Die Organisatoren der Münchner Mahnwache errichteten das kleine Veranstaltungsset auf dem schattigen Professor-Huber-Platz vor der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) unter grellem Sonnenschein und in milder Sommerluft. Ein Wetter, welches Julian schon seit Jahren nicht mehr erleben durfte. Die Mahnwache bestand aus einer Plakat-Installation und einer improvisatorisch errichteten Kulisse, die eine Guantanamo-Zelle darstellen sollte. In ihr saß, in einen orangefarbenen Gefangenen-Overall gekleidet und mit einer schwarzen Stofftüte auf dem Kopf, ein Mann auf einem Stuhl. Eine regungslose Inszenierung, die eines der Verbrechen darstellen sollte, die durch Wikileaks-Journalist Assange aufgedeckt wurden.
Die Mahnwache vor dem Gebäude der LMU München. Foto: Nicolas Riedl
Die etwa einstündige Mahnwache war dankenswerterweise kein Redenschwinger-Event. Drei Geigenspieler und -spielerinnen musizierten wunderschön und gedachten damit wortlos, aber vielsagend des Assange angetanen Unrechts. Die gesamte Inszenierung, im Besonderen die musikalische Darbietung, war durchgehend geschmack- und stilvoll. Davon könnten sich Querdenken und ähnliche Grundrechtsdemos eine Scheibe abschneiden; dort sind Schlagersongs keine Seltenheit.
Und apropos Querdenken und Co: Im Vergleich zu den eben genannten Demos war das Polizeiaufgebot bei dieser Veranstaltung — obwohl im Herzen der söderischen Landeshauptstadt — minimal bis nicht existent. Lediglich wenige Minuten vor Veranstaltungsbeginn sah ein Streifenwagen nach dem Rechten und fuhr dann wieder weg. Es wurde nicht einmal der Maskenzwang kontrolliert.
Abseits der Mahnwache zeigte sich anhand der vorbeischlendernden Passanten, die meisten von ihnen Studenten, warum die sonst so rigide Exekutive Bayerns bei dieser Veranstaltung so leger unterwegs war. Während die Coronamaßnahmen-Kritikveranstaltungen an dem derzeit alles bestimmenden Narrativ kratzen und die Gefahr bergen, Menschen vom Corona-Kult abzubringen, verhielt es sich bei dieser Mahnwache gänzlich anders.
Kein Mensch wusste, worum es bei dieser Mahnwache ging!
Und wenn keiner weiß, worum es eigentlich geht, und das gute Wetter auch nicht dazu einlädt, länger am Veranstaltungsort zu verweilen, um sich tiefergehend damit zu beschäftigen, besteht für die Herrschenden auch keine sonderliche Gefahr. Doch verdient die peinliche Unwissenheit der — jungen — Passanten eine genauere Betrachtung.
Assange? Lasagne? Was ist dieses Assange?
Zu einer Aufführung gehören immer zwei. Darsteller und Zuschauer beeinflussen sich wechselseitig. So sind auch die Zuschauerränge — in diesem Fall der Bürgersteig — eine weitere Bühne. Auf der Bürgersteig-Bühne präsentierten die unfreiwilligen Darsteller ihre blanke Unwissenheit. Dieses Theaterensemble bestand überwiegend aus jungen Studenten und Studentinnen zwischen 18 und 24 Jahren.
Im Vorbeigehen blickten sie angestrengt — manchmal mit zusammengekniffenen Augen — auf die Plakate und versuchten, den Anlass der Veranstaltung zu erfassen. Meist als Grüppchen unterwegs, gab es immer eine oder einen, der das Schild laut und langsam vorlas:
„Free A...ssang...e“. Mal falsch, mal richtig ausgesprochen, verblieb der oder die Vorlesende erst einmal ratlos und wandte sich dann hilfesuchend an eine der Begleitpersonen: „Was/Wer ist Assange?“. Entweder war der Rest der Gruppe ebenso unwissend oder sogar falschwissend. Eine Studentin erklärte ihrem Hipster-Kommilitonen: „Das ist sowas mit Russland.“
Alles klar.
Eine andere junge Studentin tat sich sichtlich schwer, den Namen überhaupt richtig auszusprechen: „A...sang..gne? Lasagne?“ Sie verstummte, als mein entsetzter Blick sie traf. Hinter ihr hetzte ein Lieferando-Radler — vielleicht mit einer echten Lasagne an Bord — vorbei.
