Politische Bildung als Grenzerfahrung
Bildungspolitik ist in Zeiten politischer Umbrüche immer ein heiß umkämpfter ideologischer Kriegsschauplatz gewesen. Das war so nach den beiden deutschen Revolutionen, also 1848 und 1918, so aber auch nach der Reichsgründung 1871 wie nach dem Sieg und nach der Niederlage des deutschen Faschismus. Ebenso nach der deutschen Studentenrevolte 1968 und nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren. Gleichviel, ob die politischen Umbrüche von progressiven, demokratischen oder von reaktionären Kräften initiiert worden waren, jedes Mal ging es um Veränderung der Lerninhalte, ging es um neue Lernziele.
Doch der gegenwärtige Umbruch stellt sich anders dar: Er macht sich in einem — man darf sagen — globalen Maßstab bemerkbar, der sich gegen die zerstörerischen Folgewirkungen der Globalisierung richtet, also hauptsächlich von wirklichen, aber in großem Umfang auch von vermeintlichen Globalisierungsverlierern ausgeht. Zudem führte er auch in Deutschland zu beunruhigenden Wahlerfolgen einer — sehr zurückhaltend — rechtspopulistisch genannten, im Kern jedoch neonationalistisch-rassistischen, Partei, die sich lächerlich anmaßend als Alternative für Deutschland anbiedert.
Im Unterschied zu früheren Umbruchzeiten fehlt gegenwärtig der Streit der Bildungspolitiker über die politische Bildung.
Sie ist kein Thema. Folglich fehlen auch Diskussionen darüber, was denn in diesem Fach den Schülerinnen und Schülern an Inhalten vermittelt werden soll. Bildungspolitische Themen sind zurzeit eine bessere Finanzierung des Bildungssektors, bessere Schulräume, kleinere Klassen, gute Ausstattung mit qualifizierten Lehrern, Schulpsychologen und Sozialarbeitern, auch die Bereitstellung zeitnaher Technik. Unter anderem werden mit Feuereifer Sprachförderung, interkulturelle und digitale Bildung und Inklusion gefordert und deren Förderung von Bildungspolitikern hoch und heilig versprochen. Das ist gut so, weil dringend erforderlich. Denn auch die Rahmenbedingungen für die politische Bildung müssen stimmen. Doch der Streit unter den Bildungspolitikern über die politische Bildung und neue Inhalte fehlt.
Müsste er nicht angesichts der durch die Globalisierung verursachte Krise der nationalstaatlichen kapitalistischen Demokratien an erster Stelle stehen? Oder ist der ideologische Konsens des international agierenden politischen und wirtschaftlichen Establishments wirklich schon so groß, dass politische Bildung an Schulen und Hochschulen kein Thema mehr ist, ja sorgfältig vermieden wird, um keine schlafenden Hunde zu wecken?
Dankenswerterweise ist kürzlich das Buch „Mit Demokratie ernst machen“ des bekennenden Alt-68ers, ehemaligen Berufschullehrers, Gewerkschafters und Personalrats Herbert Storn erschienen. Dieses Buch ist hervorragend geeignet, die schlafenden Hunde zu wecken und den bildungspolitischen Burgfrieden zu stören. Ich wollte es eigentlich nur kurz rezensieren, aber es ist wert, ausführlich besprochen zu werden und es zu lesen.
Erinnerungen und Sorgen eines Alt-68er Politiklehrers
Herbert Storn verfolgt bei seinen „Überlegungen zum politischen Unterricht“ einen speziellen Gedanken. Das macht schon der Titel seines Buches deutlich: „Mit Demokratie ernst machen.“ Buchtitel halten selten, was sie verkünden. Selbst bei Sachbüchern sind sie oft nicht mehr als geheime Verführung, aufdringliche Werbung, Etikettenschwindel. Der Titel dieses Buches ist jedoch eine unmissverständliche Ansage, ist Programmüberschrift. Im Buch beschreibt der Autor, was außen draufsteht.
