Die meisten Menschen gehen davon aus, dass ein Psychotrauma nur durch große Katastrophen entsteht wie etwa durch Gewaltverbrechen, Entführungen, Naturkatastrophen, Terrorismus, Krieg, Folter oder schwere Unfälle. Die wenigsten wissen, dass Psychotraumata in den meisten Fällen innerhalb der Familie entstehen, durch emotionale Vernachlässigung, psychische und physische Gewalt, aber auch in Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern.
Wenn Menschen, die durch familiäre oder institutionelle Gewalt psychisch traumatisiert wurden und entsprechende Symptome entwickeln, wissen sie häufig selbst nicht, was mit ihnen los ist. Da sie von klein an diese Gewalt gewohnt sind, erscheint sie ihnen völlig normal — sie kennen es nicht anders. Es gab kein „davor“, so wie es bei großen Katastrophen der Fall ist. Das Opfer einer Naturkatastrophe zu werden, ist furchtbar, doch es gab für diesen Menschen ein Leben vor diesem Ereignis. Er weiß also, wie es sich angefühlt hat, bevor die Katastrophe über ihn hereingebrochen ist.
Das Leben vor dem traumatischen Ereignis kann dann eine Ressource sein. In der Regel gibt es Menschen, die Beistand leisten, denen sich Betroffene anvertrauen können und die mithelfen, dieses schreckliche Ereignis zu verarbeiten. Zudem gibt es oftmals eine breite Öffentlichkeit, die Anteil nimmt und Hilfe organisiert.
Ganz anders sieht das aus, wenn ein Kind in eine Familie hineingeboren wird und von Beginn seines Lebens an psychische und physische Gewalt erlebt. Zur psychischen Gewalt gehört alles, was Kinder abwertet, demütigt, beschuldigt oder vernachlässigt und auch die unklare und doppeldeutige Kommunikation.
Dabei gilt, was der Kinderrechtler und Anwalt Andrew Vachss berichtet:
„Emotionale Misshandlung von Kindern kann im Erwachsenenalter zu Abhängigkeit, Wut, einem ernsthaft beschädigten Selbstgefühl und zur Unfähigkeit, mit anderen echte Bindungen einzugehen, führen. (…)
Emotionale Misshandlung ist wohl die verbreitetste, aber auch die am wenigsten verstandene Form von Kindesmisshandlung. Über ihre Opfer wird oft hinweggesehen, einfach, weil ihre Wunden nicht sichtbar sind. In einer Zeit, in der neue Enthüllungen von unaussprechlichen Kindesmisshandlungen tägliche Kost sind, werden Schmerz und Qual jener, die ‚nur‘ emotionale Misshandlung erfahren haben, oft trivialisiert. Wir verstehen und akzeptieren, dass die Opfer von körperlicher und sexueller Misshandlung gleichermaßen Zeit wie eine spezielle Behandlung brauchen, um zu gesunden. Doch wenn es zu emotionaler Misshandlung kommt, glauben wir anscheinend, dass die Opfer ‚einfach darüber hinwegkommen‘, wenn sie Erwachsene werden.
Diese Annahme ist gefährlich falsch. Emotionale Misshandlung entstellt das Herz und schädigt die Seele. Wie Krebs verrichtet sie ihre tödlichste Arbeit im Inneren. Und wie Krebs kann sie, wenn sie unbehandelt bleibt, Metastasen bilden.“
Zu physischen Gewalt gehören der Schlag auf die Finger, der Klaps auf den Po, die Ohrfeige bis hin zu Prügel mit Gegenständen und zu sexuellen Gewalt. „Wenn es zur Schädigung kommt, gibt es keinen wirklichen Unterschied zwischen körperlicher, sexueller und emotionaler Misshandlung. Alles, was das eine vom anderen unterscheidet, ist die Wahl der Waffen des Misshandlers“, stellt Andrew Vachss fest.
Die verborgene Gewalt
Die innerfamiliäre Gewalt findet im Verborgenen statt und wird — auch heute noch — nur in wenigen Fällen bemerkt. Zwar findet man heute sehr viel weniger prügelnde Eltern als noch in der letzten Generation, doch dafür hat die psychische Gewalt zugenommen — ich nenne das auch gerne „die liebevolle konsequente Erziehung“.
