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Aufklärung als Possenspiel

Aufklärung als Possenspiel

Die „Aufklärung“ des NSU-VS-Komplexes steigert sich ins Absurde: Eine gespenstische Reise an den Tatort in Kassel.

Die „Aufklärung“ des NSU-VS-Komplexes steigert sich zum Possenspiel

Teil I
Wer sich mit dem NSU-VS-Komplex beschäftigt, mit seiner fortgesetzten Nichtaufklärung, der mag die 88. Szene in diesem Possenspiel eigentlich nicht mehr anschauen, nicht mehr kommentieren. Wenn da nicht doch noch Wut hochkäme.
Dieser Tage, zu Ferienzeiten, ist durchgesickert, was eigentlich die höchste Geheimstufe genießt.
Es gibt einen „internen“ Untersuchungsbericht des Landesamtes für Verfassungsschutzes (LfV) in Hessen – über seine „Erkenntnisse“ in Bezug auf den Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006.
Gegenüber dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA in Hessen wurde dieser „interne Untersuchungsbericht“ noch verheimlicht. Alleine das ist eigentlich ein Skandal, denn die Behinderung der parlamentarischen Aufklärung ist eigentlich eine Straftat, erst recht, wenn sie von Amts wegen begangen wird.
Nun ist es doch herausgekommen. Dieser Bericht ist 250 Seiten dick. Man könnte meinen, es handelt sich hier beim Bekanntwerden des Berichts - wie immer - um eine Panne oder ein ganz persönliches Versagen. Aber nein, denn selbst die, die ihn – geschwärzt - einsehen konnten, waren und sind zum Stillschweigen verpflichtet.
Schweigend kann man jedoch eine Aufklärung schlechterdings betreiben.

Nun wird dieses Schweigekartell durch eine weitere Mauer geschützt. Sie soll bis zum Jahr 2134 jeden „Eindringling“ abhalten, zu erfahren, was in diesem internen VS-Bericht steht.
Der hessische Verfassungssschutz hat beantragt, dass dieser Bericht für 120 Jahren weggeschlossen wird – eine Art Sicherungsgewahrsam für Behördenakten.
Man könnte Monty Python oder sonst eine Komödie bemühen, wenn man dies liest: 2134! So früh schon! Was, wenn es 2134 noch Gerichte gibt, so etwas wie eine unabhängige Justiz?
Sie werden schmunzeln und dagegen halten, dass dann alles verjährt sei. Stimmt … fast. Denn Mord, aber auch Beihilfe zu Mord verjährt nicht.

Kein Versehen also, keine Farce, sondern völlig „legales“ und nachvollziehbares Vorgehen des hessischen Geheimdienstes.
„Normal“ für solche Sperrfristen sind 25 oder 30 Jahre. Aber was ist schon normal – gerade in Hessen. Warum nicht für 888 Jahre wegsperren? Brauner Spass beiseite.

Man könnte meinen, dieser politische Amoklauf würde das Fass zum Überlaufen bringen? Man könnte meinen, der Geheimdienst habe jetzt ein Eigentor geschossen?
Schließlich sollte sich jeder halbwegs wache Mensch die Fragen stellen: Wenn auch in Hessen alles mit rechten Dingen zugegangen ist, bei der Aufklärung des Mordes in Kassel 2006, dann könnte man das doch genau in diesem „internen Bericht“ nachlesen? Wenn der beim Mord anwesende Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme nur „ein Mann am falschen Ort zur falschen Zeit“ war (welch eine Verschwörung der Zufälle), dann würde der geheim gehaltene Bericht doch genau dies untermauern?