Die beiden Untertitel — zusammengefasst — fordern geradeheraus dazu auf, Demokratie, die wieder einmal gefährdet erscheint, durch politischen Unterricht zu stärken, aber nicht durch die Vermittlung abergläubischer Dogmen des Neoliberalismus, sondern durch eine „radikale ökonomische Aufklärung“. Das betont Storn in der Einleitung noch einmal. Erste Adressaten sind Storns Kolleginnen und Kollegen, also Politik-, Sozial- und Gesellschaftskundelehrer. An sie gerichtet setzt er darauf, was an sich schon größte Anerkennung verdient, dass sie allein aufgrund seiner Argumente diese radikale ökonomische Aufklärung im Unterricht auch betreiben.
Aber beschwört er damit nicht längst verschwunden geglaubte Geister? Das muss sich Storn auch selbst gefragt haben. Denn man merkt an seinem ausgewogenen und reflektierten Sprachduktus, dass er als erfahrener Lehrer seine Zweifel hat, Lehrerkolleginnen und -kollegen würden von jemanden mit einer derart offen eingestandenen linken Biographie Ratschläge annehmen. Und seien sie noch so gut. Nein, das tun sie höchst wahrscheinlich nicht. Aber dennoch verzichtet er darauf, sich nur an Gleichgesinnte zu wenden. Er spricht alle Politiklehrer an, indem er immer wieder von seinen eigenen Erfahrungen berichtet, von denen er sicher sein kann, dass alle seine Kolleginnen und Kollegen ähnliche gemacht haben. Damit macht er es ihnen leichter, sich mit seinen Gedankengängen und Werturteilen auseinanderzusetzen.
Immer wieder betont er seine subjektive Sicht auf die Probleme, weil er weiß, wie schnell ängstliche Menschen, besonders Lehrkräfte, das Interesse an einer Sache verlieren, die erklärte Linke als absolute, unanfechtbare, objektive Wahrheit darstellen. Also berichtet Storn einfach und unverbindlich, aber bestimmt, von seinen eigenen Versuchen, bei Schülerinnen und Schülern Interesse und Verständnis für die aktuellen Demokratieprobleme und deren sozioökonomische Ursachen zu wecken. Selbstverständlich didaktisch auf Wesentliches reduziert, aber auch „zugespitzt“.
Er fordert seine Kolleginnen und Kollegen nicht dazu auf, das ebenso zu tun. Er macht Themenvorschläge, bietet Orientierungshilfen, Arbeitsmaterialien. Auf der letzten Seite seines Buches erinnert er noch einmal daran, dass er den Inhalt nur als eine Art Kompass, Landkarte, Navi verstanden wissen will, „das den [aus seiner Sicht richtigen – H. See] Weg mit seinen Hindernissen, aber auch seinen günstigen Streckenabschnitten markiert“ (S.156).
Klugerweise meidet Storn den bei vielen 68ern üblich gewesenen, höchst bildungsfeindlichen Soziologenjargon, vor allem den die „Arbeiterklasse“ frustrierenden Verbalradikalismus, denn dieser stößt nicht nur Erzkonservative und Deutschtümler, sondern auch Liberale ab und schließt Nicht-Akademiker aus öffentlichen politischen Diskursen aus. Mit diesem war damals und ist heute kein herrschaftsfreier Dialog, ein Dialog auf Augenhöhe, möglich. Demokratie war damals graue Theorie. Deshalb bieten heute wenigstens Wortwahl und Stil des Buchs zumindest jenen seiner Kolleginnen und Kollegen ohne linke Vergangenheit, die aber dieselben Probleme wie er aus der Praxis kennen und unter schlechtesten Rahmenbedingungen im Unterricht bewältigen müssen, eine gute Verständigungsbasis.
Ich kann mir angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche sogar vorstellen, dass viele Menschen endlich wieder zu bildungspolitischen Diskussionen und Entschlüssen ermutigt werden. Angesichts der gravierenden Veränderungen in der Parteienstruktur sind viele Bildungspolitiker in Parteien und Verbänden, die dem klassischen christ- und liberaldemokratischen, aber auch den jüngeren ökodemokratischen Lagern angehören, plötzlich um Demokratie, Bürger- und Menschenrechte besorgt. Sie werden dieses Buch und das Hauptanliegen Storns, das demokratische Bewusstsein vor allem junger Menschen gegen die extreme Rechte zu stärken, mit Erkenntnisgewinn lesen.