Kinder, die von innerfamiliärer Gewalt betroffen sind, haben kein „Sprachrohr“. Sie können nicht darüber sprechen, was ihnen passiert, zumal es für sie normal ist, sie kennen es nicht anders. Sie haben gelernt zu dissoziieren, um ihr Leben erträglicher zu machen. Sie sind komplex traumatisiert, weil es kein Davor und kein Danach gibt, sondern nur ein „immer wieder“.
Oftmals treten Symptome wie Depressionen, Todesängste, Suizidgedanken, starke innere Unruhe oder auch körperliche Schmerzen, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Probleme bis hin zu Krebs erst im erwachsenen Alter auf. Die Kindheit wird nicht oder nur bruchstückhaft erinnert.
Die körperlichen Traumafolgen werden in der Regel schulmedizinisch behandelt, meist jedoch ohne großen Erfolg. Nur wenige Ärzte kommen auf die Idee nachzufragen, wie ihr Patient seine Kindheit erlebt hat. Und wenn tatsächlich mal einer fragt, kommt meistens die Antwort: „Ganz normal, da war nichts Besonderes.“ Weiter wird dann nicht gefragt.
Erst wenn keine schulmedizinische Behandlung hilft, heißt es auf einmal: Dann ist das wohl psychosomatisch.
Psychotherapeuten können den Schaden größer machen
Die Diagnose „psychosomatisch“ bedeutet demnach: Die Schulmedizin hat keine Lösung für die Probleme, also muss die Psyche „krank“ sein. Der Patient landet beim Psychotherapeuten; der soll es nun richten. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten nur für Behandlungen bei einem approbierten psychologischen Psychotherapeuten, von denen viele kein Traumakonzept haben.
So lernt der Patient dort im besten Fall, mit seinen Symptomen zu leben, ohne jedoch die Ursache zu erfahren. Die Betroffenen verstehen ihre Symptome nicht, sie wissen nicht, warum sie Panikattacken bekommen, warum sie depressiv sind, woher die ständigen Todesängste oder die permanente innere Unruhe kommt, warum sie sich so schlecht konzentrieren können oder so vergesslich sind.
Menschen, die aufgrund von Frühtraumatisierungen die obengenannten psychischen Symptome herausbilden, bekommen häufig eine psychotherapeutische Behandlung, die bestenfalls eine „Redekur“ ist, sie jedoch schlimmstenfalls noch mehr beschädigt.
Von den „Experten“ erfahren die Betroffenen dann oft, dass persönliche Defizite oder ein schwacher, unselbstständiger Charakter für die Symptome verantwortlich sind. Die beginnende Therapie konzentriert sich dann darauf, diese Defizite zu behandeln, ohne die wirklichen Ursachen gemeinsam mit dem Patienten zu erforschen.
Die jeweilige Therapiemethode wird in den Mittelpunkt gestellt und der Blick auf den betroffenen Menschen geht verloren. Eine Methode allein hilft einem traumatisierten Menschen aber nicht! Viel wichtiger ist die Beziehung auf Augenhöhe, die sich zwischen dem Therapeuten und dem Klienten entwickeln muss. Doch um das zu verstehen, bräuchte es ein Verständnis für die Auswirkungen frühkindlicher Traumatisierungen auf die Psyche.
Psyche und Körper bilden eine Einheit und solange wir glauben, entweder den Körper oder die Psyche behandeln zu müssen, können weder Ärzte und noch Psychotherapeuten traumatisierten Menschen eine Hilfe sein.
Immer wieder kommen Menschen in meine Praxis, denen von Psychotherapeuten vorgeworfen wurde, sie wollten gar nicht, dass es ihnen besser gehe, sie wären Therapieverweigerer oder gar Simulanten. Solche Botschaften beschädigen die ohnehin schon verletzte Psyche natürlich noch weiter. Wieder sind sie selbst schuld, wieder werden sie entwertet, wieder werden sie gedemütigt. So eine Behandlung ist ihnen vertraut und unglaublich viele Menschen lassen sich das auch gefallen und glauben, was man ihnen über sie selbst sagt — schließlich war es schon immer so. Sie landen in Selbstvorwürfen, halten sich selbst für schwach und unfähig. Das ist schlimm und grausam.