Man muss keine Sterndeutung betreiben, um davon auszugehen, dass genau dies nicht der Fall ist. Jetzt werden einige Kundige in Sachen Geheimdienste einwenden: Der Geheimdienst wird doch nicht ernsthaft gegen sich selbst ermittelt haben? Und wenn etwas Belastendes dabei herausgekommen wäre, dann wird man das doch nicht in den internen Bericht schreiben?
Das Mißtrauen ist berechtigt, aber die „Kasseler Problematik“ ist verzwickt, also so – wie gerade beschrieben – nicht zu lösen.
Denn, und das hört sich wirklich sonderbar an: Die ermittelnde Polizei hat ihre Ermittlungstätigkeiten im Mordfall Halit Yozgat sehr ernst genommen und war dabei überaus erfolgreich – bis übergeordnete Instanzen die Aufklärung massiv behindert und verhindert haben.
Es existieren also zahlreiche Beweismittel, die die offizielle Version nicht decken, die genau diese zur unwahrscheinlichsten machen!
Diesem Glücksfall ist es zu verdanken, dass man gerade im Mordfall in Kassel anhand der Beweismittel, die die polizeilichen Ermittler zusammengetragen haben, den Verdacht der Falschaussagen, der Nichtverfolgung von relevanten Spuren und die Komplizenschaft der Behörden bei der Sabotage der Aufklärung sehr genau beweisen kann.
Es sind Beweismittel, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Was ansonsten oft nur berechtigte Annahmen sind, gründet in diesem Fall auf Beweismitteln, die im Prozess in München „unter den Tisch“ fallen müssen.

Legen wir also die (nicht berücksichtigten) Beweismittel nebeneinander.

Laut Anklagevertretung im NSU-Prozess in München ist der Mord am Internetbesitzer Halit Yozgat in Kassel 2006 durch die beiden NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verübt worden. Obwohl es keine einzige Spur am Tatort gibt, die zu den beiden NSU-Mitgliedern führt, ist sich die Anklagevertretung bis heute ganz sicher, dass man auch mit wenig bis keinen Beweisen einen Mord „aufklären“ kann.

Plakat zum Gedenken an Halit Yozgat

Wie an vielen anderen Tatorten auch, die dem NSU zugeschrieben werden, ist das Chaos groß, die Verwirrung noch größer, ob all der Widersprüche und Wendungen – im Laufe der politischen und juristischen Aufklärung.
Am Beispiel Kassel kann man eindrucksvoll belegen, dass es sich wirklich lohnt, geduldig zu sein, die Geduld nicht zu verlieren, die Puzzle zu sammeln wie Glassscherben, um in aller Ruhe zu versuchen, sie zusammenzusetzen.
Nirgendwo – im gesamten NSU-Komplex – kommen sich “Verschwörungstheorie” und die Praxis derer, die von “Kasseler Problematik” fabulieren, so nahe.

Das Gewährenlassen des NSU hat der Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Familie des NSU-Opfers Halit Yozgat vertritt, knapp und richtig als "vom Verfassungsschutz betreute Morde" (Hart aber fair-Sendung vom 5.3.2016) bezeichnet.

Der Mord in Kassel weist zwei Besonderheiten auf: Zur Tatzeit war der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme am Tatort in einem Internetcafé – angeblich ganz privat. Ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der den Spitznamen ‚Klein-Adolf’ trug, als V-Mann-Führer einen ortsbekannten Neonazi „coachte“, mit dem er am Mordtag in telefonischem Kontakt stand.
Und es gibt eine weitere Besonderheit: Nach dem Mord an dem Besitzer des Internetcafés Halit Yozgat bricht die rassistische Mordserie ab. Aus der Logik der Täter ist dies nicht zu erklären. Es können nur andere Umstände sein, die dafür ausschlaggebend waren: die „Kasseler Problematik“, vor der Temmes Vorgesetzte gewarnt hatte und in der er „ein bisschen drinstreckt“?
In Kassel ereignete sich am 6. April 2006 der neunte Mord, der dem Nationalsozialistischen Untergrund/NSU zugeordnet wird. Dieses Mal wurde das Opfer, der Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat, kaltblütig ermordet. Wie bei den vorangegangenen Morden wurde ‚zufällig’ auch dieser ins ausländische Milieu verschoben. Wieder aus Zufall wurde „nie Richtung Rechtsextremismus ermittelt“. (FR vom 24.11.2011). Ebenso ‚zufällig’ wurden Täter im familiären und beruflichen Umfeld des Ermordeten gesucht.
Das Internetcafé ist am 6. April 2006 durchschnittlich besucht, als eine Person das Geschäft gegen 17 Uhr betritt, an die Theke tritt, eine Pistole mit Schalldämpfer zieht und kurz darauf Halit Yozgat mit zwei Schüssen in den Kopf so schwer verletzt, dass dieser noch am Tatort stirbt. Patronen werden am Tatort nicht gefunden, da eine über die Tatwaffe gestülpte Plastiktüte den Auswurf der Patronen verhindert hat.
Die Mordkommission sichert kurze Zeit später den Tatort. Man hält die Personalien der noch anwesenden Internetbesucher fest, sichert die Spuren, die Internetbenutzerdaten.
Dem Aufruf der Polizei, sich als mögliche ZeugInnen des Mordes zu melden, folgen alle bis auf einen Besucher. Die Polizei kann die Identität dieser Person feststellen: Es ist Andreas Temme mit dem dienstlichen Aliasname Alexander Thomsen, der sich im Internet als „Jörg Schneeberg“ ausgegeben hatte. Daraufhin setzen interne und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ein. Andreas Temme wird als Tatverdächtiger unzählige Male vernommen. Dabei zeigt sich seine Erinnerung äußerst biegsam: er änderte je nach (ihm zugänglich gemachtem) Ermittlungsstand seine Aussagen:

