Saisonaler Anstieg von Infektionen und Todesfällen im Herbst
Ein ähnliches Bild wie bei der Intensivbettenbelegung erhält man auch, wenn man sich die Entwicklung der Sterbefälle anschaut. Da auch andere Erkältungs- und Lungenkrankheiten zum Teil tödlich enden, steigt die Zahl der wöchentlichen Toten jedes Jahr ab Mitte September an, von durchschnittlich 16.000 auf 18.000 bis 19.000 Mitte Dezember (Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland des Statistischen Bundesamts). Ab dann treibt die Grippesaison die Zahlen noch weiter in die Höhe — bis zu Spitzenwerten von 23.640 Toten Ende Januar 2017 und 26.777 Toten in der ersten Märzwoche 2018.
Das Diagramm des Statistischen Bundesamts mit den Zeitreihen der wöchentlichen Zahlen in den Jahren 2016 bis 2020 zeigt den prinzipiellen Trend, mit dem tiefsten Stand im Sommer ausgenommen Hitzeperioden, sowie auch die starken Schwankungen von Woche zu Woche.
Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland. Verlauf der Jahre 2016 bis 2020 nach Kalenderwochen (KW) Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand 12.12.2020
Leichte Übersterblichkeit seit dem Sommer
In der folgenden Tabelle sind die wöchentlichen Fallzahlen für einige Kalenderwochen aufgelistet. Neben der Zahl der mit oder an Corona Gestorbenen enthält sie deren prozentualen Anteil an der Gesamtzahl von 2020, den Durchschnitt von 2016 bis 2019 und die Differenz zu 2020 in Prozent.
Quelle: Wöchentliche Sterbefallzahlen in Deutschland des Statistischen Bundesamts, Stand 12.12.2020
Wie aus der Grafik und der Tabelle ersichtlich ist, nahm auch dieses Jahr die Zahl der wöchentlichen Toten wie in den Vorjahren ab September zu, von 16.550 in Kalenderwoche 36 auf über 18.000 Ende Oktober. Die Covid-19-Fälle fielen dabei noch nicht ins Gewicht, sie reihten sich nun einfach ein. Die Zahlen der letzten Wochen sind zwar in diesem Jahr höher als in den letzten Jahren, allerdings sind sie dies schon seit der KW 36. In KW 38 lag die Anzahl 6,8 Prozent über dem Durchschnitt der Vorjahre. Da die Zahl der Covid-19-Todesfälle bis KW 40 noch unter 100 pro Woche blieb, liegen den höheren Fallzahlen offensichtlich noch andere Todesursachen zugrunde. So betrug die Zunahme zur Vorwoche in KW 45 in diesem Jahr 678, die der Covid-19-Fälle nur 388.
Eine Analyse der sogenannten Übersterblichkeit, die die Initiative Qualitätsmedizin (IQM) auf Basis der Daten des Statistischen Bundesamts (Destatis) von Ende November durchführte, zeigt, dass die Sterbefälle bis Ende Oktober 2020 nur unwesentlich vom Mittel der Jahre 2016 bis 2019 abwichen (1).
In Abb. 8 der Studie werden im linken Diagramm die monatlichen Zahlen von 2020 neben den Durchschnitt von 2016 bis 2019 gestellt. Die als „Exzess-Letalität“ bezeichnete Differenz ist im rechten Diagramm grau dargestellt, zusammen mit den monatlich gemeldeten Zahlen der Todesfälle mit Bezug auf Covid-19.
Während die Übersterblichkeit im April zum größten Teil auf Corona zurückzuführen ist, ist sie im August, September und Oktober augenscheinlich nicht oder nur zum geringen Teil durch das neue Virus zu erklären.
Destatis gibt als mögliche Ursache für die Übersterblichkeit im August die Hitzewelle an. Der Effekt, so die IQM-Studie, „könnte allerdings auch auf die verminderte Krankenhausversorgung“ durch die Verschiebung nicht dringlicher Operationen von März bis Juni zurückführbar sein. Dies könnte auch eine Ursache für die höhere Zahl von Sterbefällen im September und Oktober 2020 sein.
