Der zweifelhafte Hoffnungsträger
Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien geben Grund zu der Annahme, dass der Wahlsieg Lulas nicht rechtmäßig ist.
Derzeit flammen Massenproteste gegen die Proklamierung Luiz Inácio Lula da Silvas als Sieger der Präsidentschaftswahl Brasiliens 2022 auf. Diese nehmen Bezug auf einige Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren. Darüber hinaus gibt es Zweifel an der Ehrenhaftigkeit eines Kandidaten, der aufgrund einer wenig schlüssigen Begründung eines von ihm selbst vormals berufenen Richters seine Haftentlassung und damit die Zulassung als Kandidat erlangte. Der Streit um Lulas Legitimität als Kandidat und die Integrität des veröffentlichten Wahlresultats verursacht eine hochbrisante Krise der Verfassungsorgane Brasiliens, deren Lösung vielen in Europa nicht gefallen dürfte.
Zu den Vorgängen rund um die Präsidentschaftswahlen 2022
Als in Brasilien die Vorbereitungen zur erneuten Präsidentenwahl 2022 getroffen wurden, circa 2020 also, intensivierte sich eine Auseinandersetzung über die Verwendung elektronischer Urnen bei Wahlen. Der amtierende Präsident Jair Bolsonaro plädierte für ein System, das einen Ausdruck der Stimmabgabe des Wählers erzeugt („voto impresso“). Diesen Vorschlag Bolsonaros lehnten die aktuell die Wahlverwaltung dominierenden Verantwortlichen ab. Ihre Begründung lautete: Das aktuell praktizierte System sei hinreichend sicher und auditierbar („auditável“, also einer nachträglichen Begutachtung zugänglich). Als Folge dieser Entscheidung der zuständigen Organe erfolgte die Wahl im Oktober 2022 also mit rein elektronischen Urnen.
Um die Zustimmung zu diesem Verfahren gegen den heftigen Widerstand der Bolsonaro-Unterstützer zu erlangen, stimmte das Wahlgremium gleichsam im Gegenzug einer Überwachung des Wahlvorgangs durch die Streitkräfte zu und erbat von den Streitkräften ein Gutachten über die Integrität der Urnen und des Auszählvorgangs. Wohlgemerkt, nicht Bolsonaro erbat oder ordnete dieses Gutachten an, sondern das Wahlgericht selbst — natürlich mit der Absicht, die Skeptiker ruhig zu stellen. Dieses Gutachten wurde im August 2022 vorgelegt und wies auf eine Sicherheitslücke im Datenaustausch hin.
Die IT-Spezialisten der Streitkräfte bemerkten, dass für die Kompilierung des Quellcodes der Urnensoftware eine Verbindung mit einem nicht deklarierten Server außerhalb Brasiliens hergestellt wird. Sie forderten die Wahlverwaltung auf, diese Verbindung offen zu legen und sicher zu stellen, dass darüber kein Code eingeschleust werden kann, der das Wahlergebnis verändern kann. Sie setzten mit dem 3. September 2022, also noch deutlich vor der Wahl, eine Frist zur Ausräumung dieser Vulnerabilität, die die Wahlverwaltung ohne Stellungnahme und ohne Erklärung, ob und wie die Sicherheitslücke geschlossen worden sei, verstreichen ließ. Daher ist die Vermutung erlaubt, dass die Sicherheitslücke nicht geschlossen wurde. Andernfalls, so darf unterstellt werden, hätte sich das Wahlgericht beeilt, die Ausräumung der Mängel bekannt zu geben. Die Wahl wurde also mit den Urnen vorgenommen, die die genannte Vulnerabilität aufweisen.
