„Ich habe noch nie eine Gruppe studiert, die eine angemessene Vorstellung von ihrer eigenen sozialen Position hatte“ (1).
Die Power Elite (1956) steht in einem engen biografischen und inhaltlichen Zusammenhang mit den ihr vorausgehenden Studien The New Men of Power (1948) und White Collar (1951). Mit dieser Trilogie (2), die das Zentrum von Mills’ Gesamtwerk bildet, verfolgt er den Anspruch, ein großangelegtes sozial-strukturelles und sozialpsychologisches Porträt der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft und ihrer Machtverhältnisse zu zeichnen. In den drei Studien nimmt er dafür jeweils die für ihn charakteristischen Gesellschaftsgruppen seiner Zeit in den Blick, die aus dem gesellschaftlichen Strukturwandel hervorgegangen sind: die organisierte Arbeiterschaft, die Mittelschicht der Angestellten und schließlich die Oberschicht, insbesondere deren Spitze, die Machtelite. Die verbindende Klammer der drei Studien ist die Frage nach der „Geschichtsmächtigkeit“ dieser kollektiven Akteure (3).
Mills wurde häufig zugeschrieben, dass es das Thema der Macht war, das im Zentrum seines Erkenntnisinteresses steht, er gar von ihm besessen gewesen war:
„Kritiker sagen, dass ich zu sehr von Macht fasziniert bin. Das ist nicht wirklich wahr. (…) Es ist die Rolle von Ideen in der Politik und Gesellschaft, die Macht des Intellekts, die mich als Sozialanalytiker und Kulturkritiker am meisten fasziniert“ (4).
Ralph Miliband, selbst Soziologe und ein enger Freund von Mills, legt eine etwas andere Deutung vor, der vor dem Hintergrund des skizzierten Gesamtwerkes eine große Plausibilität zukommt: Es sei „nicht so sehr die Macht“ selbst, sondern „die Machtlosigkeit“ (5) der Menschen gewesen, die ihn verfolgte, und zwar in einer Welt, in der die Machtmittel zugleich enorm angewachsen sind.
Mills folgt im breiten Feld der soziologischen Machtforschung einem klassischen Machtverständnis. Bereits in seinen erwähnten Werken mit Hans Gerth machte er sich Webers Machtbegriff zu eigen und definiert Macht auch in der Power Elite als Fähigkeit, den eigenen „Willen auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen“ (6). Macht schwebt für Mills nicht im luftleeren Raum, sondern wird von ihm als eine von vier miteinander verbundenen Schichtungsdimensionen der Gesellschaft (Beruf, Klasse, Status und Macht) betrachtet (7) — und ist folglich stets mit der Gesellschaftsstruktur als Ganzer verbunden.
Er geht kurzum davon aus, dass alle Rollen der Menschen, „die institutionalisiert sind, gleichgültig in welcher Ordnung, Machtverteilung mit ein(beziehen)“ (8). Und genau diese institutionalisierte Machtverteilung und ihre Konzentration in bürokratisierten Großorganisationen sind für Mills in der modernen Gesellschaft die Grundlage der verschiedenen Schichten für die Ausübung politischer Macht, also die Fähigkeit, „die Politik und die Aktivitäten des Staates zu beeinflussen oder sogar zu bestimmen“ (9).
Was von seinen und den Kritikern eines klassischen Machtbegriffs (10) häufig übersehen wird, ist, dass Mills’ klassisches Machtverständnis keineswegs negativ auf Unterdrückung und Gewalt fixiert ist, sondern er in ihr auch ein emanzipatorisches, produktives Potenzial sieht: „Die Ausdehnung und Zentralisierung der Machtmittel sind Symptome für die neuen Möglichkeiten des Menschen, Geschichte zu machen, Signale einer Chance, über das Schicksal hinauszugreifen und der freien Entscheidung — womöglich sogar der Vernunft — Einfluß auf die Gestaltung unserer Epoche zu gewähren“ (11).
Grundlegend, und das ist entscheidend, geht es Mills also auf der einen Seite um die Frage der Macht zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und auf der anderen Seite um die Macht dieser Gruppen, den Lauf der Geschichte in Bezug auf ihr Privatleben, ihre Milieus, ja die Gesellschaftsstruktur als solches, in ihrem Sinne zu gestalten (12).