Das Statistische Bundesamt hat am 11. Dezember in einer Pressemitteilung für KW 46 eine Übersterblichkeit von rund 8 Prozent gemeldet (2). Rechnerisch liegt die Zahl der Sterbefälle in dieser Woche 7,5 Prozent über dem Durchschnitt der letzten Jahre und 5 Prozent über der von 2019. Im Vergleich mit den Spitzen im Sommer (über 20 Prozent) oder im Januar 2017 und März 2018 liegt sie bisher aber nur wenig über den jährlichen und wöchentlichen Schwankungen. 2017 lag sie in KW 5 um 22 Prozent über dem Durchschnitt der anderen Jahre, 2018 in KW 10 um 37 Prozent. Wenn in der aktuellen Infektionswelle die Übersterblichkeit weiter zunimmt, muss sie in diesem Kontext betrachtet werden. Zudem kann sie auch in Zukunft nicht einfach Corona zugerechnet werden. Mit der Dauer und Härte der Lockdown-Maßnahmen werden auch deren Opfer zunehmen.
Covid-19 statt Grippe oder Lungenentzündung
Dass die Gesamtzahl der Todesfälle nicht im selben Ausmaß wie die Zahl der Covid-19-Todesfälle steigt, war zu erwarten, da ein erheblicher Teil nicht an dem neuen Virus starb, sondern nur positiv auf dieses getestet wurde. Zudem scheint es die altbekannten Erreger in diesem Herbst oft einfach zu ersetzen. So folgt die wöchentliche Anzahl stationär behandelter Fälle mit schweren infektiösen Atemwegserkrankung (SARI) demselben Muster wie die Intensivbettenbelegung. Die Gesamtanzahl der SARI-Fälle im wöchentlichen Influenzabericht des Robert Koch-Instituts (RKI) bleibt gleich beziehungsweise sinkt sogar leicht, während der Anteil mit einem positiven PCR-Testergebnis auf SARS-CoV-2 stark ansteigt.
Das gleiche Bild zeigt sich auch außerhalb der Kliniken. Den Influenza-Wochenberichten zufolge ist die Zahl der Atemwegserkrankungen in den letzten Wochen, trotz steigender Corona-Fallzahlen, nicht gestiegen (3). Dies kann teilweise daran liegen, dass die Maßnahmen gegen Corona eventuell auch vor anderen Erreger schützen. Da auch deren Verbreitung dadurch sicherlich nicht völlig unterbunden wird, kann ein solcher Effekt allein aber eine hohe Infektionsrate mit Covid-19 nicht vollständig kompensieren.
So nehmen im Herbst auch die sogenannten ambulanten Lungenentzündungen zu. Ausgelöst durch Bakterien und Viren erkranken daran jedes Jahr durchschnittlich 750.000 Menschen. 291.000 von ihnen mussten 2016 deswegen ins Krankenhaus, 13 Prozent dieser Patienten — mehr als 30.000 ‒ starben (4). Auch die für die meisten Menschen harmlosen Erkältungsviren sind bei älteren Menschen mit schweren Vorerkrankungen häufig tödlich. Eine 2017 durchgeführte Studie ergab, dass Rhinoviren bei gebrechlichen älteren Menschen sogar tödlicher sind als die normale Grippe (5).
Nicht nur der Tod durch das neue Coronavirus kann durch geeignete Maßnahmen verhindert werden. Auch andere Todesfälle sind nicht durchweg Schicksal.
Viele in der wöchentlichen Statistik wären wohl vermeidbar gewesen, wenn zum Beispiel entschiedener gegen Luft- und Umweltverschmutzung vorgegangen würde oder andere gefährliche Krankheiten nur annähernd die Aufmerksamkeit erhielten wie Covid-19. So sind die ambulanten Lungenentzündungen in Westeuropa unter allen Infektionskrankheiten die häufigste Todesursache. Würde man auf deren Erreger ebenfalls millionenfach testen, könnte man auch hier jeden Herbst dramatische Zuwächse sehen.
Britische Statistikbehörde: Keine zweite Welle ersichtlich
Eine saisonale Entwicklung der Sterblichkeit wie in Deutschland gibt es analog auch in anderen Ländern. In Großbritannien beispielsweise steigt die Zahl der Todesfälle ebenfalls ab Oktober stark an (6). Die Britische Nationale Statistikbehörde (Office of National Statistics, ONS) sieht daher trotz höherer Infektionsraten keine Anzeichen für eine zweite Welle; ihre Daten würden ein normales Sterblichkeitsniveau für die Jahreszeit zeigen. Die Zahl der Todesfälle liege nur 1,5 Prozent über dem Fünfjahresdurchschnitt und bewege sich auf einer für die Jahreszeit normalen Verlaufskurve.
Obwohl die Zahl der Covid-19-Todesfälle in der Woche bis zum 9. Oktober auf 438 angestiegen sei, habe die Gesamtzahl der Todesfälle nur 143 über dem Fünfjahresdurchschnitt gelegen. In der Regel gebe es in dieser Woche etwa 1.600 Todesfälle durch Grippe und Lungenentzündung, in diesem Jahr liege diese Zahl plus Covid-19-Fälle bei 1.621. Vermutlich würden Menschen, die in anderen Jahren an Grippe oder Lungenentzündung gestorben wären, nun an Covid-19 sterben (7).
Es ist anzunehmen, dass es hierzulande nicht anders ist. Hinzu kommt, dass aufgrund der Vorgaben der Europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC auch Tote als Covid-19-Fall gezählt werden, die an anderen Krankheiten gestorben sind, sofern sie zuvor positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden waren.
Jährliche Engpässe bei Intensivbetten
Auch wenn die Gesamtzahl der belegten Intensivbetten nicht steigt, gibt es häufig regionale Engpässe. Dies ist aber in der kälteren Jahreszeit nicht ungewöhnlich. Jahr für Jahr kommt es hier zu Engpässen. So berichtete der NDR im Dezember 2018 (8) und erneut im Februar 2020 (9), dass in norddeutschen Regionen sich zeitweise 25 bis 40 Prozent der Kliniken im Herbst und Winter bei den Rettungsleitstellen als komplett belegt abmeldeten, in erster Linie wegen fehlenden Personals.
Während der besonders heftigen Grippewelle 2017/2018 waren die Kliniken mit rund 60.000 Hospitalisierten völlig an den Rand ihrer Kapazität geraten und mussten viele Intensivstationen einen Aufnahmestopp verhängen. Der Mehrheit der Kliniken fehlte im Intensivbereich auch damals vor allem Personal, da bundesweit 3.150 Pflegestellen unbesetzt waren (10). Die Situation hat sich seither nicht verbessert.
Besonders dramatisch wird die Situation immer in Kinderkliniken. Hier herrscht ein besonders eklatanter Mangel, da aufgrund des höheren Aufwands bei der Betreuung von Kindern die Kosten nicht von den Fallpauschalen abgedeckt werden (11).
Obwohl die Politik den Anschein erweckt, ihr Fokus liege seit dem Frühjahr völlig auf der Bewältigung der Coronapandemie, und obwohl ein Anstieg von Infektionen im Herbst absehbar war, wurde auch in diesem Jahr kaum etwas in Bezug auf den Ausbau der Krankenhauskapazitäten getan. Corona wird nun stattdessen von den Verantwortlichen auch dazu genutzt, von diesem Versäumnis und der allgemeinen Krankenhausmisere abzulenken.
„Kollateralschäden“ und der fehlende Blick auf die Verhältnismäßigkeit
Die Wahrscheinlichkeit, dass es gelingt, die „7-Tage-Inzidenz“ im Herbst und Winter wieder unter 50 zu drücken, ist sehr gering. Vermutlich wird sie sich unabhängig von mehr oder weniger strengen Maßnahmen auf ein durch die kalte Jahreszeit bedingtes Niveau einpendeln. Es ist möglich, dass dadurch auch die Zahl der Toten stärker als in den Vorjahren steigt.
Wenn nun aber die politisch Verantwortlichen dieselbe Medizin, die in den letzten Wochen nicht half, aber schwere Nebenwirkungen hatte, weiter verabreichen und sogar in höherer Dosis, so muss der verängstigten Öffentlichkeit stärker ins Bewusstsein gebracht werden, dass auch Lockdown-Maßnahmen und Panikmache Todesopfer fordern.
Einige Todesfälle, zum Beispiel durch Suizid oder verschleppte Behandlungen gefährlicher Erkrankungen, können schon zeitnah auftreten, andere — etwa bedingt durch Alkoholismus oder Drogensucht — erst in Jahren. Die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) zum Beispiel verzeichnete im ersten Halbjahr 2020 eine Zunahme von psychischen Erkrankungen um gut 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (12).
Die Anticoronaverordnungen vergrößern, wie die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie darlegte, die soziale Ungleichheit in Deutschland und lassen vor allem diejenigen weiter verarmen, die bisher schon kaum genug zum Leben hatten (13). Mit steigender Armut sinkt jedoch auch die Lebenserwartung drastisch (mehr dazu im Kapitel Soziale Folgen ‒ die vernachlässigte Seite der Gleichung, in Lockdown gegen Corona: unverhältnismäßig und verantwortungslos).
Erste Schätzungen der Coronamaßnahmen-Opfer
Das Gros der Todesopfer und verlorenen Lebensjahre infolge der Anticoronamaßnahmen wird man in offiziellen Statistiken über Todesursachen nicht identifizieren können. Dazu wären gezielte Studien nötig.
Eine von Medizinern des Klinikums Hochrhein in Waldshut-Tiengen durchgeführte Untersuchung kann eine Vorstellung der Größenordnungen vermitteln. Sie haben die Todesfälle in ihrem Landkreis während des Lockdowns mit den Zahlen der Jahre 2016 bis 2019 verglichen. Demnach starben im diesjährigen April 227 Menschen und damit 62 mehr als durchschnittlich im selben Monat in den Jahren zuvor. Diese Zunahme um 37 Prozent bedeutet eine deutliche Übersterblichkeit in diesem Jahr (14).
Von den 62 Toten waren aber nur 34 positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden, 28 Personen, also 45 Prozent, starben ohne einen Bezug zum Virus. Als hauptsächliche Ursachen vermuten die Studienautoren, dass viele Menschen mit einer schweren Erkrankung aus Angst vor dem Virus nicht oder verspätet einen Arzt oder ein Krankenhaus aufgesucht haben. Diese Menschen wären dann zu einem guten Teil Opfer der gängigen Berichterstattung durch Politik, tonangebende Wissenschaftler und Medien. Statt die vom neuen Virus ausgehende Gefahr realistisch darzulegen und den Ernst der Lage verdeutlichen, ohne zu übertreiben, wurde und wird Hysterie und Panik geschürt (Coronakrise: Kommunikationsstrategien und eine unterdrückte Debatte).
Ein offizieller britischer Regierungsbericht vom Juli des Jahres 2020 schätzt die Zahl der Todesopfer in Großbritannien infolge des ersten Lockdowns im Frühjahr auf 200.000, die meisten aufgrund verschobener und verspäteter Behandlungen (Lockdown may cost 200,000 lives, government report shows, The Telegraph, 19. Juli 2020). Vier US-Wissenschaftler, die auch die Folgen von Verarmung berücksichtigten, schätzten, dass der Lockdown für die USA bereits zu einem Verlust von mehreren Millionen Lebensjahren führen wird (Scott W. Atlas, John R. Birge, Ralph L Keeney and Alexander Lipton, The COVID-19 shutdown will cost Americans millions of years of life, The Hill, 25. Mai 2020).
Fazit
Für Personen, die an ihm erkranken, kann das neue Virus selbstverständlich sehr gefährlich sein ‒ abhängig vom Alter und von Vorerkrankungen. Es kann bei ungebremster Ausbreitung auch eine Bedrohung für die Gesamtbevölkerung bedeuten. Diese erscheint aber bei Betrachtung der Entwicklung der Intensivbettenbelegung, der Sterblichkeit und des sonstigen Infektionsgeschehens unter saisonalen Gesichtspunkten geringer, als sie von den politischen Verantwortlichen und auch den meisten Medien dargestellt wird.
Eine Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen, die zu vermeiden ja offiziell als das hauptsächliche Ziel der Anticoronamaßnahmen gilt, ist nicht in Sicht.
Die Krankenhäuser seien im Frühjahr „weit davon weg“ gewesen, „nicht genug freie Intensivkapazitäten zu haben“, sagte der Chef der Helios-Kliniken, Francesco De Meo, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). „Unsere Krankenhäuser können ganz erheblich mehr an Covid-19 verkraften, als wir im März angenommen haben.“ Aus den Meldedaten der Gesundheitsämter könnten sie eine Woche im Voraus gut erkennen, wie viele schwere Covid-19-Fälle auf das Gesundheitssystem zukommen. „Diese Woche reicht uns, um das Krankenhausgeschehen komplett umzustellen“ (15).
Es wird daher Zeit, statt in erster Linie auf restriktive Eindämmungsmaßnahmen zu setzen, endlich die Empfehlungen von Experten aufzugreifen, die ein gezielteres Vorgehen vorschlagen. Bisher wurden die Vorschläge von Ärztevertretern und Praktikern des Gesundheitswesens, wie etwa die Leiter von Gesundheitsämtern, ebenso weitgehend ignoriert wie die von zahlreichen renommierten Wissenschaftlern. Diese sind sich darin einig, dass wir mit dem Virus leben müssen, Lockdowns nicht zielführend sind und stattdessen vor allem der Schutz von Risikogruppen Priorität haben muss.
Eine Expertengruppe um Professor Matthias Schrappe und Professor Gerd Glaeske hat beispielsweise seit April mehrere sorgfältig ausgearbeitete „Thesenpapiere“ vorgelegt (16). Zu ihren neun Autoren zählen ehemalige Mitglieder des Sachverständigenrats Gesundheit der Bundesregierung, Medizinprofessoren, Fachleute der Krankenkassen und der Hamburger Rechtsmediziner Professor Klaus Püschel.
Im aktuellsten Thesenpapier erläutern sie unter anderem, dass vom Teil-Lockdown kaum eine signifikante Wirkung zu erwarten und ein Grenzwert von „50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner“ völlig außer Reichweite sei. Vor allem vor dem Hintergrund, dass viele Menschen asymptomatische Krankheitsverläufe hätten und unwissend andere ansteckten, sei die Epidemie durch lineare Konzepte nicht zu erfassen. Die bisherige Strategie wäre daher völlig ungeeignet und gefährde sogar die Risikogruppen. Außerdem würden positive Nachrichten kaum kommuniziert, sondern weiterhin Horrorszenarien die öffentliche Kommunikation überschatten. Dabei sei beispielsweise die Mortalitätsrate seit Ausbruch der Pandemie durch bessere Behandlungsmöglichkeiten deutlich gesunken (17).
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat Ende Oktober ein gemeinsam mit den Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit erarbeitetes Positionspapier vorgestellt, das von über 30 Ärzteverbänden unterzeichnet wurde. Sie warnen davor, mit Lockdowns mehr Schaden als Nutzen anzurichten, fordern eine „Gebotskultur“ statt restriktiver Verordnungen und vor allem die „Fokussierung der Ressourcen auf den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben“ (18).
Hätte man auf sie gehört, könnte die Zahl der an Covid-19 Gestorbenen deutlich niedriger sein. In Tübingen wurde unter Oberbürgermeister Boris Palmer ein entsprechendes Konzept umgesetzt. Seit Oktober werden hier Personal, Bewohner und Besucher in den Alten- und Pflegeheime regelmäßig mit Schnelltests getestet. So gelang es bis jetzt, das Eindringen in die Einrichtungen der Stadt vollständig zu verhindern. Bei einer insgesamt relativ niedrigen 7-Tage-Inzidenz gab es bei den über 75-Jährigen, so Palmer gegenüber dem Tagesspiegel, zuletzt überhaupt keine Fälle mehr. „Deshalb hat auch unsere Uni-Klinik nur sehr wenige Coronapatienten“ (19).
Quellen und Anmerkungen:
„Die aufgebauschte Welle“, Teil 1/2
(1) Effekte der SARS-CoV-2 Pandemie auf die stationäre Versorgung von Januar bis Oktober 2020, IQM, 1.12.2020
(2) Sterbefallzahlen in der 46. Kalenderwoche 8 % über dem Durchschnitt der Vorjahre, Destatis , 11.12.2020
(3) Christof Kuhbandner, Corona-Lockdown: Droht tatsächlich eine akute nationale Gesundheitsnotlage?, Telepolis, 29.10.2020
(4) Lungenentzündung: 30.000 Tote jedes Jahr in Deutschland, Berliner Morgenpost, 11.07.2018
(5) Unexpectedly Higher Morbidity and Mortality of Hospitalized Elderly Patients Associated with Rhinovirus Compared with Influenza Virus Respiratory Tract Infection, U.S. National Library of Medicine , 26.1.2017 (6) Excess winter mortality in England and Wales: 2019 to 2020 (provisional) and 2018 to 2019, ONS, 27.11.2020
(7) 'No sign of second wave' as ONS data shows normal level of deaths for time of year, Telegraph, 20.10.2020
(8) Personalmangel: Intensivstationen am Limit, NDR, 11.12.2018 06:00 Uhr
(9) Norddeutsche Intensivstationen dauerhaft überlastet, NDR, 11.02.2020
(10) Jens Berger, Personalengpass auf den Intensivstationen — das Versagen der Politik wird abgewälzt, NachDenkSeiten, 3.11.2020
(11) Notfälle abgewiesen — Kinderkliniken an der Kapazitätsgrenze, DLF, 13.10.2020
(12) Krankenstand explodiert — vor allem bei Frauen, KKH, 03.08.2020
(13) Einkommenseinbußen durch Corona, Hans-Böckler-Stiftung, Böckler Impuls 17/2020, 5.11.2020, siehe auch Christoph Butterwegge, Corona, Armut und Reichtum, Ossietzky, 18/2020, 19.9.2020
(14) Kollateralschäden der Pandemie, FOCUS-Online, 11.11.2020, siehe auch Corona-Independent Excess Mortality Due to Reduced Use of Emergency Medical Care in the Corona Pandemic, medRxiv, 28.10.2020
(15) Sollten Kliniken schon jetzt Betten für COVID-Patienten freihalten?, ÄrzteZeitung, 01.11.2020
(16) siehe www.matthias.schrappe.com
(17) Thesenpapier 6 Teil 6.1: Epidemiologie Die Pandemie durch Covid-19 — Zur Notwendigkeit eines Strategiewechsels, 22.11.2020, Zusammenfassungen findet man u.a. in der Hamburger Morgenpost und der Welt.
(18) Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft zur Strategieanpassung im Umgang mit der Pandemie ‒ Evidenz- und Erfahrungsgewinn im weiteren Management der Covid-19-Pandemie berücksichtigen, KBV, 28.10.2020
(19) „Wir haben zuletzt bei den über 75-Jährigen keine Fälle mehr“, Boris Palmer über Tübingens Corona-Sonderweg, Tagesspiegel, 09.12.2020