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Der Verbrecher-Staat

Der Verbrecher-Staat

Der Fall Khashoggi könnte Saudi-Arabiens Machenschaften endlich ein Ende bereiten.

Wie es scheint, hat das Königreich Saudi-Arabien alle Grenzen des Anstands überschritten – falls es jemals solche hatte. In den Augen vieler im Westen überschritt es sie nicht, weil es Zehntausende unschuldiger Menschen im Jemen getötet hat. Auch nicht, weil es ständig Terroristen finanziert in Syrien (und de facto in aller Welt) – häufig im Auftrag des Westens. Und nicht einmal, weil es versucht, aus seinem Nachbarland, der Halbinsel Katar, eine Insel zu machen.

Saudi-Arabiens Verbrechen gegen die Menschheit häufen sich, aber niemand – Deutschland bildet eine der wenigen Ausnahmen – verhängt Sanktionen (inzwischen haben die USA Sanktionen verhängt; Anmerkung der Übersetzerin) oder ein Embargo gegen das abgeschottete Königreich. Es schottet sich so ab, dass es noch nicht einmal Touristenvisa ausstellt, um einer genauen Durchleuchtung zu entgehen. Die Verbrechen der neueren Geschichte sind hinsichtlich ihres barbarischen Charakters unübertroffen: Hinrichtungen und anschließende Vierteilungen, Amputation von Gliedern, Folter, Bombardierung von Zivilisten.

Aber jahre- und jahrzehntelang war das alles unwichtig. Saudi-Arabien war ein treuer Diener sowohl des Big Business als auch der politischen Interessen zunächst Großbritanniens und später des Westens überhaupt. Zu letzterem gehört selbstverständlich auch Israel, das mit dem saudischen Königshaus den schon fast grotesken Hass auf das Schiitentum teilt.

Und so hat niemand die Gräueltaten öffentlich diskutiert, jedenfalls niemand in den westlichen Massenmedien oder Regierungen. Währenddessen treffen in Saudi-Arabien ununterbrochen Waffen im Wert von Hunderten Milliarden Dollar ein, und das Öl, dieser dunkle, klebrige Fluch, floss weiter hinaus.

Genoss Riad gänzliche Straffreiheit? Eindeutig! Aber all dies könnte nun bald ein Ende finden wegen eines einzelnen Mannes, Jamal Khasoggi, oder genauer: Wegen seines mutmaßlichen tragischen, grauenvollen Todes hinter den Mauern des saudischen Konsulats in Istanbul.

Am 11. Oktober 2018 zitierte die New York Times türkische Behörden wie folgt:

„Am 2. Oktober, dem Tag, als Khashoggi verschwand, trafen 15 saudische Agenten auf zwei Charterflügen ein.“

Vermutlich töteten sie Khashoggi, einen saudi-arabischen Bürger, auf brutale Weise und benutzten dann Knochensägen, um seine Arme und Beine abzutrennen.

All dies geschah, während Khashoggis Verlobte, Hatice Cengiz, auf einer Bank vor dem Konsulat auf ihn wartete. Er betrat das Konsulat, um die Formalitäten für die Hochzeit mit ihr zu erledigen. Aber er kam nie wieder heraus.

Jetzt ist die türkische Nation aufgebracht.

Noch vor 10 Jahren, ja sogar noch vor einem Jahr, wäre höchstwahrscheinlich alles vertuscht worden. So wie alle Massenmorde, die die Saudis weltweit begangen haben, immer vertuscht wurden. So wie auch vertuscht wurde, dass die saudische Königsfamilie in ihren Privatjets Drogen aus dem Libanon schmuggelte – Betäubungsmittel, die die Sinne trüben und deshalb in Kampfgebieten und bei Terroranschlägen Anwendung finden.

Aber nun haben wir Ende 2018. Und die Türkei ist nicht mehr bereit, die Gräueltat eines zunehmend feindlichen Landes zu tolerieren; eine Gräueltat, die mitten in der größten türkischen Stadt begangen wurde.

