Hinter der Moral
Diktatoren sind auch nicht mehr, was sie früher einmal waren. Juan Guiadó ruft zum Putsch auf, verbündet sich mit fremden Mächten gegen die eigene Regierung, ermuntert sie gar zur nach Venezuela. Der Diktator Nicolás Maduro hat ihn nicht an der Einreise gehindert. Guiadó wurde nicht erschossen, nicht entführt. Die Presse und Fernsehsender konnten Bilder von seiner Rückkehr machen und senden.
In dieser Diktatur, die doch nach den Berichten der westlichen Mainstream-Medien jegliche Meinungsfreiheit unterdrückt, durfte sich Guiadó in der Mitte seiner Anhänger hinstellen und zu neuen Protesten und zur Absetzung des Staatsoberhauptes aufrufen. Und der blutrünstige Diktator Maduro lässt das alles geschehen, lässt nicht die Massen zusammenschießen, nicht einmal zusammenknüppeln wie der gute Demokrat Emmanuel Macron die Gelbwesten.
Jamal Kashoggi wurde wegen geringerer Vergehen von den Häschern Saudi-Arabiens zerstückelt, des „strategischen Partners“ der Bundesregierung. Und den Führern der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wird gerade der Prozess gemacht wegen Rebellion. Ihnen drohen langjährige Haftstrafen. Aber werden Sanktionen gegen Saudi-Arabien verhängt, gegen Spanien? Nein, der Wertewesten erlässt jedoch neue gegen Venezuela und Kuba. Da fällt es schwer, dem Gerede von der Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit der Werte zu glauben, die die selbsternannten Guten im Westen immer vor sich her tragen wie eine Monstranz.
Mittlerweile versteckt sich schon fast niemand mehr hinter Moral und dem Menschenrechtsgefasel. Die Werteorientierung wird seit dem Libyenkrieg angesichts des westlichen Handelns immer unglaubwürdiger.
Sie ist in der praktischen Politik des Wertewestens kaum mehr zu erkennen. So verlautet aus Washington ganz unverhohlen, Maduro müsse gestürzt werden. Denn inzwischen ist es ja selbst den Blauäugigsten offensichtlich klar geworden, dass man den Regimewechsel in Venezuela will — Demokratie hin, Rechtsstaatlichkeit her.
Es geht also nicht mehr um Recht und Moral. Es geht nur noch um die Durchsetzung der eigenen Interessen. Die der betroffenen Bevölkerung verlieren immer mehr an Bedeutung, wenn sie denn jemals eine hatten unter dem Feigenblatt der Menschenrechts-Propaganda.
Gute Diktatoren
Und während die Hoheits-Medien im Westen noch immer das Klagelied von der venezolanischen Diktatur singen, um den letzten Gutgläubigen noch das Hirn zu vernebeln, treffen sich die Spitzen der europäischen Wertenationen mit den Spitzen der Menschenrechtsverletzer, Diktatoren und absolutistischen Herrscher des Nahen Ostens in Scharm el Scheich. Da waren die westlichen Medien sehr diskret. Dieses Treffen wurde nicht zum medialen Mittelpunkt aufgebauscht wie die drei Container auf der Brücke zwischen Venezuela und Kolumbien.
Anders als in Venezuela ging es hier nicht um Menschenrechte und die Armut der Bevölkerung, die in Ägypten sicherlich dramatischer ist als in Venezuela. Die westlichen Hilfsmittel, die man dort mit Gewalt über die Grenze bringen wollte, hätten die Menschen in den Flüchtlingslagern der in Scharm el Scheich versammelten Staaten sicherlich mit Kusshand genommen. Auch die Repression war kein Thema, obwohl diese in den meisten der versammelten Staaten herrscht und sich sicherlich mit der messen kann, die der Wertewesten überall in Venezuela zu sehen glaubt. Sie hinderte auch die Verfechter der Menschenrechte nicht daran, sich mit Despoten an einen Tisch zu setzen, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht kennen in ihrem Herrschaftsbereich, geschweige denn zulassen. Alles das störte jene nicht, die in Venezuela die westlichen Werte gefährdet sehen.
Harte Werte
In Scharm el Scheich ging es um Wichtigeres als Werte und Ideale. Es ging um materielle Werte. Da sind Ideale eher störend. Es ging um die Zukunft des Nahen Ostens, die wirtschaftliche, aber auch die politische. Und da treffen sich wieder die Interessen des Westens in dieser Region mit seinen Interessen in Venezuela. Auch hier geht nur vordergründig um ideelle Werte, in Wirklichkeit aber um materielle. Nur sind in diesen beiden verschiedenen Weltregionen andere Schritte möglich und nötig, um zum Erfolg zu kommen.
