchziehen die ganze Struktur unserer Gesellschaft, bis tief hinein in das seiner Idee nach doch ganz unpolitische Vereinsleben“, und gingen damit über den politischen Willen, von dem allein die Verfassung redet, weit hinaus.
Ihr Einfluss reiche direkt oder indirekt in die Medien und bei der Richterwahl in die Justiz, aber auch in die Kultur und den Sport, in kirchliche Gremien und Universitäten; sie drängen in alle Ritzen der Gesellschaft ein, von dem Missstand der unaufhörlichen und ungenierten Tätigkeit von Parteien in den öffentlich-rechtlichen elektronischen Medien ganz zu schweigen (49).
Weiter erklärte von Weizsäcker, dass der politische Nachwuchs ausschließlich Sache der Parteien sei, was die Anziehungskraft des politischen Berufs nachhaltig gemindert habe. Politiker würden immer mehr von Jugend an zu parteiabhängigen Berufspolitikern, dadurch nähmen Qualität und Selbstständigkeit der politischen Klasse zunehmend ab. Der Hauptaspekt des erlernten Berufs unserer Politiker bestehe in der Unterstützung dessen, was die Partei will, damit sie einen nominiert, möglichst weit oben in den Listen und in der behutsamen Sicherung ihrer Gefolgschaft, wenn man oben ist. Man lerne, wie man die Konkurrenz der anderen Parteien abwehrt und sich gegen die Wettbewerber im eigenen Lager durchsetzt.
An der erodierenden Gewaltenteilung kritisierte Weizsäcker das Interesse der Medien vornehmlich an Vordergründigem, was einen unheilvollen Umkehrprozess der Wichtigkeiten bewirke. Die Medien fänden oft das Schicksal der Parteien interessanter als die Lösung der Probleme. Sein berühmt-berüchtigtes Diktum lautet, die Parteien seien machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe; Anträge würden abgelehnt, nur weil sie von der jeweils anderen Partei kommen. Statt dass Parteien die Instrumente zur besseren Lösung der Probleme bleiben, geschieht allzu oft das Umgekehrte, nämlich die Probleme zu instrumentalisieren, um die Ziele einer Partei gegen eine andere besser erreichen zu können.
Insgesamt ging es Richard von Weizsäcker um eine Weiterentwicklung der Demokratie, um die damals schon beginnende Distanz zwischen Bevölkerung und politischen Parteien nicht immer weiter wachsen zu lassen.
Die politische Elite hat die Kritik Weizsäckers bis heute in keinerlei Hinsicht angenommen. Ganz im Gegenteil: Fast 30 Jahre später sind die Parteien an die Stelle des Volkes getreten. Herbert von Arnim beschreibt, dass sie sich den Staat und große Teile der Gesellschaft ihrem Kräftespiel, ihren Interessen und Bestrebungen unterworfen und ihn auf diese Weise innerlich modifiziert und von einer Demokratie zum Parteienstaat gewandelt hätten.
Den umfassenden Zugriff der Parteien sowie den weitgehenden Ausschluss der Bürger könne man aber nur in voller Schärfe erkennen, wenn man hinter das formale staatsrechtliche Gebäude von Regierung und Parlament blicke: Hinter der formalen Fassade gehe es nicht um das Gemeinwohl, dem die Staatsorgane verfassungsrechtlich verpflichtet seien, sondern um die eigenen Interessen der parteilichen Akteure an Macht, an Posten, damit um Geld und Einfluss.
Sämtliches Handeln der Parteien und Ihrer Akteure ist ausschließlich mit finanziellen Mitteln möglich. Aber wie finanzieren sie sich? Dazu das Bundesamt des Innern, für Bau und Heimat:
„In einer durch das Wirken politischer Parteien geprägten parlamentarischen Demokratie ist die Parteienfinanzierung von erheblicher Bedeutung“ (50).
Wie aufgedunsen unser Parteienstaat gegenwärtig durch Entscheidungen in eigener Sache ist, wird besonders deutlich bei der staatlichen Parteienfinanzierung. Dazu meint Herbert von Arnim, der die Selbstbedienungsmentalität der politischen Klasse seit Jahren anprangert, dass die Finanzierung der Parteien ein Spiegel der Stärke und zugleich Mittel sei, ihre Macht ungehindert weiter auszubauen, denn Geld verschaffe Verfügung über Personal und Ressourcen aller Art.