Seit geraumer Zeit sind die Türkei und Saudi-Arabien keine Kumpanen mehr. Schon vor einigen Monaten hat die Türkei Truppen in Katar stationiert, um der saudi-arabischen Armee zu begegnen und den kleinen – wenn auch nicht harmlosen – Golfstaat vor einem möglichen Angriff und der drohenden Zerstörung zu schützen. Mittlerweile nähert sich die Türkei immer stärker dem Iran an, dem Erzfeind Saudi-Arabiens, Israels und der USA.

Man muss hervorheben, dass Khashoggi nicht irgendein normaler saudischer Bürger ist – er ist ein prominenter Kritiker des saudischen Regimes, vor allem aber ist er – was in den Augen des US-amerikanischen Imperiums am wichtigsten ist – ein Korrespondent der Washington Post.

Ein Kritiker, doch kein „Outsider“. Und manche mutmaßen, es habe vielleicht eine zu große Nähe zwischen ihm und einigen westlichen Nachrichtendiensten bestanden.

Deshalb konnte man seinen Tod, wenn er denn wirklich tot ist, nicht ignorieren, gleichgültig wie gern der Westen die Geschichte aus den Schlagzeilen hätte verschwinden sehen.

Präsident Trump schwieg einige Zeit, dann wurde er „besorgt“, und am Ende begann Washington zu signalisieren, dass es sogar zu Schritten gegen seinen zweitengsten Verbündeten im Nahen Osten bereit sein könnte. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman – ein Geschöpf Washingtons und anderer westlicher Mächte – könnte jetzt tatsächlich in Ungnade fallen.

Wird er so enden wie der iranische Schah Reza Pahlavi? Nicht sofort, aber bald oder wenigstens „irgendwann“? Sind die Tage der Saud-Dynastie gezählt? Vielleicht noch nicht. Aber Washingtons Erfolgsbilanz beim Fallenlassen unbequemer Verbündeter kann sich sehen lassen.

In dem Leitartikel „Trumps Akzeptanz ermutigt saudi-arabischen Kronprinz“ teilt die Washington Post sowohl gegen das „saudische Regime“ – endlich wurde die abwertende Bezeichnung „Regime“ gegen das Haus Saud verwendet – als auch gegen die US-Regierung aus:

„Noch vor zwei Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass die Machthaber Saudi Arabiens, eines nahen Verbündeten der USA, in den Verdacht geraten könnten, einen Kritiker, der in Washington lebte und regelmäßig für die Post schrieb, entführt oder getötet zu haben. Auch hätten sie es nicht gewagt, eine solche Operation in der Türkei durchzuführen, einem anderen US-amerikanischen Verbündeten und NATO-Mitglied.

Jetzt wird das Regime mit der Anklage durch türkische Regierungskreise konfrontiert, Jamal Khashoggi, einen der führenden saudi-arabischen Journalisten, im Konsulat des Königreichs in Istanbul getötet zu haben. Dies kann teilweise auf den Aufstieg des Kronprinzen Mohammed bin Salman zurückgeführt werden. Der 33-Jährige ist der eigentliche Herrscher des Königreichs und hat sich als ebenso rücksichtslos wie ehrgeizig erwiesen. Aber auch der Einfluss Präsident Donald Trumps dürfte eine Rolle spielen. Er bestärkte den Kronprinzen in seinem – falschen, wie wir hoffentlich annehmen dürfen – Glauben, dass die Vereinigten Staaten sogar seine gesetzlosesten Unternehmungen unterstützen würden.“

„Könnte sich unsere Hoffnung als trügerisch erweisen?“

Aber Saudi-Arabien und seine Macht gründen fast ausschließlich auf der Zusammenarbeit mit dem globalen westlichen „Regime“, das dem Nahen Osten und der ganzen Welt aufgezwungen wurde. Seine Protagonisten waren erst Europa und insbesondere Groß-Britannien, später dann die Vereinigten Staaten von Amerika.

All der Terror, den das Königreich Saudi-Arabien in der ganzen Region, aber auch in Zentral-Asien, dem asiatisch-pazifischen Raum und in Teilen Afrikas verbreitet hat, wurde von Washington, London und sogar Tel Aviv gefördert, finanziert oder wenigstens zugelassen.

