Starke Gefühle sind gefragt. Neben Couchsurfen und einarmigem Chipsgreifen suchen viele heute den Kick aus dem Alltag bei mehr als nur Skifahren im Winter oder Rafting im Sommer. En vogue sind Extremsportarten wie Freeclimbing, Big-Wave-Surfing, Volcano-Boarding, Hai- und Höhlentauchen, Klippenspringen, Base-Jumping, Wingsuit-Flying oder Highlining, bei dem die Wagemutigsten ohne Sicherung auf einem Seil zwischen Bergspitzen und Wolkenkratzern spazieren.
Als Kinder liebten wir Achterbahnfahrten, Gruselfilme, eklige Glibber- und Klebemassen und Brausebonbons, die im Mund explodieren. Auch wenn wir uns als Erwachsene nicht an einem Gummiseil von einer Brücke stürzen oder bis zur völligen Erschöpfung Sport treiben, so suchen wir doch immer wieder Erfahrungen, die uns an den Rand des Angenehmen bringen: eine schmerzhafte Massage, scharfes Essen, traurige Musik, Bücher und Filme, die uns melancholisch stimmen.
Auch wenn wir vor allem die positiven Erfahrungen suchen, so sind es gerade auch die negativen Erfahrungen, die unserem Leben Struktur geben. Sie regen zum Nachdenken an und schenken uns, wenn sie einmal hinter uns liegen, das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Wir haben nicht nur etwas zu erzählen, sondern gehen gestärkt aus der Situation hervor. Unsere Memoiren füllen dann nicht nur sich wiederholende Aneinanderreihungen mehr oder weniger banaler Alltagsereignisse und Sonntagsausflüge, sondern Erzählungen, die auch noch die Nachwelt interessieren.
Auf schmalem Grat
Die aufregendsten Momente in unserem Leben, so ein australisches Forscherteam, bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Schmerz und Vergnügen (1). Ist es also so, dass wir den Schmerz brauchen, um Vergnügen empfinden zu können? Braucht das Glück das Unglück? Erleben wir erst dann etwas als wirklich intensiv schön, wenn wir vorher gelitten haben?
In einer Erzählung des Philosophen Walter Benjamin weist ein König seinen Koch an, ihm eine Maulbeeromelette zu bereiten, so schmackhaft, wie er sie als Kind genossen hatte, als er mit seinem Vater auf der Flucht war und nach langen Entbehrungen endlich Einkehr in ein Wirtshaus hielt. Dem besten Koch jedoch kann es nicht gelingen, eine solche Speise zuzubereiten. Denn es fehlen die entscheidenden Zutaten: die Gefühle der damaligen Situation.
So empfinden wir es als ein besonderes Glück, wenn wir uns nach einer harten Arbeit endlich ausruhen können, wenn wir nach langer Krankheit genesen oder endlich der Liebe unseres Lebens begegnen.
Wir leben in einer Welt der Gegensätze, in der der Norden den Süden braucht, die Kälte die Wärme und die Nacht den Tag. Die Sonne steht dem Mond gegenüber, das Kleine dem Großen und das Schwache dem Starken. Alle zusammen machen die Welt gewissermaßen zu einer runden Sache.
Problematisch wird es, wenn wir immer nur das eine wollen. Wenn wir die Nacht zum Tag machen und das Lebendige aus dem Kreislauf herausreißen, entsteht Ungleichgewicht. Es wird wacklig. Jetzt hängt alles davon ab, ob wir in die Mitte zurückkehren, dorthin, wo die Gegenpole sich ausbalancieren können, oder ob wir auf Crashkurs bleiben und weiter das Extreme verfolgen.
Die goldene Mitte
Wir haben es mit zwei Phänomenen zu tun, die uns gleichermaßen herausfordern. Einerseits brauchen wir besondere und auch manchmal besonders schwierige Aufgaben, um uns weiterzuentwickeln. Wer auf der Couch sitzenbleibt, verkümmert. Andererseits besteht die Gefahr, sich in den Extremen zu verlieren. Wenn das Pendel die Mitte zu sehr überschreitet, droht es, sich zu überschlagen. Wir fallen gewissermaßen von der Schaukel.
An diesem Punkt, so sieht es aus, sind wir heute kollektiv angelangt. Wir haben die eine Seite so weit ausgereizt, dass es hier nicht mehr weitergeht. Unser ökonomisches und unser ökologisches System brechen in sich zusammen. Katastrophen, Blackouts, Energie- und Ernährungsengpässe und das Risiko eines atomaren Krieges, der den gesamten Planeten in Schutt und Asche legt, bedrohen mehr denn je unser aller Leben. So wird deutlich: Die Jagd ist hier zu Ende. Unsere Geschichte geht hier vorbei.
Wenn wir nicht abstürzen wollen, müssen wir zurück in die Mitte. Nicht zurück in die Höhlen der Steinzeit, sondern sozusagen in die Mitte des Lebensrades. Nur hier können wir Stabilität finden und gleichzeitig integriert sein in den dynamischen Prozess des Lebens. So kann es dem Balancierenden auf seinem Seil gelingen, den unter ihm liegenden Abgrund zu überqueren.
Am Horizont
Die Mitte, um die es hier geht, liegt in uns selbst. Niemand kann uns sagen, wo wir sie finden. Auf dem Seil ist kein Platz für zwei. Hier stehen wir ganz allein. Wenn wir jetzt nach unten oder nach oben schauen, riskieren wir zu fallen. Angezogen vom Schwindel, den zu viel Höhe oder zu viel Tiefe in uns auslösen, drohen wir, uns in weiteren Illusionen zu verlieren und in immer neuen Schleiern zu verfangen. Was wir jetzt brauchen, ist ein klarer Blick, der dem Schwindel ein Ende macht und die Schleier auflöst.