Sowohl die Frage nach der Verteilung der Macht als auch die der Geschichtsmächtigkeit, so Mills’ Ausgangspunkt, können nicht mit einer allgemeinen Theorie der Macht beantwortet werden, die für alle Phasen der modernen Gesellschaft Gültigkeit beanspruchen kann. Macht hängt vielmehr stets von den spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen ab, die immer aufs Neue empirisch mit den Mitteln soziologischer Analyse untersucht werden müssen (13). Dies ist die Aufgabe, die er sich für die US-Gesellschaft seiner Zeit stellt, und demzufolge auch das Leitmotiv seiner Gesellschaftstrilogie.
Die organisierte Arbeiterschaft: The New Men of Power (1948)
Mills Auftaktstudie The New Men of Power: America‘s Labor Leaders, in der er die organisierte Arbeiterschaft und insbesondere die Gewerkschaftsführer in den Blick nimmt, ist, wie er selbst betont, „eine politisch motivierte Arbeit“ (14). Seine Studie zu den „neuen Männer der Macht“ basiert dabei vornehmlich auf einem Forschungsprojekt zu den Charakteristika von Gewerkschaftsführern, an dem er seit 1941 gearbeitet hatte (15).
Empirische Basis seiner Studie waren Interviews mit den 500 mächtigsten Gewerkschaftsführern der USA, die Mills zufolge durch den gesellschaftlichen Strukturwandel seit den 1920er-Jahren zu einem neuen machtvollen Akteur in den USA aufgestiegen waren. Sein Interesse an den Gewerkschaftsführern resultiert aus der ihnen zugemessenen strategischen Bedeutung. Durch ihre führende Rolle in den Massenorganisationen stellen sie für ihn die einzige effektive progressive gesellschaftliche Kraft dar, die in der Lage sei, politische Veränderungen hin zu einer egalitären und freiheitlich-demokratischen Gesellschaft herbeizuführen (16).
Er begeistert sich dabei insbesondere für die „Wobblies“ (Mitglieder der Industrial Workers of the World) und deren Ziel, eine freiheitliche, sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Nicht nur, dass Mills seiner Studie ein Zitat eines anarchistischen Arbeiters über die Wobblies voranstellt — „Wir haben keine Führer. Wir sind alle Führer“ (17) –, auch später identifiziert er sich mit ihnen, wenn er an seinen imaginierten russischen Freund Tovarich schreibt: „Ich bin ein Wobbly (…) und damit meine ich: das Gegenteil von Bürokrat. (…) Er mag keine Bosse — kapitalistisch oder kommunistisch –, sie sind für ihn alle gleich. Er möchte sein eigener Boss sein und möchte, dass das auch alle anderen sind — zu jeder Zeit, unter allen Bedingungen und für jedes Ziel, das er verfolgen möchte“ (18, 19).
Wie Mills allerdings ernüchtert feststellt, wird die potenzielle Geschichtsmächtigkeit der Arbeiterklasse nicht realisiert. Die Gewerkschaften fungierten nicht als Repräsentanten einer „Arbeiterbewegung“, die ein politisches Programm entwickeln, sondern fokussierten sich vorwiegend auf die Durchsetzung ökonomischer Interessen der Arbeiterschaft.
Im Gleichklang mit der allumfassenden Bürokratisierung haben sich für ihn auch die Arbeiterorganisationen zu einer hochgradig bürokratisierten Interessengruppe entwickelt, die in die mittlere Ebene der Macht eingegliedert ist und sich mit den Machteliten in Wirtschaft und Politik arrangiert.
In Mills’ Augen sind sie, im Widerspruch zu ihrem Selbstbild, keine radikale politische Kraft, sondern vor allem am eigenen Machterhalt orientiert. Der „Wirtschafts-Gewerkschaftler“, so Mills, verfolge seine „partikularen engstirnigen Interessen ohne Gedanken an die Interessen der Gesellschaft oder sogar seiner eigenen Industrie, geschweige denn die der Arbeiter als einer Klasse. Er war stets bereit und willig, mit einigen Geschäftsleuten gegen andere Geschäftsleute, Arbeiter und die Gemeinschaft zu kooperieren“ (20, 21).
Die sich vom konkreten Alltag der Arbeiter entfernenden Gewerkschaftsorganisationen können auf diese Weise nicht, wie von Mills gefordert, als Bindeglied zwischen ihnen und den Mächtigen fungieren.