Es geht nicht ums Öl, wie so viele glauben. Es geht um Wichtigeres. Es geht um Marktzugang. Öl ist weltweit genügend vorhanden. Es herrscht mittlerweile sogar eine Ölschwemme, die den Preis des Rohstoffs verfallen lässt. Die meisten Ölquellen sind zudem in den Händen von westlichen Konzernen beziehungsweise Raffinerien, die das Öl zu Treib- und Brennstoffen sowie zu Grundstoffen für die chemische Industrie weiterverarbeiten. Die USA sind durch das Fracking sogar vom Ölimporteur zum Exporteur aufgestiegen.
Wie bedeutsam der Marktzugang für die westlichen Industrienationen ist, verdeutlicht die amerikanische Handelspolitik. Erst gestern drohte Donald Trump, Indien die Vergünstigungen zu streichen, weil „die Regierung in Neu-Delhi den Vereinigten Staaten trotz intensiver Gespräche bislang keinen gerechten und angemessenen Zugang zum indischen Markt gewährleiste“ (1). Auch in der Auseinandersetzung mit China ist das eine immer wiederkehrende Forderung der USA und des Westens insgesamt.
Seit Trump an der Regierung ist, fordert er offensiv und öffentlich, was früher in den Hinterzimmern diskret verhandelt wurde.
Vielen Ländern haben die USA mittlerweile Verträge gekündigt, um neue Bedingungen für den Zugang amerikanischer Waren und Unternehmen zu erzwingen. Begonnen haben sie mit Mexiko und Kanada. Es folgten Südkorea und andere. Zur Zeit ist Indien ins Visier der Amerikaner geraten. Die Liste ist lang und aus Sicht der USA noch unvollständig.
Hintergrund ist: Die USA wollen weltweit mehr Marktanteile haben für die eigene Industrie, das eigene Finanzwesen. Und um dies zu erzwingen, belegen die USA chinesische Waren mit Zöllen, auch um die eigene Handelsbilanz zu verbessern. Aber die USA stehen nicht alleine da mit ihrer Forderung. Auch Deutschland und die EU wollen mehr vom chinesischen Kuchen abbekommen. Sie wollen weniger Konkurrenz und mehr Teilhabe an öffentlichen Ausschreibungen. Und weil sie nicht bekommen, was sie haben wollen, werden hierzulande Gesetze geändert, um die Möglichkeiten chinesischer Firmen für Investitionen zu beschränken, nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir. Wenn wir nicht mehr in China investieren dürfen, dürft ihr euch auch nicht mehr an deutschen Firmen beteiligen oder diese aufkaufen.
Alle Verhandlungen der Staatschefs, zumal wenn sie begleitet werden von Wirtschaftsdelegationen, drehen sich um das Thema Marktzugang. (2)(3) Gleiches gilt für die Freihandelsabkommen und die Angleichung von Zollbestimmungen sowie für Investitionsschutzabkommen zwischen den Staaten. Immer ist darin der Marktzugang von Investoren und Unternehmen geregelt. Und die Begehrlichkeiten besonders der westlichen Staaten wachsen, weil ihre Produktionskapazitäten so groß sind, dass sie eigentlich noch mehr herstellen und verkaufen könnten, wenn man sie denn ließe.
Sanktionen werden stumpf
In den vergangenen Jahren haben sich die führenden kapitalistischen Staaten des Westens aufgrund ihrer technologischen Überlegenheit des Mittels der Sanktionen bedienen können. Staaten, die sich wirtschaftlich entwickeln wollten, waren auf westliche Technik und Know-how angewiesen. Diese starke Stellung nutzte der Westen, um ihren „Handelspartnern“ Bedingungen zu stellen, die nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer Natur waren. Vorrangige politische Forderung war die demokratische Öffnung für ein Mehrparteiensystem. Dieses ermöglichte es den westlichen Staaten über die Parteien dieser demokratisierten Länder Einfluss zu nehmen auf die Regierungen, die sich aus diesen Parteien zusammensetzten.
Es geht dabei nur vordergründig um die politische Willensäußerung der Bevölkerung. Diese Möglichkeit der Einflussnahme über Parteien war seinerzeit unter den sozialistischen Staaten nicht gegeben, aber auch nicht unter den Einparteien-Staaten des Nahen Ostens wie Syrien oder Irak, ebenso in den Staaten, die heute noch von Kommunistischen Parteien geführt werden, wie China Vietnam und Kuba. Deshalb auch die Verteufelung dieser Systeme.