Weiter schreibt er in seiner oben genannten Analyse über die Parteienherrschaft, dass die deutschen Parteien sich inzwischen (unter Einbeziehung der Steuerbegünstigung von Beiträgen und Spenden) zu 60 bis 70 Prozent aus der Staatskasse finanzieren würden. Und dass bei den Parlamentsfraktionen, den Abgeordnetenmitarbeitern und den Parteistiftungen, die ihren Mutterparteien jeweils eng zuarbeiten, die Staatsfinanzierung fast 100 Prozent erreiche.
„Alle zusammen erhalten derzeit aus Steuermitteln rund 1200 Millionen Euro im Jahr und haben sich damit im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien in besonders große Nähe zum Staat begeben — mit steigender Tendenz. Die Subventionen, die allein den Fraktionen des Bundestages zuteilwerden, haben sich in den letzten 48 Jahren ver35facht, 2016 lagen sie bei 84,3 Millionen Euro. Die öffentlichen Gelder für Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten betrugen 202 Millionen Euro. Noch sehr viel höher sind die öffentlichen Zuwendungen an die parteinahen Stiftungen, die 2016 fast eine halbe Milliarde Euro erhielten“ (49).
Der Wähler kann bis heute gegen diese Eigenmächtigkeiten nichts unternehmen. Er ist in Sachen Staatsfinanzierung der Parteien, Fraktionen und Stiftungen durch die Absprachen der etablierten Parteien entmachtet. Welche Partei der Bürger auch wählt: Alle Parlamentsparteien sind in das Kartell eingebunden.
Diese unerträgliche Arroganz der Parteienmacht wird in einem Bericht bei ZeitOnline am 15. Juni 2018 sehr deutlich. Das Vorgehen der Regierungskoalition zeugt von einem Egoismus auf Staatskosten, der seinesgleichen sucht: Im Schnellverfahren haben Union und SPD den Parteien mehr staatliches Geld zur Verfügung gestellt. Das sei intransparent und ungerechtfertigt, sagt der Münchner Politologe Michael Koß.
Union und SPD haben mit ihrer Mehrheit im Bundestag beschlossen, das staatliche Budget für die Parteienfinanzierung um 25 Millionen Euro pro Jahr auf 190 Millionen zu erhöhen. Ihr Vorgehen hält Koß für hochproblematisch und meint dazu, dass die Einnahmen aus der staatlichen Parteienfinanzierung sinken würden, weil vor allem die großen Parteien bei der Bundestagswahl schlechter abschnitten. Hinzu komme die mangelnde Bereitschaft, Mindereinnahmen auszugleichen. Die Gründe für die Geldknappheit bei CDU, CSU und SPD seien weniger in der Umwelt der Parteien zu suchen als in ihnen selbst, genauer: den Parteiführungen.
„Statt zu sparen, wollen sie die herben Wahlverluste der vergangenen Jahre durch mehr Steuergeld kompensieren. Denn zur Logik der staatlichen Parteienfinanzierung gehört, dass sie im direkten Verhältnis zu Wählerstimmen und Kleinspenden der Parteien stehen soll: Weniger Stimmen und weniger Einnahmen aus Kleinspenden bedeuten demnach zwingend weniger staatliches Geld. Alles andere wäre eine Bestandsgarantie nicht für die Parteiendemokratie, sondern für die Koalitionsparteien“ (51).
Der Egoismus und die Arroganz der Bundestagsparteien, vielmehr ihrer Führungskräfte, sind unerträglich und zutiefst undemokratisch. Nur wenn es uns gelingt, das Sonntagsgesicht des Staates und seiner Amtsträger zu entschleiern und damit die Divergenz zwischen gemeinnützigem Auftrag und tatsächlichem Handeln unserer Volksvertreter sichtbar zu machen, werden wir die dringenden Veränderungen durchsetzen können, denn Aufklärung generiert Wandel.
Die Gemeinschaft für Frieden und Gerechtigkeit (GFG) ist eine Vereinigung politisch und gesellschaftlich engagierter Menschen mit verschiedenen beruflichen Hintergründen. Sie bündelt unterschiedliche Kompetenzen, Erfahrungen und Erkenntnisse, um aktuelle gesellschaftlich-politische Fragen zu erörtern und Alternativen für die Zukunft aufzuzeigen.
Quellen und Anmerkungen:
Auszug aus dem Buch der Gemeinschaft für Frieden und Gerechtigkeit „Demokratie versus Parteienherrschaft. Wege und Entscheidung zu einer wahren Demokratie“, tredition, 2020, Seite 129 bis 133.