Nicht zuletzt liefert das Buch auch für eine breitere, schul- und bildungspolitisch interessierte und engagierte Leserschaft ohne Parteibindung oder ideologische Präferenzen, zum Beispiel Eltern, wichtige Einblicke in die Welt des politischen Unterrichts, die sich durchaus auch als ein hochbrisantes Minenfeld darstellen lässt.
Davor scheut der Autor — erfreulicherweise — nicht zurück, denn er schildert freimütig, dass der Politikunterricht „eher konservativ im Sinne der herrschenden Verhältnisse“ ist, dass Lehrkräfte aus „Angst oder Sorge, zu parteiisch zu wirken oder wahrgenommen zu werden“, oft dazu tendieren, „die Ausgewogenheit zu übertreiben, sodass bei den Schüler/innen das Gefühl bleibt, das prinzipiell ‚beide Seiten‘ irgendwie recht haben“ (S.57).
Kapitalistische oder sozialistische Demokratie?
Die zentrale Frage, die im politischen Unterricht unvermeidlich gestellt wird, lautet tatsächlich: Welche Seite hat eigentlich recht? Nationalisten oder Internationalisten? Neoliberale oder Sozialisten? Sie kann keinesfalls lauten: Demokratie oder Diktatur? Daher müssen Alternativen zu den derzeitigen kapitalistischen Demokratien, die offensichtlich ihren Zenit überschritten haben, auch im politischen Unterricht thematisiert werden. Was sagt Herbert Storn dazu?
Der nach 50 Jahren Rechtstrend noch immer linkslastige Storn zieht ein As aus dem Ärmel, mit dem er wahrscheinlich einen weiteren Stich — vielleicht sogar im konservativen Lager der Politiklehrer — macht. Er ruft nämlich den inzwischen verstorbenen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher postum in den Zeugenstand, der in seinem Buch „Ego“ tatsächlich mutmaßte, die Linke könnte möglicherweise, was den Kapitalismus betrifft, schon lange recht gehabt haben. Jedenfalls würden „im bürgerlichen Lager die Zweifel immer größer werden, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang“ (S.31).
Welche Demokraten, unabhängig ob bürgerliche oder sozialistische, fragen sich das heute angesichts des weltweiten Rechtsrucks der Parteien und Bevölkerungen nicht? Vor allem die der klassischen demokratischen Länder? Haben die Mehrheiten dieser Gesellschaften noch immer nicht begriffen, dass das Zeitalter der sich voneinander abgrenzenden, sich gegenseitig bekriegenden und unterwerfenden Nationalstaaten vorüber ist? Dass die Wissenschaft der Nationalökonomie, die klassische Bereicherungswissenschaft, wie Friedrich Engels sie nannte, von der heutigen Weltmarktökonomie der börsennotierten Industriekonzerne und sonstigen Kapitalverwertungsgesellschaften, der Banken und Schattenbanken, der Investmentgesellschaften und Versicherungsunternehmen, vor allem von der immer mächtiger werdenden Untergrundökonomie, zu einer Pseudowissenschaft degradiert worden ist?
Deshalb suchen ja nicht mehr nur die Linken aller Parteien und Fraktionen, nicht nur Lehrkräfte, die zugleich aktive Gewerkschafter und politisch Engagierte in den so genannten Zivilgesellschaften sind wie Storn, nach einer schlüssigen Antwort auf die „reaktionäre Wende“.
Anfangs macht es sich Storn zwar etwas zu leicht, indem er die Erfolge des Neoliberalismus ebenso wie die Erfolge Trumps mit dem zweifellos vorhandenen und von Demagogen missbrauchten „ökonomischen Analphabetismus“ erklärt. Aber er weiß — wie sich dann im 10. Kapitel seines Buches zeigt, in dem er das „Kapitalverhältnis“ analysiert — selbst, dass seine einleitende Erklärung nicht ausreicht.
Storns Buch ist radikaldemokratisch. Es ist über weite Strecken kämpferisch. Tatsächlich sind von den insgesamt 12 Kapiteln — trotz des verbindlichen Grundtons — das erste und das zehnte besonders linkslastig, man darf sagen undogmatisch-marxistisch. Aber die Leser finden keine Spur von Resignation oder intellektuellem Zynismus, der sich angesichts der irreversiblen welthistorischen Niederlage der europäischen Arbeiterbewegung bei vielen Linksintellektuellen, auch linken Lehrern und Hochschullehrern, breit gemacht hat.