Das allein ist bereits genug, um einen Betrug anzunehmen. Auch ohne Nachweis des genauen Modus eines Betruges, muss dieser bis zum Beweis des Gegenteils unterstellt werden, wenn eine so eklatante Sicherheitslücke im System der Wahlurnen den Verantwortlichen mitgeteilt, aber nicht ausgeräumt wird. Der Verlauf der Wahlauszählung bestätigte dann auch in der Wahrnehmung vieler den Verdacht, dass ein Betrug beabsichtigt und dann, angesichts der für Lula ungünstigen ersten Hochrechnungen nach der Schließung der Wahllokale, auch praktiziert wurde. Das gilt für beide Wahlgänge, denn in beiden zeigte sich zunächst ein klarer Vorsprung für den amtierenden Präsidenten. Alle, ausnahmslose alle, weiteren Aktualisierungen zeigten jedoch eine stetige Zunahme des für den Herausforderer Lula gezählten Stimmenanteils, bis schließlich in der Stichwahl nach Auszählung von 67 Prozent der Stimmenanteile eine Mehrheit auf Lula anzufallen schien. Dieser scheinbare Vorsprung vergrößerte sich dann stetig bis zum Ende der Auszählung.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich ein Wahlergebnis unter Umständen auch im Verlauf fortschreitender Hochrechnungen entscheidend dreht. Das ist nicht der Punkt. Was jedoch auffiel, war die lineare Stetigkeit des Einschmelzens des anfänglichen Vorsprungs von Bolsonaro zugunsten des Herausforderers — die Stetigkeit wirkt artifiziell, nicht organisch.
Dies in beiden Wahlgängen. Es liegen noch weitere Indizien für Betrug vor, deren Natur komplexer ist. Sie gehen aus einer Analyse der Unterschiede der Ergebnisse verschiedener Urnenmodelle hervor. Es wurden Urnenmodelle von 2009 bis 2020 eingesetzt und ein Vergleich der Ergebnisse der einzelnen Urnenbaujahre ergibt erhebliche Diskrepanzen, obgleich die verschiedenen Modelle im Wesentlichen gleichmäßig verteilt im Land eingesetzt wurden.
Drohung des Wahlgerichtspräsidenten
Ich will aber hier nicht näher auf Details dieser statistischen Analysen eingehen. Noch verdächtiger als diese Diskrepanzen und der lineare Verlauf der Hochrechnungskurve zugunsten Lulas war dann zudem die bereits unmittelbar am Tag nach der Bekanntgabe des Ergebnisses ausgestoßene Drohung des Präsidenten des Wahlgerichts, Alexandre de Moraes, dass jede Infragestellung der Regularität des Wahlvorgangs als Verbrechen gewertet werde — Verbrechen, nicht etwa Ordnungswidrigkeit, was ja auch bereits besorgniserregend genug wäre. Es sei nicht erlaubt, bei Androhung von Gefängnisstrafe, die Integrität der Urnen in Frage zu stellen — erklärte derselbe Richter, der die Streitkräfte um eine Beurteilung der Integrität der Urnen gebeten hatte, dann aber das Ergebnis dieser Beurteilung ignorierte.
Doch damit nicht genug: Nach der Stichwahl wurden die IT-Leute der Streitkräfte vereinbarungsgemäß erneut dazu eingeladen, ihre Expertise abzugeben. Dafür erhielten sie Zugang zu Computern der Wahlorganisation, zumindest auf den ersten Blick. Als Zugangsbedingung wurde ihnen jedoch das Mitbringen von Speichermedien verwehrt ebenso der Einsatz eigener Computer. Den Inspektionsraum durften sie nur mit Kugelschreiber und Notizpapier betreten. Diese Umstände sind im Bericht der IT-Spezialisten der Streitkräfte festgehalten und werden seitens der Wahlverwaltung nicht in Abrede gestellt. Der Quellcode umfasst, so heißt es, 17 Millionen Zeilen Programmcode, die die IT-Experten unmöglich mit der erlaubten Ausstattung prüfen konnten, ganz zu schweigen vom Prozess der Kompilierung dieses Codes. Das Verhalten des Wahlgerichts ist also eine offene Provokation der Streitkräfte und dient der Verhinderung einer „Auditoria“ (Begutachtung).