Die Saudis halfen dabei, den Einfluss der Sowjetunion in Afghanistan zu zerstören und danach das sozialistische und fortschrittliche Afghanistan selbst. Im Auftrag des Westens bekämpften sie den Kommunismus und alle linksgerichteten Regierungen in der muslimischen Welt. Das tun sie immer noch.

Der Westen und das Königreich Saudi-Arabien befinden sich nun in gegenseitiger Abhängigkeit. Die Saudis verkaufen Öl und kaufen Waffen, unterzeichnen bei US-Firmen wie Lockheed Martin Rüstungsaufträge von aufsehenerregendem Umfang. Außerdem „investieren“ sie in verschiedene politische Figuren in Washington.

Der aktuelle mutmaßliche Mord an einem Journalisten hat in den westlichen Medien eine ungewöhnliche Welle der Gewissensprüfung ausgelöst. Es ist eine halbherzige Gewissensprüfung, aber sie findet nichtsdestotrotz statt. Im Oktober 2018 schrieb die Huffington Post:

„Riads Herrscherfamilie hat über Jahrzehnte Milliarden von Dollar an saudischem Geld in die USA fließen lassen. So hat sie die Unterstützung kleiner, aber mächtiger Kreise einflussreicher Amerikaner gewonnen und um größere öffentliche Akzeptanz mit Hilfe von Geschäftsverbindungen und Wohltätigkeit geworben.“

Das ist eine solide Investition für ein Regime gewesen, das im Hinblick auf seine Sicherheit in hohem Maße auf Washington angewiesen ist, aber sich nicht auf gemeinsame Werte oder die Geschichte berufen kann wie andere amerikanische Verbündete, zum Beispiel Großbritannien. Jahrelange Ausgaben zum Nutzen der USA sind für Saudi-Arabien tatsächlich eine Art Versicherung. Man investierte Gelder in den USA und im Ausland, um beispielsweise in Afghanistan islamistische Kämpfer gegen die Sowjetunion zu finanzieren.

All dies bedeutet, dass das Weiße Haus höchstwahrscheinlich bestrebt sein wird, die Beziehungen zu Riad nicht abzubrechen. Gut möglich ist ein erhitzter Schlagabtausch, aber eine einschneidende Reaktion wird es kaum geben, es sei denn, die angespannte Situation provoziert auf Seiten der Saudis noch einen weiteren „irrationalen“ Schritt.

Ein Bericht der Huffington Post weist auf Folgendes hin:

„Eine der wenigen Traditionen der amerikanischen Diplomatie, die Trump voll und ganz übergenommen hat, ist es, Waffenverkäufe als arbeitsfördernde Arbeitsschaffungsmaßnahmen zu bezeichnen. Wiederholt hat der Präsident verlauten lassen, Khashoggis Schicksal dürfe nicht das Waffenpaket im Wert von 110 Milliarden Dollar gefährden, von dem Trump behauptet, er hätte die Saudis dazu bewegt, es zu kaufen, um die amerikanische Wirtschaft zu unterstützen. (Tatsächlich wurden viele der Geschäfte unter Obama abgeschlossen, und ein großer Teil des ganzen Pakets ist noch nicht über das Stadium vager Absichtsbekundungen hinausgekommen.) Wie aus Kongresskreisen zu erfahren ist, arbeiten Waffenproduzenten aus Geschäftsinteresse oft mit der Armee saudi-arabischer Lobbyisten in Washington zusammen.“

An einem Punkt wie diesem schrecken die westlichen Berichterstatter davor zurück, die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen und die Zusammenhänge ins rechte Licht zu rücken. Niemand in den Mainstream-Medien sagt laut: „Eine von Riad unabhängige Außenpolitik existiert nicht!“

Ja, Öl kauft Waffen. Die Waffen wiederum geben Männern und Frauen in US-amerikanischen und britischen Firmen Arbeit. Und dann werden diese Waffen benutzt, um Männer, Frauen und Kinder in Afghanistan, im Jemen, Syrien und anderswo zu töten. Sie bedrohen den Iran, Katar und verschiedene andere Länder.