Mit dem wirtschaftlichen Erstarken Chinas und der Erringung von Führungspositionen in bestimmten Technologiebereichen wie beispielsweise der Netzwerktechnik (ZTE und Huawei) schwindet die Möglichkeit des Westens, auf technologisch „unterentwickelte“ Staaten Druck auszuüben.
Wenn es zum Angebot des Westens eine Alternative gibt, verlieren Sanktionen viel von ihrer Wirkung. Wo der Westen seine Bedingungen unter dem Label von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen will, etabliert sich China als gleichwertiger Anbieter von Technologie.
Auf diese Entwicklung war der Wertewesten nicht vorbereitet. Zu spät hat er erkannt, dass China nicht mehr die Werkbank der Welt ist, sondern sich zum Technologieführer entwickelt. Niemals zuvor hat der Wertewesten so viele Sanktionen gegen andere Staaten ausgesprochen. Aber diese scheinen immer mehr ihre Wirkung zu verlieren. Diese Waffe wird zunehmend stumpfer.
Der Westen verliert
Das bekommen die USA jetzt in ihrem Hinterhof Südamerika zu spüren. China löst die Amerikaner in vielen Staaten ab als Geldgeber und Investor. Die Chinesen stellen keine Bedingungen, bieten Konditionen, die den Interessen der Schuldner entgegenkommen, und sind im Gegensatz zum Westen kapitalstark. Sie sind nicht mehr nur die Werkbank der Welt, nicht nur immer öfter Technologieführer, sondern auch die Spardose der Welt.
China verfügt über Währungsreserven von etwa 3 BILLIONEN Dollar. Zudem ist sein politischer Apparat in der Lage, schnell und weitgehend frei von sich gegenseitig bekämpfenden Interessen, Entscheidungen zu treffen. Während die westliche Afrika-Initiative händeringend nach privaten Investoren sucht, um dem chinesischen Engagement auf dem Kontinent Paroli zu bieten, baut China seinen wirtschaftlichen Einfluss dank der Kredite, die es aus seinem Staatsschatz vergeben kann, unaufhaltsam aus. Darin drückt sich nicht nur wirtschaftliche sondern auch — zu allem Unmut des Westens — die Überlegenheit eines politischen Systems aus, das die westlichen Staaten aufgrund seiner Geschlossenheit als autokratisch bezeichnen. Aber in Wirklichkeit ist China nicht so sehr zersetzt von unterschiedlichen Interessen, die gegeneinander arbeiten.
Gleiches gilt auch für die Neue-Seidenstraße-Initiative, die mittlerweile eine neue Infrastruktur in ganz Zentralasien geschaffen hat. Da können die alten kapitalistischen Staaten nicht mithalten, die zum einen untereinander zerstritten sind und dann auch noch unter den Unternehmen, die miteinander konkurrieren. Und das ist auch die Erfolgsgeschichte Chinas in Südamerika: Sie ermöglicht es Ländern wie Venezuela, sich aus den amerikanischen und westlichen Daumenschrauben zu befreien. China gewährt Kredite und lässt sich die Zinsen in venezolanischem Öl bezahlen. Das dient dem Ölhunger Chinas und schont Maduros Devisenreserven, die unter den Sanktionen und Kontosperren des Wertewestens dahinschmelzen.
Währenddessen glaubt der Westen noch, in Syrien beim Wiederaufbau des Landes unentbehrlich zu sein. Er meint, nach dem Krieg, der nun immer offensichtlicher für den Westen verloren geht, noch politische Bedingungen stellen zu können. Stattdessen beginnt der Wiederaufbau unter chinesischer, russischer und iranischer Regie. Während der Westen noch glaubt, Bedingungen zur politischen Gestaltung im Nachkriegssyrien stellen zu können, bemühen sich die arabischen Staaten wieder um Kontakt zu Syrien. Hatte der Westen schon beim Astana-Format über eine Friedensregelung für Syrien schmollend im Abseits gestanden, weil niemand dort nach seiner Pfeife tanzte, so muss er nun schon wieder vom Seitenaus zusehen, wie andere in Syrien den Aufbau gestalten und damit politischen Einfluss gewinnen und wirtschaftliche Aufträge erhalten.
Alle diese wirtschaftlichen und politischen Niederlagen, die der Wertewesten seit Beginn des Krieges gegen den Terror einstecken musste, offenbaren seine Hilflosigkeit, auf die veränderten Bedingungen in der Welt angemessen zu reagieren.