Trauma und Gesellschaft
Zudem haben wir in unserer Gesellschaft das Bild von einem Menschen, der sein Leben mühelos meistert, der erfolgreich seinen Mann oder seine Frau steht. Nur schwache Menschen bekommen ihr Leben nicht geregelt — die sind schließlich selbst schuld an ihrem Elend.
Dieses Menschenbild konnte nur entstehen, weil wir in einer traumatisierten Gesellschaft leben. Menschen, die sich komplett von ihrer eigenen Gefühlswelt abgespalten haben, fehlt auch das Mitgefühl für andere (2). Oftmals brüsten sie sich noch damit, was sie Schlimmes erlebt haben, ohne zu jammern und zu klagen. Die Reaktionen auf Menschen mit psychischen Symptomen sind dann aggressiv und kaltherzig, da heißt es dann: „Reiß dich mal zusammen, so schwer kann das doch nicht sein“ oder „Ich habe ganz andere Dinge erlebt als du, dir geht es doch gut.“
Jens Wernicke musste sich etwa anhören: „Was hast du denn nur immer, stell dich nicht so an, du warst doch nicht im Krieg!“. Dabei wird völlig vergessen, welche Todesängste ein Kind ausstehen muss, das sich nie sicher ist, nie weiß, was als nächstes passiert, nie vertrauen kann und immer mit einem nächsten Angriff auf seine noch so kleine Persönlichkeit rechnen muss. Der Schaden, den eine sich noch entwickelnde kindliche Psyche erleidet, die auf keinerlei Ressourcen zurückgreifen kann, ist immens und wird leider völlig unterschätzt. Ein Kind weiß nicht, ob es den nächsten „Anschlag“ überlebt, es weiß nicht, was es bedeutet, in Sicherheit zu sein…
Krieg ist Wahnsinn und Menschen, die einen Krieg überlebt haben, sind traumatisiert. Doch haben erwachsene Menschen ganz andere Bewältigungsstrategien zur Verfügung als ein kleines Kind. Und letztlich ist nicht entscheidend, wodurch die Todesangst ausgelöst wird — ob durch einen Krieg oder eine ständig bedrohliche und feindliche Familiensituation.
Solche harten und abweisenden Reaktionen kommen aus den Überlebensstrategien, die diese Menschen entwickeln mussten, weil die erlebten Traumata — also „die ganz anderen erlebten Dinge“ — nicht verarbeitet werden konnten. Das Leiden anderer Menschen können sie nicht ertragen, es erinnert sie an ihren eigenen Schmerz — und diesen dürfen und können sie nicht fühlen. Sie haben so viel Kraft und Energie aufgewendet, um zu überleben, dass sie aggressiv und abwertend geworden sind, um nicht mit sich selbst in Kontakt kommen zu müssen.
Und hier schließt sich dann der Kreis. Die „Hartgewordenen“ übernehmen keine Verantwortung für ihr eigenes Leid und traumatisieren somit wieder andere Menschen. Das sind dann oft Mütter und Väter, die keinerlei Feinfühligkeit für ihre Kinder haben oder hatten, die ihr eigenes Überleben nur damit sichern konnten, dass sie andere Menschen demütigen, abwerten, beschuldigen und verurteilen, die nicht genauso sind, wie sie selbst werden mussten.
Die Kindheit ist politisch
Kinder, die nicht geliebt und nicht gewollt sind, und die diesen unglaublich großen Schmerz ihrer Kinderseele nicht verarbeiten konnten, weil er sie umgebracht hätte, müssen sich mit der lieblosen Mutter oder dem unberechenbaren Vater identifizieren. Sie müssen glauben, dass sie selbst schuld sind, nicht geliebt und nicht gewollt zu sein. Sie fangen an, sich selbst zu hassen und dieser Hass ist unerträglich, sodass sie ihn auf andere Menschen übertragen, die sie dann hassen können. Im Großen entstehen so Gewalt und Hass in der Welt, wichtige Ursachen für Kriege, Terror, Diktaturen und Extremismus.