Angesichts dieser dysfunktionalen Entwicklung stellt Mills die explizite Forderung an die neuen Männer der Macht, sich als ökonomische und politische Akteure zu begreifen, die in einer „politischen Ökonomie leben und demnach handeln müssen“ (22). Zur erfolgreichen Umsetzung dieses Projekts betont Mills die wichtige Rolle der Intellektuellen, die in den Gewerkschaften weitgehend fehlten, da diese deren praktische Arbeit mit grundsätzlicheren Ideen verbinden könnten (23). Mit Blick darauf appelliert er an die Gewerkschaften, sich strategisch mit den Intellektuellen und anderen gesellschaftlichen Akteuren wie zum Beispiel der „neuen Mittelschicht“ zusammenzuschließen.
Die Angestellten der Mittelschicht: White Collar (1951)
Im zweiten Teil seiner Trilogie, White Collar: The American Middle Classes, nimmt Mills mit der neuen Mittelschicht, die sich vor allem aus dem Heer der Angestellten bildet, diesen potenziellen Bündnispartner näher in den Blick. Mills’ Studie ist einerseits stark von Weber beeinflusst, der ihm erklärtermaßen die „allgemeine Perspektive“ (24) und die grundlegenden Begriffe wie „Stand“, „Bürokratie“, „Klasse“ und „Macht“ lieferte. Andererseits greift Mills auf Marx’ (25) Entfremdungstheorie zurück, deren Begrifflichkeit sich wie ein roter Faden durch das Werk zieht. Die Verknüpfung dieser beiden Klassiker gründet auf der Weber-Interpretation, die Mills zusammen mit Gerth entwickelt hatte und in der sie sich gegen die verbreitete Lesart Webers in den USA stellten, die von Talcott Parsons geprägt wurde (26).
Im Gegensatz zu Parsons porträtieren sie Weber als einen unabhängigen „politischen Menschen und politischen Intellektuellen“ (27), der nicht mit dem Werk von Marx brach, sondern es in kritischer Absicht weiterführte und zeigte, wie der Rationalisierungs- und Bürokratisierungsprozess der kapitalistischen Moderne dem Menschen zunehmend seine Freiheit nehme. Mills geht hier — und in seiner gesamten Trilogie — mit Webers berühmter Befürchtung konform, dass sich der siegreiche Kapitalismus als „stahlhartes Gehäuse“ erweist, das keiner besonderen ethischen Stütze mehr bedarf und „Fachmenschen ohne Geist“ sowie „Genußmenschen ohne Herz“ hervorbringt, die sich in Selbstzufriedenheit ergeben und sich einbilden, „eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben“ (28).
Sein Blick auf die Angestellten ist dabei noch düsterer als der auf die organisierte Arbeiterschaft. Mills schildert die Herausbildung des Typus des Angestellten als Verfallsgeschichte.
n der Darstellungsweise wird auch Mills’ zunehmender Hang zur „soziologischen Poesie“ sichtbar, indem er klassische soziologische Darstellungsformen, wie zum Beispiel Interviewberichte und Statistiken zum historischen Wandel und zur Gegenwart der Arbeitswelt und Angestelltenschicht, mit pointierten literarischen Darstellungen verbindet, um das Buch über das wissenschaftliche Feld hinaus für breite Leserkreise zugänglich zu machen (29).
Am Anfang seiner Erzählung steht die Beschreibung des Typus des unabhängigen Unternehmers, der in der Regel als Farmer im 19. Jahrhundert auf einem freien und weitgehend unregulierten Markt mit gleichartigen Unternehmern konkurriert. Die Idealisierung, die in der Beschreibung aufscheint, ist offensichtlich ein bewusstes Stilmittel von Mills, um Kontraste stärker zur Geltung zu bringen. So schreibt er in einem Brief, dass er mit der Schilderung dieser Zeit bewusst eine „utopische Vergangenheit“ (30) zeichnen wollte. Vor diesem utopischen Hintergrund entwickelt Mills die Hauptthese seiner düsteren Erzählung. Durch den gesellschaftlichen Strukturwandel, der sich für Mills seit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen hat, ist dieser Typus des vom Pioniergeist angetriebenen freien Farmers in einen abhängigen Gehaltsempfänger verwandelt worden, der in hierarchische Großorganisationen eingezwängt wird und in seinem „bürokratischen Käfig“ (31) gefangen ist.