Er baut nach wie vor auf sein altes Muster, das er bisher mit Erfolg angewendet hatte: politischer, wirtschaftlicher und militärischer Druck. Und alle diese Schwerter werden immer stumpfer, je stärker China wird und nicht zuletzt auch Russland.
Russland gewinnt an Bedeutung
Wenn auch Russland wirtschaftlich noch nicht so stark ist wie China, was nicht zuletzt auch den Sanktionen gegen das Land geschuldet ist, so wird es politisch und militärisch immer bedeutender. Auch an dieser Front hat der Wertewesten in den letzten Jahren keinen Sieg davontragen können.
Die Versuche, in Georgien und der Ukraine neue NATO-Staaten gegen Russland aufzubauen, führten nur zur Schwächung der beiden mit Gebietsverlusten, zu innerer Instabilität und wirtschaftlichem Niedergang. Im Nahen Osten hat Russland sogar inzwischen die USA als Ordnungsmacht abgelöst.
Der Sieg Assads und die Niederlage der westlichen Regime-Change-Versuche gehen zurück auf die militärische Stärke Russlands und seine diplomatischen Qualitäten. Diese sind nicht getrieben von idealistischer Selbstüberschätzung, sondern von materialistischer Analyse der Lage und der Kräfteverhältnisse. Mit der Annäherung der Türkei an Russland bröckelt die Ostflanke der NATO. Iran ist erstarkt und Saudi-Arabien wirkt immer mehr überfordert in seiner Rolle als strategischer Partner des Westens und neue Ordnungsmacht.
Nun hat sich Russland auch in Venezuela und damit vor der Haustür der USA festgesetzt. Anders als noch zu Sowjetzeiten kann sich Russland das heute auch finanziell leisten, und da die Russen nun keine Kommunisten mehr sind, sticht die ideologische Gegen-Propaganda heute nicht mehr. Keiner muss mehr davor Angst haben, von den Russen enteignet zu werden, nicht einmal die Reichen. Die Armen befürchteten das sowieso nie.
Zwei russische Bomber und Milliarden russischer Investitionen scheinen jedenfalls so viel Eindruck auf die USA zu machen, dass sie von einem militärischen Abenteuer gegenüber Venezuela bereits offiziell Abstand genommen hat. Auch die Partner in der Region haben den Wünschen Guaidós nach militärischem Eingreifen eine Absage erteilt.
Wie lange noch?
Nun ist Guaidó entgegen der Einschätzung vieler wieder in Venezuela. Es bleibt abzuwarten und zu beobachten, wie sich die venezolanische Regierung weiterhin gegenüber der Opposition verhält. Denn die Nachsicht gegenüber Guaidó ist für Außenstehende unverständlich. Es bleibt auch zu beobachten, wie sich die Venezolaner verhalten, wem sie ihr Vertrauen schenken.
Die Bilder der Medien täuschen. Der große Zulauf in Caracas sagt nicht viel aus über die Stärke der Opposition. An der Grenze zu Kolumbien war davon nicht mehr viel zu sehen. Insofern war die Kraftprobe um die Hilfslieferungen nicht nur ein Test für Maduro und die Armee, sondern auch für Guaidó und seine Anhängerschaft. Diese Schlacht hat Guaidó verloren. Die Armee stand zu Maduro. Aber die Hunderttausende Helfer, von denen Guaidó noch Tage zuvor gesprochen hatte, waren an der Grenze nicht zu sehen. Konzertbesucher sind keine Kämpfer.
Der Machtkampf um Venezuela wird nicht alleine in Venezuela entschieden. Nicht zuletzt deshalb wird er auch von den USA und den anderen westlichen Staaten so erbittert geführt.
Es geht nicht alleine um Venezuela. Es geht um die Vorherrschaft der westlichen Staaten, allen voran der USA, gegenüber dem Rest der Welt. Mit jedem Land, das sich dank russisch-chinesischer Hilfe aus dem Schwitzkasten des Westens befreien kann, wird die Front der Staaten stärker, die den alten kapitalistischen Führungsnationen Paroli bieten. Der Kapitalismus wird dadurch nicht beseitigt. Vielleicht aber sinkt bereits der Stern derer, die ihn bisher bestimmt haben.
Quellen und Anmerkungen:
(2) Hier sei erinnert u.a. an die Saudi-Arabien-Reise Trumps 2017
(3) https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2017/05/13/warum-assad-gestuerzt-werden-soll/