„Erst kannte er – in dem Glauben, die Anwesenheit sei ihm nicht nachweisbar – das Café angeblich nicht, dann war er zu einem anderen Zeitpunkt, am 5.4.2006, dort und schließlich will er von den maßgeblichen Vorgängen nichts mitbekommen haben.“ (Beweisantrag der Nebenkläger vom 12.11.2013)

Nachdem er nicht mehr leugnen konnte, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, erinnerte er sich wieder ganz genau: Er habe dort als Privatperson in einem Erotik-Portal gesurft. Mit diesen Aussagen macht sich die Mordkommission an die Arbeit. Sie bringt in Erfahrung, dass Andreas Temme neben behaupteter ‚Chat-Affäre’ zur selben Zeit im operativen Einsatz war. Auf seinem Handy werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu einem Neonazi hatte. Damit konfrontiert, erklärt Temme, dass er V-Mann-Führer dieses Neonazis sei. Um aufzuklären, welche Rolle seine Anwesenheit am Tatort und die Telefonate mit einem Neonazi spielen, beantragt die Polizei u.a. eine Aussagegenehmigung für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi. Diese Amtshilfe wird zuerst vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes, wenig später vom hessischen Innenminister Volker Bouffier (CDU) abgelehnt:

„Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen … zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.“ (Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios, ZDF-Sendung vom 26.6.2012).

Auch weigerte sich der Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) in einer Innenausschusssitzung vom 17. Juli 2006, zum Stand der Ermittlungen Stellung zu nehmen.
In der Folge wurde die ermittelnde Polizei mit unvollständigen, also manipulierten Aktenbeständen versorgt. Die Akten zum Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner waren geschwärzt. Klarakten bekamen die Ermittler nie zu Gesicht.
Außerdem behauptet der hessische Verfassungsschutz allen Ernstes, dass es von V-Mann-Führer Temme angefertigte Treffberichte mit Benjamin Gärtner gäbe, nur keine für das Jahr 2006. Und das, obwohl Temme selbst bestätigt, dass er den Neonazi ein bis zwei Mal im Monat getroffen habe, was dem V-Mann Benjamin Gärtner die Note B einbrachte, die zweithöchste Bewertung für Quellenglaubwürdigkeit.
Dermaßen mit Verschleierungen der Umstände konfrontiert, liefen alle Bemühungen um Aufklärung ins Leere. Beschützt, gedeckt und abgeschirmt, wurden die Ermittlungen gegen den V-Mann-Führer Temme im Januar 2007 eingestellt. Eine Meisterleistung in Sachen Behinderung der Aufklärung und des Verschwindenlassens von taterheblichen Beweismitteln.
Was haben den Chef des hessischen Verfassungsschutzes und den damaligen Innenminister Volker Bouffier als obersten Dienstherrn, dazu bewogen, dem ‚Schutz’ des Geheimdienstes einen höheren Rang einzuräumen als der Aufklärung eines Mordes?
Über vier Jahre lang hielten alle an dem Mordfall beteiligten Behörden dicht - von dem ansonsten so viel beschworenen Behördenwirrwarr keine Spur.