Auch in den übrigen Kapiteln stehen viele kämpferische Passagen. Aber zu sagen, das Buch sei klassenkämpferisch, wäre falsch. Es ist klassenbewusst. Der Autor will ja nicht nur an die von den 68ern durch die marxistische Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse anknüpfen, er will auch zeigen, „dass die politisch-ökonomischen Probleme ein halbes Jahrhundert später nicht weniger schlecht mit Marx erfasst und auf den Punkt gebracht werden können als damals“ (S.146).
Gleich im ersten Kapitel bietet Storn einen Rückblick auf 50 Jahre 68er Bewegung. Hier fragt er sich vor allem, weshalb der damals so hoffnungsvolle Ansatz, dieser vehemente Aufbruch zu einer politisch-ökonomisch orientierten politischen Bildung an Schulen und Hochschulen „so wenig Erfolg beschieden war?“ (S.14). Er weiß, diese Bewegung hat viele Reformen angestoßen, er sagt „vieles befördert“. Weniger jedoch die politische Bewusstseinsbildung der Bevölkerung, die von den Grundwidersprüchen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung offenbar nicht genug weiß. Hier ist sein konkreter Ansatzpunkt: Storn mahnt „eine radikale ökonomische Aufklärung“ im politischen Unterricht an. Er spricht es leider nicht deutlich aus, aber wer bereit ist, sein Buch auch als politische Biographie eines engagierten Lehrers zu verstehen, erkennt leicht, dass Storn sich als demokratischer Sozialist versteht.
Was haben die Alt-68er falsch gemacht?
Um etwas gründlicher als üblich zu klären, weshalb die Studentenrevolte diese Widersprüche nicht hinreichend deutlich zu vermitteln vermochte, beginnt er mit dem Zerfall des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Dieser akademische Jugendverband versuchte schon damals, mit einer radikalen ökonomischen Aufklärung die Verhältnisse zu verändern. Der SDS war es auch, der anfangs starke Impulse zu setzen vermochte. Doch ausgerechnet von diesem Verbündeten — was heute verdrängt ist — trennte sich die SPD, weil er das Godesberger Programm nicht anerkennen wollte, das nach 1918 den zweiten programmatischen Kniefall der SPD vor dem Kapital, diesmal in der Zeit nach 1949, vollzog.
Es wurden seinerzeit auch Professoren aus der SPD ausgeschlossen, weil sie sich mit dem SDS solidarisierten. Ich erinnere nur an Wolfgang Abendroth, damals einer der profiliertesten marxistischen Sozialdemokraten der BRD. Mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss stellte die SPD noch einmal die Weichen nach rechts, Richtung Volkspartei. Die Problematik, dass sie sich mit diesem sozialpartnerschaftlichen Konzept inzwischen zu Tode gesiegt hat, kommt leider etwas zu kurz.
Storn erinnert jedoch an die linke Revoluzzer- und Sponti-Szene, die die breiten Massen ebenso wenig überzeugen konnte wie die theoretisch fundierte, aber zu höchsten sprachlichen Abstraktionen neigende „Frankfurter Schule“, die viel Richtiges über die kapitalistischen, aber auch über die realsozialistischen Gesellschaften zu sagen wusste. Storn erinnert an den Philosophen Herbert Marcuse und an den gewerkschaftsnahen Bildungstheoretiker Oskar Negt. Diese waren zwar weithin beachtete linke Sozialwissenschaftler, wurden aber damals von militanten Konservativen — wie viele andere Intellektuelle auch — als Kommunisten bekämpft, was sie nicht waren. Ihr Einfluss auf die breiten Massen der Arbeiter blieb gering.