In der Beschreibung des arbeitenden Angestellten wird wiederum Marx’ Einfluss deutlich. Der typische Angestellte ist nach Mills von seiner Arbeit fundamental entfremdet — eine Form der Entfremdung, die er als Signum einer generellen kollektiven Entfremdung in den USA seiner Zeit betrachtet. Die Angestellten sind im „durchrationalisierten Büro“ in eine „gleichförmige Masse verwandelt worden“ (32), die tagein, tagaus mechanisch-routinehaften Tätigkeiten nachgehen müssen. Während der freie Unternehmer der alten Mittelschicht über „demokratisches Eigentum“ (33) verfügte, ist das Arbeitsprodukt des Angestellten zu einer von ihm entfremdeten Ware geworden.
Für Mills ist diese fundamental ökonomische Entfremdung notwendigerweise mit einer nicht minder tiefreichenden politischen Entfremdung gekoppelt. Der Angestellte aus der neuen Mittelschicht stellt für ihn gewissermaßen den Prototypen des politisch apathischen Menschen in den USA der 1940er- und 1950er-Jahre dar, der jenseits seiner eigenen ökonomischen Interessen weder über eine einheitliche politische Ideologie noch über ein Klassen- und Standesbewusstsein verfügt.
Es handelt sich bei ihm vielmehr um einen entpolitisierten „Massenmenschen“, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht als Repräsentant einer demokratischen Öffentlichkeit auftritt, sondern sich passiv der alles Politische banalisierenden Medien- und Vergnügungsindustrie anheimgibt. Diese allgemeinen Diagnosen zur „Massengesellschaft“ stellen gewissermaßen Vorarbeiten für die abschließende Studie der Trilogie, Die Machtelite, dar, wo diese Befunde in ganz ähnlicher Form wieder aufgegriffen werden.
White Collar ist folglich, mit Miliband gesprochen, keine Erzählung über die Macht, sondern die Machtlosigkeit. Anders als wissenschaftliche Prognosen, die die Angestellten aufgrund ihrer Bedeutung für den kapitalistischen Produktionsprozess als zukünftig tonangebende Großgruppe sehen, betrachtet Mills den typischen Angestellten der Mittelschicht als ein nahezu passives Objekt der Geschichte:
„Er wird von Mächten getrieben, auf die er keinen Einfluß hat, in Bewegungen hineingezogen, die er nicht begreift; er gerät in Situationen, denen er völlig hilflos gegenübersteht. Der kleine Angestellte verkörpert den Helden als Opfer: er ist das schwache Geschöpf, das nicht selbst handelt, sondern immer Objekt fremder Handlungen bleibt, ein Mensch, der im Büro oder im Geschäft eines anderen unbemerkt seine Arbeit verrichtet, niemals laut spricht, keine Widerrede führt, keine eigene Meinung hat“ (34).
Diese Diagnose der Ohnmacht und politischen Apathie der zeitgenössischen Massenmenschen (sowohl der Angestellten in White Collar, wie der Arbeiter in The New Men of Power) ist es, von der Mills ausgeht, wenn er in seiner Power Elite einleitend über den „gewöhnlichen Menschen“ schreibt, der getrieben sei „von mächtigeren Kräften, die er weder begreifen noch meistern kann. (…) Von allen Seiten bedrängt und Veränderungen unterworfen, hat der Mensch unserer Massengesellschaft das Gefühl, ohne Lebensinhalt, ohne Ziel und Zweck in einem Zeitalter zu leben, das ihn zur Machtlosigkeit verurteilt.“ Aber, so führt Mills einschränkend fort, keineswegs alle Menschen seien „in diesem Sinne ›gewöhnliche‹ Menschen“ (S. 48), vor allem nicht diejenigen, die an der Spitze der amerikanischen Oberschicht stehen.
Die Oberschicht: The Power Elite (1956)
Mills beschloss bereits in den frühen 1950er-Jahren, seine Trilogie mit einem Buch über „die Reichen“ oder die „Oberschicht“ zu vervollständigen (35). In der ersten Hälfte der 1950er-Jahre reifte sein Buch — insbesondere unter der Mitarbeit seiner Ehefrau, Ruth Harper Mills unter dem Arbeitstitel The High and Mighty: The American Upper Class — durch eine ganze „Reihe von kleineren Milieustudien“ (36) zu jenem Klassiker der Politischen Soziologie heran, der schließlich im April 1956 als The Power Elite im Verlag der Oxford University publiziert wurde.
Dem aufmerksamen Leser wird bei der Lektüre dieses Buches schnell auffallen: In seiner Studie zur amerikanischen Oberschicht verbindet Mills nahezu alle bis hierher dargelegten Stränge seines Gesamtwerkes:
- seine empirisch-theoretische Arbeitsweise verknüpft sich mit seiner Sozialkritik,
- seine Betrachtungen der Elite mit seinen Antworten, die er bezüglich der Macht(-losigkeit) der Arbeiter und Angestellten gefunden hat,
- seine klassischen Weber-, Marxismus- und Veblen-Studien mit aktuellen prominenten Zeitdiagnosen,
- seine Betrachtungen zum Wandel soziohistorischer Gesellschaftsstrukturen mit feingliedrigen sozialpsychologischen Milieustudien,
- und seine aufklärerische Mission, die trügerischen Selbstbilder der Menschen zu dekonstruieren, mit der Bestimmung ihrer faktischen Rolle im gesellschaftlichen und politischen Gesamtgefüge ihrer Zeit.
Mit seiner Studie will Mills dabei vor allem eines zeigen: dass die vorherrschenden Selbstbilder der amerikanischen Oberschicht sowie ihre Porträts durch die meisten seiner sozialwissenschaftlichen Kollegen nicht stimmig sind, sondern einem Verständnis der wirklichen Machtverhältnisse in den USA der 1950er-Jahre vielmehr im Wege stehen.
Die Machtelite ist erstens — und in erster Linie — eine harsche Abrechnung mit dem aus seiner Sicht tonangebenden liberalen Pluralismus seiner Zeit. Mills wendet sich gegen die unter liberalen und konservativen Sozialwissenschaftlern verbreitete Mode, die Machtstruktur in den USA als ein weitgehend pluralistisches und hierarchiefreies „Kräftegleichgewicht“ (37) einer funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit zu beschreiben.
Als idealtypischer Repräsentant dieses „romantischen Pluralismus“ (38) fungiert für Mills der mit ihm über die NYI verbundene Soziologe David Riesman und dessen bekanntes Werk The Lonely Crowd (1950), in dem dieser zu dem Schluss kommt: „An die Stelle einer einzigen Hierarchie mit einer herrschenden Klasse an ihrer Spitze sind die Interessenverbände (veto groups) getreten, unter denen die Macht aufgespalten ist. (…) Die Interessengruppen schaffen (…) eine uneinheitliche, amorphe Machtstruktur, in der die Herrschenden ebenso schwer von den Beherrschten zu unterscheiden sind wie die zu Unterstützenden von den zu Bekämpfenden“ (39). Die Vorstellung, dass es keine Gruppen mit „entscheidende(n) Machtbefugnisse(n)“ (40) mehr gebe und die Eliten und Interessengruppen dem allgemeinen Kollektivschicksal (41) genauso machtlos gegenüberstehen, wie alle anderen Menschen, unterzieht Mills einer Fundamentalkritik.
Die liberalen Pluralisten stellen durch diesen Mythos eine konservative ideologische Basis für die existierende Machtelite bereit, indem sie ihre Existenz schlicht leugnen und zwei analytische Fehler begehen: 1. Sie übertragen das klassische Modell einer funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit aus der Vergangenheit, das Mills erneut idealisierend schildert, einfach auf eine vollständig veränderte Realität der Gegenwartsgesellschaft; 2. Ihre Analysen setzen stets beim bunten Treiben der durchaus pluralen Kräfte der Interessensgruppen auf der mittleren Machtebene des Kongresses an, wodurch sie — wie auch große Teile der Öffentlichkeit — irrtümlich diese mittlere Machtsphäre mit dem gesamten Machtgefüge der US-Gesellschaft verwechseln.
Auf der anderen Seite richtet sich Mills jedoch auch gegen Vorstellungen, die Geschichte der USA als Ergebnis einer Art Verschwörung zu betrachten. So identifiziert und umschreibt er die „(ü)berall auf der Welt“ verbreitete „Vorstellung von einer allmächtigen Elite“ (42), die sich auch der Vulgär-Marxismus zu eigen mache.
Die marxistische Vorstellung der bedeutenden Rolle des Kapitalismus und der Konzernreichen für das Machtgefüge steht Mills’ Analyse der Machtstrukturen in den USA zwar deutlich näher als das Pluralismus-Konzept (43). Dennoch richtet sich Die Machtelite auch gegen ihren ökonomischen Determinismus (44).
Für Mills ist die Vorstellung einer omnipotenten (ökonomischen) „herrschenden Klasse“ ein Konzept, das begrifflich die Machtdominanz der Kapitalisten vorwegnehme, statt sie empirisch nachzuweisen, und sie werde zudem der Komplexität von Machtstrukturen in modernen Gesellschaften nicht gerecht (45).
Er versteht seinen Begriff der Machtelite demnach auch als expliziten Gegenbegriff zu dem der herrschenden Klasse, da in ihm zum Ausdruck kommt, dass die drei großen institutionellen Ordnungen (Wirtschaft, Politik, Militär) nicht einfach aus den anderen abgeleitet werden können und jede der mit ihnen verbundenen Elitengruppen über eine gewisse Autonomie verfügt.
Mills fordert ein, sich mit den einfachen und ideologischen Antworten, welche die Debatte seiner Zeit dominierten, nicht zufrieden zu geben, sondern die Frage nach der Macht der Elite undogmatisch und empirisch zu untersuchen. Für seine eigene Charakterisierung der Oberschicht und der Machtverhältnisse in der US-Gesellschaft greift er — wie insbesondere im breiten Fußnotenapparat seiner Studie deutlich wird — auf zahlreiche von ihm zusammengestellte und analysierte Studien, Zeitungsberichte, Statistiken, Biografien und Interviewdaten von Eliten und Experten zurück, die er selbst erhoben hat (46, 47).
Theoretisch orientiert er sich in seiner Untersuchung an der klassischen Elitetheorie und unterscheidet mit Gaetano Mosca analytisch drei Gruppen bezüglich des Machtphänomens: „(a) die Elite (…) als (…) Spitzenclique, (b) diejenigen, die zählen, und (c) alle anderen. (…) Die Begriffe ,Clique‘ und ,Elite‘ würden sich auf Macht beziehungsweise Herrschaft beziehen. In dieser Begrifflichkeit wäre ,die Elite‘ immer die Machtelite. Die übrigen Leute in den oberen Etagen wären die Oberschichten oder die gehobenen Kreise“ (48).
Diese gehobenen Kreise will Mills in Bezug auf ihrer Anwartschaft als Teil der Machtelite untersuchen, jener Gruppe also, „die als kompliziertes Gebilde einander überschneidender Kreise an allen Entscheidungen von zumindest nationaler, wenn nicht internationaler Tragweite teilhaben“ (49). Als potenzielle Mitglieder der Machtelite nimmt er in einzelnen Milieustudien (50) die alten Oberschichten der Provinzstädte und der großen Metropolen, die Stars und Berühmtheiten, den alten und neuen Superreichtum, die Topmanager der Großkonzerne, die hohen Militärs und das politische Direktorat bis hin zu den eher zwischen den Zeilen aufscheinenden politischen Beratern, Medienschaffenden, Wissenschaftlern und Rechtsanwälten in den Fokus.
Eine besonders wichtige Rolle für seine Studie spielt dabei Franz Neumanns Werk Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus (51), in der Neumann die Macht- und Elitenstruktur des Nazi-Regimes als ein enges Zusammenspiel von Monopolkapitalismus, NSDAP, staatlicher Bürokratie und Militär beschreibt (52). Neumanns Analyse, so Mills in einer enthusiastischen Rezension des Buches, sei von so großer Bedeutung, weil diese Entwicklungstendenz der sozialen Ordnung eine große Plausibilität für die moderne Gesellschaft insgesamt aufweise (53), nicht zuletzt die USA.
Und so beschreibt auch Mills am Beispiel von fünf Entwicklungsepochen der US-Gesellschaft den historischen Großtrend, dass sich die Macht in den USA a) von der lokalen und regionalen immer stärker auf die nationale Ebene verlagert, b) innerhalb der Großorganisationen der Wirtschaft, des Militärs und des Staates bürokratisiert und konzentriert und c) zwischen diesen drei Bereichen vernetzt und sich somit auch die Rollengefüge und Gruppen an den Spitzen dieser drei Bereiche immer stärker annähern: Niemand, nicht einmal die Superreichen, so Mills, kann „wirklich mächtig sein, ohne Zugang zu den Kommandostellen der Großorganisationen der Gesellschaft zu haben, (…) nur in und mit ihnen kann Macht einigermaßen von Dauer und Bedeutung sein“ (54).
An den Spitzen der Großbürokratien habe sich durch die Verwandlung der USA in eine „permanente Kriegswirtschaft und private Konzernwirtschaft“ (55) im Zuge der Weltkriege und ihrem Aufstieg zur globalen Supermacht eine Machtelite gebildet, die vor allem den Konzernreichen (den Superreichen und den Managern), hohen Militärs und Führungskreisen aus der politischen Exekutive unvorstellbare Machtmittel an die Hand gibt (56), mit denen sie etwa „riesige Städte über Nacht vom Erdboden verschwinden lassen“ (57) können.
Die Machtelite sei zwar keineswegs homogen und allmächtig, aber doch ähnlicher, geeinter, mächtiger und organisierter, als es gemeinhin von den Liberalen unterstellt werde. Ihre Mitglieder verfolgen nicht immer, aber doch häufig einheitliche Interessen, sind auf vielfache Weise über ihre Herkunft, ihre Bildungslaufbahn (elitäre Privatschulen und universitäre Clubs), über ihre Berufswelt, private Netzwerke, ja ihre ganze Lebenswelt eng miteinander verbunden.
Sie haben ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein, werden sich psychologisch immer ähnlicher und nehmen bei ihren Entscheidungen Rücksicht aufeinander. Sie finden sich in sozialen Positionen wieder, die mit Macht, Reichtum und Ansehen verbunden sind.
Auf der mittleren Machtebene entsteht nach Mills im Kräftespiel der bedeutenden Interessengruppen zunehmend eine politische Lähmung (58). Zwar muss die Machtelite immer wieder auf die Interessen der Vetogruppen Rücksicht nehmen, aber die großen Fragen und Entscheidungen werden in der Regel nicht im Kongress, sondern innerhalb der Machtelite gefällt, häufig auch im privaten Ambiente, in ihren Clubs und informellen Netzwerken.
Mit Blick auf die unterste Ebene der Macht zeichnet Mills schließlich das große Bild einer entstehenden Massengesellschaft (59), die immer weniger dem klassischen Ideal der demokratischen Öffentlichkeit entspricht. Er nimmt hier seine Diagnosen aus New Men of Power und White Collar wieder auf und verdichtet diese zu einem Bild einer politisch apathischen Bevölkerung, die durch die Massenmedien systematisch von den großen Fragen abgelenkt wird und in der sich die Menschen als „fröhliche Roboter“ (60) in Selbstzufriedenheit des wachsenden Wohlstands erfreuen, statt nach Freiheit zu streben.
Schließlich überführt Mills seine über die Studie immer wieder angedeutete Sozialkritik am Ende seiner Studie (61) in eine Elitenkritik, die einer Generalabrechnung mit dem US-Establishment gleicht. Er kritisiert die „konservative Geisteshaltung“, die „liberale Phraseologie“, das System der „höheren Unmoral“ und „organisierten Verantwortungslosigkeit“ (62) der „verrückten Realisten“ an der Macht im Spiegel ihrer eigenen moralischen Maßstäbe. Ihre Rhetorik der Verantwortung sei nicht mehr als ein „Aus-druck unverantwortlicher, prahlerischer Selbstzufriedenheit“ (63).
Quellen und Anmerkungen:
Die vollständigen Quellenangaben können dem Buch entnommen werden.
(1) Mills 1957, S. 230
(2) Mills verwendet diesen Ausdruck selbst, um den Werkzusammenhang der drei Studien zu markieren. So bemerkt er bereits 1951 in einem Brief, in dem er auf die Idee zu einem neuen Werk mit dem Titel »The Rich« bzw. »The Upper Class« eingeht, aus dem schließlich die Power Elite hervorgehen wird, dass dieses seine »Trilogie« (Mills 2000, S. 155) vollenden werde.
(3) vgl. Hess 1995, S. 98
(4) Mills z.n. Summer 2008a, S. 3
(5) Miliband 1964, S. 81
(6) S. 56; Wenn im Folgenden nur Seitenangaben zitiert werden, verweist dies stets auf den Text des vorliegenden Buches. Weber 1956, S. 38
(7) vgl. Gerth/Mills 1953, S. 227 f.
(8) Gerth/Mills 1953, S. 241
(9) Gerth/Mills 1953, S. 242
(10) Hannah Arendt betrachtet Mills in ihrer Studie Macht und Gewalt als einen exemplarischen Vertreter des von ihr kritisierten klassischen Machtkonzepts (vgl. Arendt 2009, S. 36). Prominent wurde der klassische Machtbegriff auch durch Jürgen Habermas, Michel Foucault, Talcott Parsons und Niklas Luhmann kritisiert (für eine Übersicht vgl. Imbusch 2012).
(11) Mills 1958, S. 56
(12) vgl. Wendt/Görgen 2018, S. 56 ff.
(13) vgl. Wendt et al. 2018, S. 435 f.
(14) Mills 1959a, S. 296
(15) vgl. Treviño 2012, S. 62
(16) vgl. Treviño 2012, S. 66
(17) Mills 1948, S. IX
(18) Mills 2000, S. 252
(19) Die politische Identität von Mills ist demnach nicht nur von klassischen marxistischen und sozialistischen Werten geprägt, sondern verbindet diese stets mit den Idealen eines radikaldemokratischen Liberalismus bzw. dem Anarchismus – wie es auch in seinen Selbstreflexionen immer wieder deutlich wird: »[T]ief im Innern (…) bin ich ein gottverdammter Anarchist« (Mills 2000, S. 217 f.).
(20) Mills 1948, S. 117
(21) Mills wählt für diese Korrumpierung der Gewerkschaftsführer an anderer Stelle einen drastischen Vergleich: »Indem er seine politische Unschuld verliert, wird der Gewerkschaftsführer, wie Dreisers Mädchen vom Land in der großen Stadt [Mills bezieht sich hier auf Theodor Dreisers Roman Sister Carrie], oftmals zur Hure der Mächtigen« (Mills 1948, S. 169).
(22) Mills 1948, S. 155
(23) vgl. Neun 2019, S. 37
(24) Mills 1951, S. 473
(25) . Im Anhang von White Collar betont Mills: »Hinter Weber stand natürlich Karl Marx. In einer Zeit, wo Marx in den Dreck gezogen und verleumdet, jedoch nicht gelesen wird, möchte ich nicht unterlassen, meine Dankesschuld zu bekennen, insbesondere hinsichtlich seiner Frühwerke« (Mills 1951, S. 473).
(26) vgl. Neun 2016
(27) Gerth/Mills 1946b, S. 32
(28) Weber 1988, S. 203 f.
(29) vgl. Neun 2019, S. 40
(30) z.n. Neun 2019, S. 43
(31) Mills 1951, S. 97
(32) Mills 1951, S. 289
(33) Mills 1951, S. 41
(34) Mills 1951, S. 15
(35) vgl. Mills 2000, S. 155; Mills 1959a, S. 296
(36) S. 64
(37) S. 332
(38) S. 334
(39) Riesman et al. 1972, S. 220 und 229
(40) S. 455
(41) Zu Mills’ soziologischem Schicksalsbegriff (vgl. auch Mills 1958, S. 21 ff.)
(42) S. 65
(43) vgl. Rilling 2016, S. 31; Treviño 2012, S. 18
(44) vgl. Treviño 2012, S. 180 ff.
(45) vgl. S. 376
(46) vgl. für Näheres hierzu auch Mills 1959a, S. 295 ff.
(47) Hierbei spielen für Mills vor allem auch die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Untersuchungen der amerikanischen Oberschicht eine große Rolle, etwa Thorstein Veblens Theorie der feinen Leute (vgl. Veblen 2007), Ferdinand Lundbergs America’s 60 Families (vgl. Lundberg 1937), der Enthüllungsjournalismus der »Muckraker« (vgl. zum Beispiel Meyers 1969) und die Machtanalysen der Gemeinde- und Stadtforschung (vgl. insbesondere Hunter 1953).
(48) Mills 1959a, S. 301
(49) S. 67
(50) vgl. Kapitel 2-11 dieses Buches
(51) vgl. Neumann 1977
(52) vgl. Mills 1942, S. 174 ff.
(53) vgl. Mills 1942, S. 170 ff.
(54) S. 56
(55) S. 373
(56) Kapitel 1 und 12 des Buches
(57) S. 74
(58) vgl. Kapitel 11 des Buches
(59) vgl. Kapitel 13 des Buches
(60) Mills 1959a, S. 261
(61) vor allem Kapitel 14 und 15
(62) S. 458
(63) S. 456