Das änderte sich erst, als Beate Zschäpe als Folge der tödlichen Ereignisse am 4. November 2011 – mit der Versendung der Video-Kassetten – dafür sorgte, dass die Existenz des NSU nicht mehr geleugnet werden konnte.
Seitdem wissen wir noch lange nicht alles, aber genug, um die Behinderung, um die Verhinderung der Aufklärung dieses neonazistischen Mordes im Detail belegen zu können. Fast nichts stimmte, was damals als offizielle Version bekannt gemacht wurde.
Dabei ist ein Beweismittel von erheblicher Bedeutung, das nun in Auszügen vorliegt: Die Polizei hatte den Verfassungsschutz abgehört – eine Maßnahme, die durchaus Sinn machte und sehr viel Aufschlussreiches ans Licht brachte, gerade auch, was das berufliche Umfeld von Andreas Temme anbelangt. Über Wochen wurden die von ihm genutzten Telefonanschlüsse überwacht und protokolliert. Es waren über 200 Telefonate.

Andreas Temme – ein verbeamteter Neonazi mit der Aufgabe, Neonazismus zu bekämpfen

Andreas Temme war – dem Wortsinn nach – kein Verfassungsschützer, sondern ein verbeamteter Verfassungsfeind. In seiner Jugend gab man ihm den Namen „Kleiner Adolf“, dem er auch als V-Mann-Führer von Neonazis gerecht wurde. In seiner Wohnung fand man Auszüge aus Hitlers Mein Kampf und weitere neonazistische Propaganda.
„In T’s Büro fanden sich Bücher wie ‚Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung der SS’, ein Lehrplan des SS-Hauptamts oder ‚Judas Schuldbuch’.“ (stuttgarter-nachrichten.de vom 3.12.2013)
Zudem wurden „Waffen, Drogen, umfangreiche Nazi-Veröffentlichungen, ein Buch über Serienmorde sowie geheime Verfassungsschutzunterlagen gefunden“. (Welt am Sonntag vom 17.5.2015).
Das ist nicht alles. Auch die Wohnung seiner Eltern wurde durchsucht:

"In der Dachgeschosswohnung hatte der Beamte bis zu seiner Heirat im Jahr zuvor gewohnt. Dort findet die Polizei in einem Tresor und in dem Hohlraum einer Dachschräge diverse Waffen: einen Revolver der Marke Smith & Wesson, eine Pistole von Heckler & Koch, eine Beretta, ein Gewehr und eine Gaspistole. Dazu 240 Schuss Munition und einen Waffenschein. Temme ist Sportschütze." (stern.de vom 6.4.2016)