Es gab allerdings nach 1968 — als Folge der linken Akademiker-Rebellion — eine Reihe marxistischer Professoren an deutschen und ausländischen Hochschulen. Doch schon deren Berufungen wurden derart erbittert — man darf sagen klassenkämpferisch — bekämpft, auch ihre wissenschaftlichen Qualifikationen in Frage gestellt, dass ihr Einfluss auf Lehrkräfte sich in engen Grenzen hielt. Wo immer Marxisten an Universitäten, sonstigen Hochschulen und Forschungs-Institutionen lehrten und Forschung betrieben, stellten rechte Professoren, Politiker und Journalisten diesen Einfluss derart übertrieben dar, als hätten revolutionäre Kommunisten die Macht im Staat ergriffen und die freiheitlich-demokratische Grundordnung abgeschafft.
Auch vom „Gewerkschaftsstaat“ war die Rede. Aber faktisch waren Zahl und Einfluss marxistischer und gewerkschaftsnaher Professoren immer sehr gering und sind es noch. Dazu kam, dass sich überwiegend Studierende der so genannten „weichen“ Disziplinen, der Geistes-, Kultur-, Sozialwissenschaften, also künftige Politikwissenschaftler, Soziologen und Sozialpsychologen für Wissenschaft und Weltanschauung des Marxismus interessierten. Anschließend integrierten sich diese dann fast alle ohne Probleme in das von ihnen gehasste System. Gerhard Schröder und Joschka Fischer zeigten in höchsten politischen Ämtern, wie leicht linke Gesinnung in rechte Politik transformiert werden kann.
Wichtig zu wissen ist auch, dass aus Sicht konservativer und wirtschaftsliberaler Professoren der Marxismus gar keine Wissenschaft war, sondern eine gefährliche, weil freiheitsfeindliche Ideologie, eine umstürzlerische Weltanschauung. Dem entsprach, dass auch die orthodoxen Kommunisten des Ostblocks in den Marxisten an westlichen Hochschulen — mit wenigen Ausnahmen — nur mehr oder weniger revisionistische Marx-Interpreten, Marxologen und Sowjetologen sahen und — ich erinnere an Iring Fetscher, dessen Bücher sogar an Gymnasien erlaubt waren — zu ihrem Glück auch von dieser Seite angegriffen und disqualifiziert wurden.
Das Scheitern der Linken im Detail und insgesamt, also auch ihres Ansturms auf Schulen und Hochschulen, führt Storn jedoch hauptsächlich auf deren heillose Zersplitterung zurück, auf ihre ewigen ideologischen Abgrenzungskämpfe, „die peniblen Versuche, jede Form von ‚Revisionismus‘ auszumerzen“, Linien zu ziehen, ideologische und politische Lager zu bilden, sich in endlosen Debatten über Haupt- und Nebenwidersprüche des Kapitalismus zu verzetteln.
Dass vor allem das abstoßende, sektiererische Verhalten linker Gruppen und Individuen der von ihnen beabsichtigten Mobilisierung der „Volksmassen“ „nicht unbedingt weiterhalf“, wie der Autor es schonend formuliert, bedarf sicher keiner näheren Begründung. Es hätte aber auch keiner Begründung bedurft, wenn Storn im Zusammenhang mit der Schilderung der selbstzerstörerischen Tendenzen in der linken Bewegung die erbitterten Sozialismusgegner jeglicher aufklärerischen Bildungsreform von Links und deren ordnungspolitischen Maßnahmen erwähnt hätte, die viel maßgeblicher das Scheitern und damit auch die „reaktionäre Wende“ bewirkten.
Schmerzliche Lücken
Es ist bemerkenswert, dass Storn ausgerechnet den schweren Eingriff der in Bund und Ländern zur Zeit der 68er Revolte Regierenden ins Beamtenrecht durch den „Radikalenerlass“ nicht erwähnt. Denn kaum eine andere Maßnahme gegen radikale ökonomische Aufklärung an Schulen und Hochschulen hat nachhaltigere Wirkungen gezeitigt als die Politik der Berufsverbote.
Sie richtete sich zwar offiziell gegen links- und rechtsextreme Beamtenanwärter, aber wer diese Zeit bewusst erlebt hat, wer — wie ich — selbst ins Visier der Linkenjäger des Kalten Krieges geraten war, weiß, wie sehr die damals für Bewerber junger Menschen auf eine Lehrerstelle eingeführte „Regelanfrage“ beim Verfassungsschutz die Denkrichtung der Studierenden beeinflusste. Sie ließ sie davor zurückschrecken, sich auch nur ansatzweise kritisch mit den Problemen der kapitalistischen Demokratie, geschweige denn mit der von der DDR gegen das System gerichteten und als revolutionär geltenden Stamokap-Theorie über den „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“, Kurzform „STAMOKAP“, auseinanderzusetzen.