Offensichtliche Lüge
Dem Ganzen wurde anschließend noch die Krone aufgesetzt, indem der Präsident des Wahlgerichtes tatsachenwidrig behauptete, die Begutachtung habe keinerlei Unregelmäßigkeiten der Urnen aufgezeigt. Eine offene Netzwerkverbindung ist also keine Unregelmäßigkeit, so das Wahlgericht. Die Militärs antworteten mit einer Richtigstellung: Es sei eine Unregelmäßigkeit festgestellt worden, in Form einer Netzwerkverbindung unklarer Natur beim Vorgang der Kompilierung des Quellcodes der Urnensoftware. Natürlich kann niemand mit Bleistift und Notizblock eine konkrete Unregelmäßigkeit bei der Kompilierung einer Urnensoftware nachweisen. Das, so darf vorausgesetzt werden, ist dem Wahlgericht sicher nur allzu gut bekannt.
Deshalb hat es den Einsatz geeigneterer Arbeitsmittel bei der Begutachtung untersagt, so darf ohne Überdehnung der Vorstellungskraft geschlossen werden. Ist ein anderes Motiv von Seiten des Wahlgerichtes vorstellbar, das dieses veranlassen könnte, eine vorher ausdrücklich vereinbarte Begutachtung des Systems zu vereiteln — eine andere Absicht als Betrug? Die Begutachtung wurde vereinbart, um die Gegner elektronischer Wahlurnen dieses Typs zu besänftigen und zu einer Zustimmung zum rein elektronischen Verfahren zu bewegen. Dann aber wird die Begutachtung nach der Wahl vereitelt. Ein weiterer Betrug also. Kann man zu einem anderen Urteil kommen? Wer so viel betrügt, dem glaubt man nicht mehr, gerade weil er die Proteste mit Haftandrohungen ersticken will.
Legendär sind auch die zahlreichen Zensuren von Unterstützern Bolsonaros, zum Beispiel des Kanals „Jovem Pan“ und des Info-Portals „Brasil paralelo“. Der Opposition wird Strafverfolgung angedroht — wer die Verhältnisse in den Gefängnissen Brasiliens kennt, weiß, was das bedeutet. Es ist lebensbedrohlich. Radio-Wahlsendungen Bolsonaros wurden nicht ausgestrahlt — natürlich war keine Zeit mehr, diese Manipulation der öffentlichen Meinung noch vor der Wahl zu korrigieren — ein bedauerlicher Fehler, so die Verantwortlichen der Programme. Ich glaube nun auch nicht, dass damit eine reale Mehrheit für Lula herbeimanipuliert wurde. Sie zeigt nur, welche Mittel die Opposition einsetzte, um zu ihrem Ziel zu gelangen, Lula als Präsidenten zu installieren. Alle, und vor allem auch illegale.
Parteiischer Richter
In diesem Zusammenhang soll auch ein weiterer Hintergrund der gegenwärtigen Proteste nicht unerwähnt bleiben: Die aus Sicht eines großen Anteils der Bevölkerung unrechtmäßig erfolgte Freisetzung Lulas aus dem Gefängnis im Jahr 2020 durch einen Beschluss des Obersten Gerichtshofes, STF. Alle Richter des STF — mit Ausnahme eines einzigen — wurden von Lula und seiner Parteifreundin Rousseff in den Jahren 2002 bis 2016 berufen. Dabei ist es unbestritten, dass es sich nicht um einen Freispruch nach Revisionsverhandlung handelte — also unter Würdigung des Sachverhaltes —, sondern um eine Annullierung aus formalen Gründen der vorher erfolgten, und in mehreren Instanzen bestätigten Verurteilungen Lulas wegen Geldwäsche und passiver Bestechung.
Das STF argumentierte dabei, dass der für die erste Verurteilung Lulas verantwortliche Richter, Sergio Moro, parteiisch gewesen sei, die folgenden Instanzen mit seiner Beweisführung getäuscht habe und insofern auch die Bestätigungen seines Urteils durch diese, ja immerhin von Moro völlig unabhängigen Richter, keine Gültigkeit haben dürften. Eine abenteuerliche Argumentation — zwei höhere Instanzen ließen sich also von einem untergeordneten Provinzrichter täuschen und gelangten dadurch zu falschen Urteilen — und das im Angesicht der Brisanz des Falles. Diese Argumentation hat hier natürlich kaum jemand für glaubwürdig gehalten.