Und was das hessische Innenministerium über fünf Jahre erfolgreich zu schützen versuchte, ist mittlerweile auch bekannt: Andreas Temme hat am Tattag nicht mit irgendjemandem telefoniert, sondern mit dem Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner, einmal um 13:06 Uhr und ein weiteres Mal um 16:10 Uhr, eine Stunde vor der Mordtat. Benjamin Gärtner wurde als Gewährsperson GP 389, also als Spitzel geführt.
Dieser hatte sehr gute Kontakte zur Neonaziszene in Kassel. Zu dieser gehörte auch sein Stiefbruder Christian Wenzl, der eine führende Rolle in der ‚Kameradschaft Kassel’ (ehemals ‚Nationalistische Front’) spielte.
Wenn man weiß, dass bei allen neun NSU-Morden Neonazis aus der betreffenden Region, aus der betreffenden Stadt mit dem Ausspähen von Örtlichkeiten und Opfern eingebunden waren, dann versteht man, was das hessische Innenministerium um jeden Preis verhindern wollte: Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, dass ein vom Verfassungsschutz geführter Neonazi am Mord des Internetcafébesitzers beteiligt war, Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, ob der V-Mann Führer Andreas Temme über seine „Quelle“ von den Mordvorbereitungen gewusst haben könnte.
All dies erklärt jedenfalls viel schlüssiger, dass nicht die angebliche oder auch inszenierte Chat-Affäre der Grund war, seine Anwesenheit zur Mordzeit zu verheimlichen, sondern die mögliche Verwicklung in diesen neonazistischen Mord. Bekanntlich reichen für den Vorwurf der Beihilfe zu Mord auch „unsichtbare Tatbeiträge“, wie das Gewährenlassen einer Tat, das Führen und Decken von Mittätern.
Dass Andreas Temme genau weiß, wie er seine Anwesenheit bei einem Mord ›gestalten‹ muss, belegt ein weiteres Detail: Ein Internetbesucher, der nach dem Mord befragt wurde, erwähnte einen groß gewachsenen Mann, der eine Plastiktüte dabei hatte, als er das Internetcafé betrat und sich an den PC-Platz Nr.2 setzte. Der Platz, der einwandfrei Andreas Temme zugeordnet werden konnte. Der Zeuge beschreibt zudem, dass die Plastiktüte am Boden ausgebeult gewesen war, durch einen schweren »eckigen« Gegenstand. Bis heute bestreitet Temme, dass er eine Plastiktüte dabei hatte. Das ist umso bemerkenswerter, als seine Frau genau dies an ihrem Mann heftig kritisiert hatte. Auch diese Tatsache ist aufgrund der abgehörten Telefonate dokumentiert. Laut Telefonprotokoll hat sie ihrem Mann gesagt, „willst du nicht mal auf mich hören? Ich sage noch, ne, nimm keine Plastiktüte mit!“ (tagesspiegel.de vom 8.6.2015)
Und als wäre all das nicht genug, jeden Geschehensablauf für wahrscheinlicher zu halten als den von Andreas Temme angegebenen, zertrümmert nun ein noch größerer Stein Temmes Erinnerungsgebäude. Ein Stein, über den weder die Polizei noch die Medien acht Jahre berichtet haben: Bereits 2006 hatte man in der Wohnung seiner Eltern Handschuhe bei Andreas Temme sichergestellt, die Schmauchspuren aufwiesen. Was in jedem Dorfkrimi als die heiße Spur ausgewertet wird, wurde hier professionell, als mit Vorsatz unterlassen: „Während die hessische Polizei die Spur als wichtig erachtete, wurde sie nach Rücksprache mit dem Bundeskriminalamt nicht weiterverfolgt. Das Argument lautete, Andreas T. sei Sportschütze, Schmauch an seiner Kleidung habe geringen Beweiswert.“ (freiepresse.de vom 6.6.2015)
Eine aberwitzige Begründung, die man als Strafvereitlung im Amt bezeichnen kann. Denn selbstverständlich kann man die Schmauchspuren an Temmes Handschuhen sehr genau den Waffen zuordnen, die er als Sportschütze benutzt hat. Würde man einen solchen Abgleich vornehmen, könnte man feststellen, ob die Schmauchspuren tatsächlich von der Waffe stammen, die er als Sportschütze benutzt hat.
Man mag es kaum glauben, aber genauso ist es passiert: Man verfolgte die wichtigste Spur in diesem Mordfall nicht!
Das geschah weder aus Ahnungslosigkeit noch aus Trotteligkeit, sondern aus einem ganz anderen, viel naheliegenderen Grund: Man wusste, wohin die Auswertung dieser Spur führen würde, zu Andreas Temme: Man
ließ außer Acht, dass besagte Schmauchspur eine unübliche chemische Zusammensetzung aufwies. Sie entsprach exakt der Treibladung der bei den Morden verwandten Munition eines tschechischen Herstellers. In T.'s Sportschützenverein gehörte diese Munition nach ›Freie Presse‹-Recherchen nicht zu den üblichen Munitionstypen.“ (ebd.)

Hinter dem ‚Zufall’ verbirgt sich nichts anderes als ein anderer, ein viel plausiblerer Geschehensablauf
Landauf, landab werden uns die besonderen Kasseler Umstände, also die Anwesenheit eines Verfassungsschutzmitarbeiters bei einem Mord, als Zufall beschrieben. Andreas Temme wird zur tragischen Figur stilisiert, mit dem Evergreen-Mantra vom ‚Mann am falschen Ort zur falschen Zeit’.
Wer etwas anderes für möglich hält, wird sofort mit der Krankheit ‚Verschwörungstheorie’ in Verbindung gebracht und in politische Quaratäne gesteckt. Daran beteiligte sich auch der „investigative“ Redakteur Hans Leyendecker, der für die Süddeutsche Zeitung schreibt. In der ARD-Sendung Bericht aus Berlin vom 14.4.2013 nach seiner Diagnose gefragt, antwortete er geradezu panisch:

„Das is ausermittelt. Das ist nun wirklich damals ausermittelt, das ist jetzt noch mal ausermittelt. Der saß da, das is auch ne Figur wie eigentlich aus 'nem Roman, hat früher Mein Kampf intensiv gelesen. Es passte scheinbar alles. Aber es ist ausermittelt, er hat mit dieser Tat, wenn Sie gucken, die Mörder kamen aus Dortmund, es wäre möglich gewesen, dass sie in Münster gemordet hätten, dass sie woanders, er hat mit dieser Tat nicht zu tun gehabt. (...) Was ausermittelt ist und das ist ausermittelt. Und dann kann ich nicht mit 'ner Verschwörungstheorie noch mal um die Ecke kommen.“