Verschollen, vergessen, verstorben
In dem ganzen regen Treiben am Professor-Huber-Platz vor der LMU fiel die Mahnwache aus dem Bild, stellte einen Fremdkörper dar. Radfahrer und Autos klingelten und hupten, um an den Mahnern vorbeizukommen. Studenten, die sich bei dem Springbrunnen am Platz verabredet hatten, umkreisten die Veranstaltung wie einen nicht entfernten Hundekothaufen auf dem Bürgersteig. Die Menschen würdigten die Mahnwache allenfalls mit verständnislosen Blicken und wandten sich dann wieder ab, um eine Freiheit zu genießen, die dem gefangenen Assange seit rund zehn Jahren verwehrt wird. Den sonst so „woken“ — das heißt politisch aufgeweckten und sensibilisierten — Studenten war der Name eines der größten Dissidenten und mutigen Helden unserer Zeit kein oder nur ein falscher Begriff.
2021 kennen Studenten 874 Geschlechter, aber keinen Julian Assange. Leuchtet die Münchner Allianz-Arena nicht in Regenbogenfarben, dann tobt die Studentenstadt. Bekommt Julian seit Jahren nur graue Wände zu sehen, nehmen die Studenten davon nicht einmal Notiz.
Und wo waren eigentlich die Studenten auf der Veranstalterseite? Schließlich fand diese direkt vor den Toren der Uni statt. Es gab keine. Zumindest dem Anschein nach. Von rund dreißig Teilnehmern hätte man bei zweien aufgrund des Alters darauf schließen können, dass sie eventuell Studenten sind. Der Rest war weit über 40.
Aber kann man es den Studenten der heutigen Zeit überhaupt verübeln? Dass sie Assange nicht kennen? Wie sollen sie denn von Julian Assange Wind bekommen haben, wenn der eigene Fokus, vom Mainstream-Winde verweht, stur auf andere Themenfelder gerichtet wird? Ein Böhmermann berichtet schließlich nie über Assange. Bei der Amadeu-Antonio-Stiftung muss man sich wohl den Mund mit Seife waschen, wenn man den Namen nur ausspricht. Die Faktenchecker sind wie so oft auch bei diesem Thema völlig „vercheckt“. Auf Instagram spielt Assange wohl auch keine Rolle — er hat ja keine Follower. Und Leaks von Wikileaks finden sich sicherlich nur schwer auf TikTok.
Die ehemalige Umwelt- und Friedenspartei Bündnis90 — Die Grünen steht bei ebendieser Zielgruppe ungeachtet zahlreicher jüngster Skandale hoch im Kurs. Wie peinlich berührt und vor Kognitiver Dissonanz und Verlegenheit stotternd Vertreter dieser Partei reagieren, spricht man sie auf Assange an, kann man in nachfolgendem Clip bewundern:
Robert Habeck von den Grünen wird mit seiner eigenen Doppelmoral konfrontiert. Man achte insbesondere auf den Gesichtsausdruck in den letzten Sekunden des Clips — welche Gedanken ihm da wohl durch den Kopf gehen?
Wen verwundert also das breite Unwissen bezüglich Assange unter den Studenten? Es ist eine bittere Erkenntnis. Denn wenn die jetzt heranwachsende Generation — und im Besonderen jene, die vorgeblich doch die informierte und aufgeklärte Spitze bilden soll — die größten Verfechter ihrer Freiheit vergisst, ja, was dann? Dann stirbt nicht nur die Erinnerung an einen (Presse)-Freiheitskämpfer, sondern die (Presse)-Freiheit an sich. Die nächste Generation wird vergessen, dass Pressefreiheit das Ablichten vieler unterschiedlicher Sichtweisen bedeutet. Sie wird vergessen, dass eine gut funktionierende Presse sich nicht dadurch auszeichnet, unliebsame Fakten zu canceln oder wegzufaktenchecken, um dem unmündigen Rezipienten ein alternativloses Narrativ zu präsentieren.
Letztes Jahr liefen etliche Studenten und junge Aktivisten Sturm, waren im Eifer begriffen, das Stadtbild von Straßennamen und Statuen „untragbarer“ Persönlichkeiten zu bereinigen. Erinnerungskultur, die auch die Schattenseiten der Geschichte mit einbezieht, schien den Akteuren nicht von Wert zu sein. Was hier vor sich geht, ist ein historischer Kahlschlag, das „Ahistorisieren“ einer ganzen Generation. Heraus kommt eine Generation, die kein Bewusstsein mehr für ihre Vergangenheit hat, entsprechend desorientiert in der Gegenwart umhertreibt und sich in dieser die Zähne ausbeißt bei dem Versuch, eine Zukunft am Reißbrett unerreichbarer Ideale und Theorien zu entwerfen.
Wieder beobachte ich aus zehn Meter Entfernung eine kleine Gruppe Studenten, die mit fragenden Blicken auf die Mahnwache starren. Kurz darauf wendet sich die Gruppe — sichtlich desinteressiert — wieder ab und schlendert in Richtung Englischer Garten. Einer aus der Gruppe trägt eine Jute-Tasche mit dem Logo von Amnesty International.