Öl und die Unterstützung durch den Westen ermöglichen auch die Rekrutierung von Terroristen für die ewigen, vom Westen gewollten Kriege, den Bau von prunkvollen, verschwenderischen Moscheen und die Bekehrung von vielen Millionen Menschen in Südost-Asien, Afrika und anderswo zum Wahabitismus, der ein extremes saudisch-britisches religiöses Dogma ist. (In meinem Buch „Exposing Lies of the Empire“ gibt es wichtige Kapitel zu diesem Thema – „Der Westen produziert muslimische Monster: Wer die Schuld am muslimischen Terror trägt“).

Entgegen der gängigen Auffassung im Westen ist Saudi-Arabien im Nahen Osten wenig geliebt. Das Königreich Saudi-Arabien wird manchmal aus Ignoranz, kommerziellen Interessen oder religiösem Eifer von weit entfernten muslimischen Ländern wie Indonesien oder Malaysia unterstützt, aber normalerweise nicht von Menschen „aus der Region“.

Viele, wenn nicht die meisten Menschen in den arabischen Ländern haben schon lange genug von der saudischen Arroganz und Tyrannei, die sich in grauenhaften Handlungen wie dem Krieg gegen den Jemen ausdrücken.

Auch die Einschleusung von Terroristen nach Syrien, Afghanistan, Libyen und anderswo und die Unterstützung derselben müssen hier genannt werden, ebenso wie kürzlich die de-facto-Entführung des libanesischen Staatsoberhaupts. Hinzu kommt die moralische Heuchelei, die Verwandlung heiliger muslimischer Stätten in Investitionsobjekte, in denen vulgärer Kommerz herrscht, und die extreme soziale Spaltung in arm und reich.

Viele Araber geben Saudi-Arabien die Schuld für die Verwandlung einer im Wesentlichen sozialistischen und egalitären Religion in das, was sie heute geworden ist. Natürlich hat das Land dabei die entschlossene Unterstützung des Westens erfahren, dem es sehr gelegen kommt, wenn die Bevölkerung in der muslimischen Welt folgsam und an Ritualen orientiert ist und dadurch besser kontrolliert werden kann. So plündert der Westen die natürlichen Ressourcen, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Weltweit zählt Saudi-Arabien zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit der Erde: Eine superreiche Elite steht der im Elend lebenden Bevölkerungsmehrheit auf dem gesamten Staatsgebiet gegenüber. Es ist ein „ungeliebtes Land“. Aber bis jetzt ist es respektiert worden. Hauptsächlich aus Angst.

Jetzt schaut die gesamte Welt auf das Land. Diejenigen, die schweigend empört waren, beginnen sich öffentlich zu äußern.

Vor wenigen Tagen wurde ein indonesisches Hausmädchen im Königreich Saudi-Arabien erbarmungslos hingerichtet. Jahre zuvor hatte sie ihren Peiniger, ihren alten „Schutzherrn“, getötet. Bei vielen Gelegenheiten hatte er versucht, sie zu vergewaltigen. Aber davon stand nichts auf den Titelseiten. Letztendlich war sie „nur ein Hausmädchen“; eine arme Frau aus einem armen Land.

Wir alle, Schriftsteller und Journalisten in der ganzen Welt, hoffen, dass Khashoggi – gleichgültig, was er bisher erreicht hat – irgendwo am Leben ist und eines nicht zu fernen Tages befreit wird. Die Chancen darauf werden allerdings mit jedem Tag, der verstreicht, geringer. Jetzt geben sogar saudische Offizielle zu, dass er ermordet wurde.

Wenn er tatsächlich von saudischen Agenten getötet wurde, könnte Khashoggis Tod sowohl sein eigenes Land als auch den Rest des Nahen Ostens vollständig verändern. Er hoffte immer, dass sein Land sich zumindest ein wenig verändern würde. Allerdings hat er sich höchstwahrscheinlich nie vorgestellt, dass er mit seinem Leben dafür bezahlen müsste.

Diesmal hofften die saudischen Herrscher auf eine sanfte Brise, die den Geruch des Blutes vertreiben würde. Sie ernten stattdessen einen Sturm.