Vor diesem Hintergrund ist die Zulassung Lulas aufgrund seiner Haftannullierung einem großen Teil der Bevölkerung nicht zu vermitteln. Die Freilassung erfolgte in der Hochzeit der Coronawelle, während der öffentliche Kundgebungen untersagt waren.
Hinzugenommen die aktive Verhinderung einer Begutachtung des Wahlvorgangs mit offenem Bruch des Versprechens, eine Begutachtung zu ermöglichen, ergibt sich ein verständlicher massiver Protest mit dem Ruf nach einer Intervention. Intervention durch wen, ist aber dann doch die erste Frage. Welche Instanzen haben überhaupt noch Glaubwürdigkeit? Und zwar möglichst doch für beide Seiten? Gerichte, welche? Ich sehe keine.
Alle höheren Gerichte Brasiliens sind nach nur vier Regierungsjahren Bolsonaros immer noch fest in der Hand der Lula- und Rousseff-berufenen linken Richter. Das Militär? Bolsonaro selbst ist ehemaliger Militär und hat aus seiner Affinität zum Militär nie einen Hehl gemacht. Verschiedene Militärs, die eher dem linken Spektrum zugerechnet werden, wurden zuletzt aus ihren höheren Funktionen entlassen, wie man hört. Das disqualifiziert nun aber leider auch das Militär hinsichtlich einer neutralen Vermittlung. So stellen sich die Fronten im Moment erschreckend verfestigt und unversöhnlich dar. Es gibt keine Verfassungsorgane mehr, die Glaubwürdigkeit besitzen. Es besteht die Gefahr eine Militärintervention als einziger verbliebener Möglichkeit der Lösung des Konflikts.
Eine Zusammenfassung
Jegliche Behauptung, dass Lula ein legitimer Wahlsieger sei, hat keine Basis, solange nicht die Integrität des Wahlsystems bezeugt werden kann. Sie kann aber nicht einmal untersucht werden, weil eine solche Untersuchung seitens des Wahlgerichtes nicht zugelassen wurde — im Gegensatz zur vorher getroffenen Vereinbarung.
Eine Militärintervention wäre also keine Überraschung, erzeugte jedoch die Frage, wie Bolsonaro nach einer solchen Intervention, dann ja vermutlich zu seinen Gunsten, noch als Präsident Brasilien in der Welt vertreten will? Es darf bezweifelt werden, dass er als legitimer Präsident anerkannt würde. Meine persönliche Meinung ist, dass er sich nach einer solchen Entscheidung als Übergangspräsident bis zu Neuwahlen verstehen müsste, ohne eine erneute Kandidatur in Betracht zu ziehen. Seine erste und einzige Aufgabe müsste dann jedoch naturgemäß sein, ein fälschungssicheres Wahlsystem einzurichten, um das Vertrauen der Bevölkerung in das Wahlverfahren wieder herzustellen. Das wäre die sauberste Lösung in einem Konflikt, den man aus europäischer Sicht kaum in aller Tragweite verstehen kann. Das Manko dieses Models ist, dass eine Mehrheit der Bevölkerung Bolsonaro als Präsidenten will und nicht einen Bolsonaro-Ersatz — so zumindest mein Eindruck.
Europa und die sogenannte zivilisierte Welt muss aufpassen, sich nicht auch in diesem Konflikt auf die falsche Seite zu stellen. Neutrale Unterstützung für eine wirklich faire Wahl wäre hilfreich, wenn auch gleich als Lösung eher unwahrscheinlich: Fast alle europäischen Regierungen haben ja bereits ihr Wohlwollen über die Wahl Lulas bekundet, also keine neutrale Position eingenommen und damit eine Vermittlerrolle bereits de facto ausgeschlossen — vielleicht zum Teil aus Ignoranz, zum größeren Teil aber vermutlich aus Voreingenommenheit zugunsten eines sozialistischen Kandidaten.