„Die Kindheit ist politisch“ lautet der Titel eines diesbezüglichen Buches von Sven Fuchs. Arno Gruen meinte dasselbe — und kritisierte den „Wahnsinn der Normalität“:
„Die Wurzeln der Destruktivität (…) (des Menschen liegen), (…) viel öfter, als es uns klar ist, hinter vermeintlicher Menschenfreundlichkeit oder ordnungsstiftender Vernunft (…) (verborgen). Arno Gruen (…) schafft die überzeugende Beweislage, dass (überall) dort, wo Innenwelt und Außenwelt keine Einheit bilden, verantwortungsvolles Handeln und echte Menschlichkeit ausbleiben.“
Das gilt natürlich auch für Ärzte und Therapeuten, die ihre Patienten beschimpfen, wenn sie nicht in der Lage sind, mit ihren eigenen Methoden das Leid zu beenden — sie können es nicht aushalten, nicht helfen zu können.
In dem persönlichen und politischen Bekenntnis des Rubikon-Herausgebers Jens Wernicke spricht er offen darüber, selbst schwer traumatisiert worden zu sein und Hilfe zu benötigen. Aus diesem Anlass haben Jens Lehrich und Dirk Fleck ein Gespräch mit einer jungen Frau geführt, die sexuelle Gewalt erlebt hat. Wir werden diesbezüglich Zeugen, dass es gelingen kann, einfühlsam zuzuhören und empathisch im Kontakt zu bleiben. Carmen, so heißt die junge Frau, wurde durch den Artikel von Jens Wernicke „Die Sehnsucht nach Leben“ ermutigt, auch ihre „Geschichte“ öffentlich zu machen.
Es gehört sehr, sehr viel Mut dazu, in einer Gesellschaft, in der Menschen überwiegend mit ihren Überlebensmechanismen agieren, von sich und dem erlebten Leid zu sprechen. Die Gefahr, sich wieder verletzbar zu machen ist groß!
„Unsere Fähigkeit, einander zu vernichten, entspricht unserer Fähigkeit, einander zu heilen“, schreibt Traumaforscher Bessel van der Kolk. Vielleicht gelingt es uns eines Tages, dass unsere Fähigkeit, einander zu heilen, so wachsen darf, dass wir damit aufhören können, uns gegenseitig zu vernichten. Jeder Mensch, der seine eigenen Traumata verarbeitet hat, ist ein friedliebender Mensch. Gewalt, Demütigungen und gegenseitige Abwertungen haben dann keinen fruchtbaren Boden und keine Zukunft mehr.
Es gilt heute mehr denn je, was Franco Basaglia bereits vor vielen Jahren schrieb:
„Es ist hohe Zeit, nicht nur von den großen Kriegen zu sprechen, sondern auch von dem kleinen Krieg, der den Alltag verwüstet und der keinen Waffenstillstand kennt: von dem Krieg im Frieden, seinen Waffen, Folterinstrumenten und Verbrechen, der uns langsam dazu bringt, Gewalt und Grausamkeit als Normalzustand zu akzeptieren. Krankenhäuser, Gefängnisse, Irrenhäuser, Fabriken und Schulen sind die bevorzugten Orte, an denen dieser Krieg geführt wird, wo seine lautlosen Massaker stattfinden, seine Strategien sich fortpflanzen — im Namen der Ordnung. Das große Schlachtfeld ist der gesellschaftliche Alltag.“
In diesem Sinne:
Hören wir auf, uns und andere zu traumatisieren! Hören wir auf, unsere Kinder mit Erziehung zu terrorisieren und ihnen diesen Terror als Liebe zu „verkaufen“! Das bedeutet auch, das Schweigen zu brechen. Fangen wir an, über das zu sprechen, was wir selbst an alltäglicher seelischer Gewalt und Grausamkeit erlebt haben oder immer noch erleben: ob von den Menschen, die uns lieben sollten, ob im Kindergarten, in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Krieg. Fangen wir an, uns als Menschen zu zeigen — so, wie wir wirklich sind.
Und helfen wir Jens Wernicke und anderen Betroffenen!
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.rubikon.news/artikel/die-sehnsucht-nach-leben-2
(2) https://www.youtube.com/watch?v=U7cyeqgNgH8