So richtet der auf dem Seil Tanzende den Blick dorthin, wo Himmel und Erde sich treffen. Es ist der Horizont, der ihm jetzt Orientierung und Halt gibt. Unter uns die Erde, die uns hervorgebracht hat, der Stoff, aus dem wir gemacht sind. Über uns der ungreifbare Himmel in seiner unendlichen Weite.
Am Horizont treffen sich die Gegensätze. Zwischen Begrenztheit und Unbegrenztheit, Spannung und Entspannung setzt der Seiltänzer einen Fuß vor den anderen. Bewegungslosigkeit oder das starre Festhalten würden ihn das Leben kosten. Nur das Vertrauen in das Seil und die Hingabe an die ihn umgebende Leere bringt ihn voran.
Wir müssen hier etwas tun, was wir nicht gelernt haben: Loslassen. Uns wurde beigebracht, wie wir greifen, festhalten, raffen. Wir haben gelernt, wie man ein besonders großes Stück vom Kuchen abkriegt, wie man immer mehr bekommt und es vermehrt, ohne etwas dafür zu tun. Hierin sind wir Spezialisten. Doch wenn es darum geht, sich von etwas zu trennen, was schlecht und überflüssig geworden ist, dann wollen wir die Hand nicht öffnen und die Arme nicht ausbreiten, um uns in der Balance zu halten.
Verbinden der Gegensätze
Ganz besonders in diesem Jahr stellt mich mein Leben vor die anspruchsvolle Aufgabe, mich auf schmalem Grat zwischen den Extremen im Gleichgewicht zu halten zwischen Totenbett und Grabstelle, Notarzt und Intensivstation. Doch auch jetzt, in dem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, empfinde ich nicht nur Trauer und Sorge, sondern das erhebende Gefühl, am Leben teilhaben zu dürfen, Dankbarkeit, dass meine Sinne die Welt erfassen können, auch wenn die Gefühlswogen über die Ufer schlagen.
Ich fühle mich, als ob Himmel und Erde sich bei mir treffen. Es ist, als begegneten sich die Gegensätze der Welt in mir. Ich habe nun die Wahl, die Ereignisse von mir zu weisen, oder eine innere Hochzeit zu feiern, bei der Champagner und Tränen gleichermaßen fließen. Freud und Leid, Glück und Unglück gehören zusammen. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Das Schwere und das Leichte ergänzen einander und bedingen sich gegenseitig.
Wie im Symbol des Yin und Yang ist im Schwarzen das Weiße enthalten und im Weißen das Schwarze. Wenn wir das nicht sehen, dann brauchen wir künstliche Kicks, um uns lebendig zu fühlen und unserem Leben Bedeutung zu geben. Nicht aus unserer eigenen Quelle beziehen wir die Energie, die wir zum Leben brauchen, sondern aus fremden Quellen. Anstatt aus uns selbst zu schöpfen, machen wir uns abhängig von äußeren Gegebenheiten und schaffen damit die Basis für jede Art von Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg.
Die Sinnfrage
Wir alle dürfen jetzt erkennen, wohin ein System führt, das auf das Ausnutzen fremder Energien ausgerichtet ist. Damit erschließt sich uns die Möglichkeit, aus alten Fehlern zu lernen. Unsere Zeit ist eine enorme Chance, in ein neues Gleichgewicht zu finden. Nutzen wir sie. Bedienen wir uns unserer Gabe, die Extreme miteinander zu verbinden und aus dem als besonders schön und als besonders schmerzhaft Erlebten Meilensteine in unserem Leben zu machen.
Welche Farbe diese Steine auch haben: Sie alle sind es, die unserem Leben Sinn geben, Orientierung. Nehmen wir sie nicht als Last, sondern als Geschenk. Lassen wir uns durchschaukeln und den Regen ins Gesicht peitschen.
Lassen wir zu, dass es so ist, wie wir es gerade erleben, und wehren wir uns nicht dagegen. Verlieren wir den Horizont nicht aus den Augen, der unsere Existenz einbettet in ein Großes und Ganzes, das wir von unserer Warte aus nicht zu überschauen vermögen, so hoch das Seil auch gespannt sein mag.
Nehmen wir an, was sich uns präsentiert, was immer es ist. Wir wissen ja nicht, welcher Schlüssel sich darin verbirgt. Wie die Kinderkrankheiten, nach denen wir stets ein Stück erwachsener geworden sind, können wir das, was wir als Erwachsene erleben, als Initiationserlebnisse betrachten, die uns in unserer Entwicklung weiterbringen. So müssen wir nicht mehr rastlos durch die Welt ziehen auf der Suche nach dem ultimativen Kick, sondern finden den Sinn des Lebens hier bei uns: in der Entfaltung.
Wie das Symptom auch aussieht, das uns das Leben schwermacht: Versuchen wir nicht, es zu betäuben, zu unterdrücken oder wegzuimpfen. Evolution braucht Reibung. Nur aus der Reibung können neue Lebensfunken entstehen. Ob wir darin ein Höllenfeuer sehen oder ein himmlisches Feuerwerk, liegt bei uns. In einer auf Gegensätzen aufgebauten Welt haben wir die Wahl. Klammern wir uns so lange in der Flugzeugtür fest, bis man uns rausschubst, oder geben wir uns der Leere hin und genießen die Aussicht? Lassen wir uns vom Rad des Lebens überrollen, oder gehen wir in die Mitte zurück und lassen uns ein Stück weiterbringen? Es liegt ganz bei uns.
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Quellen und Anmerkungen: