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Die andere Welt

Die andere Welt

Die Welt ist nicht, wie wir sie sehen. Exklusivabdruck aus „Die Welt neu bewerten“.

Jede Länderbewertung, sei sie gut oder schlecht, wird durch persönliche Erfahrungen und Erlebnisse infrage gestellt. Dafür gibt es wiederum ein besonderes Beispiel, das die meisten von uns kennen: Während nicht wenige dazu neigen, ihre jeweiligen Länder Deutschland, Österreich und Schweiz kritisch zu sehen, sind unsere ausländischen Gäste meist voll des Lobes über uns. Wir jammern über Rücksichtslosigkeit und Egoismus, Leistungsstress und hohe Mieten. Die Ausländer loben unsere Hilfsbereitschaft und dass alles funktioniert. Wir bewerten uns in der Regel eher schlecht. Ausländer dagegen preisen uns und unser Land.

Wir Weltbewerter irren uns also an beiden Enden der Bewertungsskala. Vor Kurzem saß ich mit einem buddhistischen Mönch, Leiter der buddhistischen Fakultät in Phnom Penh, im kambodschanischen Siem Reap beim Frühstück. „Ihr müsst doch sehr glücklich sein in der Schweiz und in Bayern“, fragte er, „oder?“ Ich wollte nicht aus Höflichkeit lügen und beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. „Nein, wir sind eigentlich meistens unglücklich.“ „Aber warum?“, fragte Kou Sopheap mich. „Weil wir ein Recht aufs Unglücklichsein haben. Wir müssen keine soziale Ausgrenzung fürchten, wenn wir unglücklich sind. Wir können uns jeden Morgen unbeschwert für einen weiteren unglücklichen Tag entscheiden.“

Kou lachte darüber laut, und mir fiel ein, dass eigentlich das Wissen um das eigene Unglücklichsein auch Spaß macht, dass unsere Gespräche über das übermächtige Unglück also auch eine „Glücksquelle sein können. Paradox. „Wenn alle Menschen das Glückliche als glücklich ansehen“, so schreibt der chinesische Philosoph und Soziallehrer Laotse in seinem legendären Tao Te King, „dann ist damit bereits das Unglück gegeben.“

Unsere einseitigen Weltbewertungen zerbrechen schnell, sobald wir wirklichen Kontakt mit anderen Ländern und Kulturen haben. Dazu genügt es schon, sich in unseren Ländern mit Flüchtlingen oder Einwanderern zu unterhalten.

Mir haben etwa zwei stylische junge Afrikaner, mit denen ich in einem Supermarkt ins Gespräch kam, erzählt, dass sie von ihren Familien auf eine Art Walz geschickt wurden. Sie sollten im fernen Europa etwas lernen – was in Afrika auch bedeutet: Geschäfte zu machen und Geld zu verdienen – und mit ihren Erfahrungen zurückkommen. Möglichst auch mit Geld natürlich.

Innerhalb Afrikas sind ebenfalls Millionen junger Menschen auf Wanderschaft in anderen afrikanischen Ländern, ohne dass sie deshalb als politische oder als Armutsflüchtlinge gelten.

Gerade wenn es um die Bewertung von Armut geht, sind wir oft auf dem Holzweg. Eine Gesellschaft, in der Geld nicht die herausragende Rolle spielt wie bei uns, ist nicht zwangsläufig arm. In weiten Teilen Afrikas sind die Menschen vielmehr – wie etwa in Tansania – daran gewöhnt, Essen und Wasser zu tauschen und zu teilen. Diese sogenannte informelle Wirtschaft, in der keine Konten oder Geldtransfers den Austausch messbar machen, ist eigentlich eine Art Geschenkökonomie.

Geld benötigt man dagegen in einer Ökonomie, in der elementare Grundbedürfnisse (wie ein Dach über dem Kopf, Wasser und Nahrung) nur mit und über Geld erfüllt werden können. Da wir dies aus unserer Kultur kennen, staunen wir über die vermeintliche Armut von Menschen ohne monetäres Einkommen. Ein Zimmer in einer WG, Verpflegung und Winterkleidung, U-Bahn-Monatskarte und Krankenversicherung: Faktoren, die bei uns das existenzielle Mindestniveau ausmachen, kosten bereits fast 1000 Euro im Monat – ein Betrag, der in den meisten Entwicklungsländern dem Gehalt eines Professors, Filialleiters oder mittleren Beamten entspricht.

An den Beispielen Islamismus, Korruption und Flucht vor Armut können wir sehen, wie stark unsere Weltbewertung von Medien geprägt wird.

Zu oft geben wir uns mit oberflächlichen Informationen zufrieden, wenn diese nur weit genug verbreitet sind. Was etwa als „Rassismus“ bezeichnet wird, nämlich eine durch wenige, oberflächliche Merkmale bestimmte Einschätzung und Stigmatisierung anderer Menschen, beruht auf fehlenden eigenen Berührungen und Einlassungen.

Nach den Attentaten von Paris stand auf einem Marktplatz einige Tage lang ein junger Mann mit einem Schild: „Ich bin Muslim. Trau dich, mich zu umarmen.“ Zahlreiche Pariser, darunter auch Farbige, wagten es.


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