Wer sich mit polizeilichen Ermittlungstätigungen und -methoden beschäftigt, wird schnell erfahren, dass dort der Zufall - also die Lehre vom Unwahrscheinlichen - als Erkenntnismethode nicht vorkommt. Zu Recht. Denn polizeiliche Ermittlungsmethoden gehen vom Gegenteil aus: von der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufes. Denn weder die Polizei noch ein Staatsanwalt noch ein Richter kennen die Wahrheit. Sie könnten im besten Fall nur ein Geschehen rekonstruieren – mithilfe von Indizien, Zeugen und Spuren. Ausgangspunkt ist folglich nicht ein Geschehen, ein bestimmtes, sondern verschiedene Geschehensabläufe, die sich aus den Beweismitteln ergeben. Das bekommt – in der Theorie – den Namen: Ermittlungen in alle Richtungen. Am Ende dieses Ermittlungsprozesses bleibt ein Geschehensablauf, der aufgrund der vorhandenen Beweismittel in sich konsistent ist, am plausibelsten rekonstruiert werden kann.
Nimmt man alle uns vorliegenden Beweismittel im Fall Kassel zur Grundlage und handelt nach diesen polizeilichen Prämissen, dann kommt man zu einem recht eindeutigen Ergebnis:
Für den Geschehensablauf, den Polizei und Gericht für die Ereignisse in Kassel für plausibel halten, spricht so gut wie nichts: Einzig und allein die Tatwaffe (eine Česká 83), die im Brandschutt des Hauses gefunden wurde, in dem auch die NSU-Mitglieder wohnten, lässt eine Täterschaft des NSU infrage kommen. Mehr nicht.
Das ist ein schwacher, um nicht zu sagen hauchdünner Beweis. Denn damit ist weder geklärt noch bewiesen, dass die beiden NSU-Mitglieder auch die Täter waren – selbst wenn man davon ausgeht, dass sich die Waffe tatsächlich im Besitz der uns bekannten NSU-Mitglieder befand.
Gegen den Geheimdienstmitarbeiter Andreas Temme sprechen zahlreiche Indizien und Sachbeweise:

• Ein neonazistischer Hintergrund
• Ein Duz-Verhältnis zu einem Neonazi, der zum NSU-Netzwerk zählt
• Die Anwesenheit zur Tat- und Mordzeit
• Das Mitführen einer Plastiktüte, in der sich laut Zeugenberichten die Tatwaffe befunden haben könnte
• Das Auffinden von Handschuhen, an denen sich Schmauchspuren befinden, die identisch mit denen sind, die die Tatwaffe hinterlässt
• Die Verweigerung einer Zeugenschaft
• Zahlreiche Falschaussagen in Verbindung mit Absprachen von Falschaussagen
• Die Verhinderung der Aufklärung angeblicher ›privater‹ Umstände durch seine Vorgesetzten

Dass man den NSU gewähren ließ, hat Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Familie des NSU-Opfers Halit Yozgat vertritt, knapp und richtig als „vom Verfassungsschutz betreute Morde“ (Hart aber fair-Sendung vom 5.3.2016) bezeichnet.
Vergleicht man – ohne Ansehen der Person – die Indizien und Sachbeweise, die für eine Täterschaft der drei stets genannten NSU-Mitglieder und/oder für die (Mit-)Täterschaft von Andreas Temme sprechen, dann braucht man für dieses Ergebnis keine kriminalistische Ausbildung.
Geht man – gemäß der vorliegenden Beweismittel - von einer 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit einer Täterschaft der uns bekannten NSU-Mitglieder aus, so belasten die restlichen 80 Prozent den hessischen Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme wegen möglicher Mittäterschaft bzw. Beihilfe zu Mord. Fänden die polizeilichen Ermittlungsgrundsätze tatsächlich Anwendung, würde das Ermittlungsergebnis im Mordfall Kassel geradezu zwingend zu einer Anklage gegen Andreas Temme führen.
Dass dies bis heute nicht passiert ist, hat auch nichts mit Zufall zu tun.


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