Die reaktionären Gegner der etablierten und saturierten Mitte und ihrer rechten Schützlinge, die es ja nicht erst seit der so genannten Flüchtlingskrise 2015 gibt, sondern schon in der Weimarer Republik und — ohne eine wirkliche Zäsur — nach 1945 wieder gab, waren — ideologisch — unmittelbar nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht im Mai 1945 schon wieder handlungsfähig. Sie waren auch 1968 und danach in ihrem Kampf gegen Sozialdemokratie, Sozialismus und Kommunismus nicht wirklich zerstritten und zersplittert. Diese Leute wurden von der 68er Bewegung auch nicht überrascht, war doch vorher schon die „Notstandsgesetzgebung“ auf den Weg gebracht worden, um — angesichts der Alliierten Vorbehaltsrechte der Sieger über Nazideutschland — endlich wieder die Kontrolle über die innere Sicherheit, das hieß über Linke, selbst in die Hände zu bekommen.
Reaktionäre waren also schon lange vor 1968, schon unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder aktiv. Größeren Einfluss gewannen sie, als 1961 der Bau der Berliner Mauer die endgültige Teilung Deutschlands zu besiegeln schien. Ihr Einfluss wuchs weiter, als nach dem so genannten Wirtschaftswunder im Jahr 1966 erstmals eine Million Arbeitslose gezählt wurden und die CDU/CSU den angeblichen Vater des Wirtschaftswunders fallen ließ: Ludwig Erhard, der als Adenauers Nachfolger Kanzler geworden war.
Es kam zur Bildung der ersten und einzigen Großen Koalition der alten BRD, die die berüchtigten Notstandsgesetze verabschiedeten und damit die Außerparlamentarische Opposition, APO, sehr stark werden ließ. Sie war mehr als die Studentenbewegung. Die APO richtete sich vor allem gegen den zum Kanzler gewählten Altnazi Kurt Georg Kiesinger, nicht wirklich gegen seinen Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt, der — was allgemein bekannt war und von Rechten gegen ihn ins Feld geführt wurde — als Emigrant gegen die Nazis gekämpft hatte.
Als Brandt trotzdem 1969 Kanzler wurde, weil die FDP seine neue Ostpolitik im Interesse der Wirtschaft unterstützen wollte, trat die reaktionäre Rechte sofort wieder straff organisiert und vereinigt gegen die sozialliberale Koalition auf. Es formierten sich schnell mächtige, reiche und einflussreiche Gegenkräfte, die teilweise sogar freimütig zugaben, dass die von Sozialdemokraten, Gewerkschaften und zum Teil auch von Liberalen geforderten Schul- und Bildungsreformen notwendig seien. Integrierte Gesamtschulen und linke Rahmenrichtlinien, hätten sich jedoch — so die infame demagogische Unterstellung — pädagogisch und politisch das freiheitsfeindliche Ziel kommunistischer Gleichmacherei gesetzt.
Es waren rechte Kader der christlich-konservativen Parteien sowie die hinter diesen stehenden politischen, wirtschaftlichen, antisozialistischen Vereinigungen, Interessenverbände und Kirchenoberen, die natürlich auch massiv gegen die sozialdemokratischen Vorstellungen einer als demokratisch apostrophierten Schulreform bundesweit mobil machten. Mainstream-Medien und konservative Wissenschaftler verhalfen extrem reformfeindlichen Meinungen zur nachhaltigen Massenwirksamkeit. Die geplante, von Brandts Forderung, „mehr Demokratie zu wagen“, angestoßene demokratische Bildungsreform in sozialdemokratisch regierten Ländern wurde am Ende zu einer technokratischen.
Der Anteil des konservativen „Establishments“ am Scheitern der fortschrittlichen Pläne beziehungsweise ihrer technokratischen Verfälschung im wohlverstandenen Interesse effektiverer Bewältigung von Wirtschaftsproblemen war weit größer als der Anteil der so genannten K-Gruppen — auch wenn Storn hierauf aus schon genannten Gründen nicht näher eingeht. Diese manövrierten sich meist selbst höchst wirksam ins politische Abseits, so dass die staatliche Bekämpfung sich erübrigte und ganz auf die — das Gewaltmonopol des Staates infrage stellende — RAF [die Storn ebenfalls ausblendet] und die neu gegründete DKP konzentrieren konnte.
Politische Bildung an Schulen war immer ein hart umkämpftes Thema. Sie ist es noch und wird es bleiben. Vor allem in Zeiten, in denen Wahlkämpfe zu Richtungskämpfen werden. Derzeit fordert die Partei, die sich den frustrierten „Wutbürgern“ als „Alternative für Deutschland“ anbiedert, von Lehrern politische Neutralität. Sie meint, dass jene Lehrkräfte an den Pranger gehören, die die AfD und ihre Politik vor Schulklassen — im politischen Unterricht oder in der Öffentlichkeit — in Frage stellen. Die AfD, das hat ihr Vorsitzender Meuthen vor einer tobenden Meute seiner Anhänger zum Programm deklariert, will „weg vom links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland“.
Das ist das alte CDU-Programm der von den 68ern so genannten „Stahlhelm-Fraktion“, zu der damals Franz-Joseph Strauß, Alfred Dregger, Manfred Kanther und Walter Wallmann gehörten. Wallmanns Adlatus und Redenschreiber war in dieser Zeit ein Unbekannter namens Alexander Gauland. Die Stahlhelmfraktion verstand sich als Alternative für Deutschland, die die Gemäßigten in der CDU und jene Parteien vor sich hertrieb, die jetzt von der AfD denunziatorisch als Altparteien charakterisiert werden. Damals mündete das Anprangern vor allem politisch linker Meinungen der noch sehr jungen 68er ein in die berüchtigte „Berufsverbotspolitik“. Sie basierte auf dem Runderlass der Ministerpräsidenten und aller Landesminister der alten BRD zur Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst vom 18. Februar 1972.
Der Radikalenerlass wurde vor dem Hintergrund der Studentenrevolte gefasst, vor allem wegen der heiß umkämpften Zulassung der DKP als kommunistische Partei. Eine Entscheidung, die der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel in der DDR eine höhere Glaubwürdigkeit verschaffen sollte. Die Berufsverbote wurden von den Bundesländern auf der Grundlage des „Radikalenerlasses“ eingeleitet, haben viele Opfer gekostet und tiefe Eindrücke hinterlassen, die in der AfD — wie andere Ressentiments der Zeit des Kalten Krieges — nun aber nicht als Klassenfrage, sondern als Rassenfrage, wieder auftauchen.
Nachdem die gewohnten Mehrheiten und Pfründe der „Volksparteien“ an die neu formatierten „Rechtspopulisten“ und Neofaschisten verloren zu gehen drohen, wird plötzlich mehr Geld für schönere Schulen und mehr Lehrer locker gemacht. Was am Ende alte und neue Lehrkräfte in den sanierten Gebäuden im politischen Unterricht lehren werden, scheint nur die nach neuen politischen Mehrheiten strebenden Rechten zu interessieren. Ich warte, bisher vergeblich, auf den überall hörbaren pädagogischen Paukenschlag der Linken, der mehr fordert als saubere Schultoiletten und eine ausreichende Zahl von Lehrkräften.
Fazit
Herbert Storn hat mit seinem Buch einen mutigen Versuch unternommen, neue Inhalte und Lernziele für den politischen Unterricht vorzuschlagen, Inhalte und Ziele, die das demokratische Wissen und Bewusstsein von Schülerinnen und Schülern durch eine radikale ökonomische Aufklärung stärken würden. Es ist ein Buch, das nicht nur ermutigt, das nicht nur kluge Argumente liefert, sondern auch Lehrkräften reichlich Material und Unterrichtshilfen bietet.
Herbert Storn: Mit Demokratie ernst machen – Für eine radikale ökonomische Aufklärung - Überlegungen zum politischen Unterricht. Büchner-Verlag Wissenschaft und Kultur, Marburg 2018, 202 Seiten, 22,- Euro