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Der  ukrainische Sog

Der ukrainische Sog

Der Krieg in der Ukraine ist ein dreifacher Stellvertreterkrieg und könnte sich auf ganz Europa ausbreiten.

Versuchen wir zu sortieren: Was der Krieg vor allem anderen deutlich macht, ist die Krise des Nationalstaats als globales Ordnungsprinzip, genauer des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaats, wie er aus dem Ersten Weltkrieg auf Initiative des US-Präsidenten Woodrow Wilson hervorging. Noch genauer, vor allem aktueller an das Problem der Ukraine herangeführt, geht es um die nachholende einheitliche Nationenbildung, wie sie aus der Auflösung der bipolaren Welt nach dem Ende der Sowjetunion hervorgegangen ist. Unter dem Druck der nach-sowjetischen Krise des Kapitalismus und der damit einhergehenden globalen Machtverschiebungen verengt sich diese nachholende Nationenbildung in der Ukraine jetzt zum rigiden Nationalismus.

Die skizzierte Entwicklung gilt, das sei hinzugefügt, um Missverständnisse zu vermeiden, nicht nur für die Ukraine. Sie gilt für die Verfasstheit der globalen Staatsordnung heute insgesamt, die in zunehmendem Maße wieder von nationalistischen Interessen getrieben wird; aber in der Ukraine, dieser verhinderten Brücke zwischen Europa und Russland, hat dieser Prozess jetzt die folgenreichsten Formen angenommen.

Es ist eine Gemengelage entstanden, in welcher der ukrainische Krieg nicht nur die Konfrontation der globalen Machtblöcke stellvertretend hervorbringt, sondern zugleich — ebenfalls stellvertretend — die Krise der herrschenden, Nationalstaatsordnung, das heißt letztlich der vom Westen geprägten Lebensweise ins Extrem treibt. Beide Ereignisströme fließen in einem brandgefährlichen Sog zusammen, der die labilen Kräfte des Globus in ein schwarzes Loch hineinzuziehen droht.

Andere Varianten des Lebens

In der Tiefe dieses Sogs verdichtet sich der Krieg aber zugleich zum Knoten der Transformation, in dem die Konfliktlinien der gegenwärtigen Zivilisationskrise zusammenlaufen. (1) Unsere Welt ist im Begriff ein anderes Lebens- und Ordnungsprinzip hervorzubringen, basierend auf anderen als den vom Westen definierten Werten des ökonomisch dominierten einheitlichen Nationalstaates, der alle Lebensbereiche unter die Herrschaft der Ökonomie zwingt, während er selbst zugleich unter der Herrschaft der suprastaatlichen Monopole steht. Dieses konkurrenzbasierte und ökonomisch dominierte Modell des Staates ist vom Wesen her kriegsträchtig und überfällig und verlangt nach anderen Varianten des Lebens.

Notwendig, und beim Stand der heutigen produktiven Kräfte der globalen Gesellschaften auch möglich, wäre der Übergang zu dezentraleren Strukturen souveräner Lebenseinheiten. Das hieße, gegenseitige Hilfe im Ökonomischen, Kooperation im Geflecht autonomer lokaler und föderaler Beziehungen, geistige Unabhängigkeit über so definierte staatliche Verwaltungsgrenzen hinaus im Rückgriff auf eigene Kulturen statt westlicher „one world“-Ausrichtung.

Aber klar ist, dass die Botschaft einer anderen als der herrschenden ‚westlichen Wertordnung‘ erst dann eine veränderte Wirklichkeit schaffen kann, wenn deren gegenwärtige Realität illusionslos ins Auge gefasst wird.

In Frage steht derzeit, ob die ukrainische Bevölkerung die nationalistische Verengung hinter sich lassen kann, in die sie zwischen den Blöcken und durch den Krieg geraten ist. Kann sie Formen der pluralen Selbstbestimmung entwickeln, die ihrer Geschichte entsprächen? Oder muss sie sich einem der Blöcke unterordnen? Zerfällt die Ukraine in Teile? Bleibt sie ein Pulverfass?

Untrennbar mit diesen Fragen verbunden sind selbstverständlich die, ob Russlands Versuch gelingt, ein nach-globalistisches, nach-koloniales Netz von Gesellschaften zu knüpfen, die sich der westlichen Dominanz entziehen und in der Lage sind, eine neue globale Ordnung pluraler Beziehungen und kultureller Pluralität zu konstituieren oder ob die aktuelle Verletzung der ukrainischen Souveränität durch Russland eine solche Entwicklung bremst und vom „globalen Westen“ gegen Russland in Stellung gebracht werden kann.

Alleinvertretungsanspruch des US-dominierten Westens in Frage

Hier erhebt sich schließlich die Frage, ob die zurzeit noch herrschende Weltmacht USA es zulässt, zulassen kann, zulassen muss, dass sich die Völker der Welt von einer Realität lösen, in welcher der Nationalstaat westlicher Prägung immer noch das Credo der Politik ist oder ob sich Nationalstaaten, inspiriert von Russland, der amerikanisch-westlichen Kulturdominanz entziehen.

Alle diese Fragen drängen sich mit dem ukrainischen Krieg in den Vordergrund und fordern unsere bewusste Wahrnehmung und aktive Stellungnahme zugunsten der sich andeutenden politischen und kulturellen Alternativen zum Alleinvertretungsanspruch des westlichen Zivilisationsmodells heraus. Auch für diese Herausforderung wirkt der Krieg in der Ukraine stellvertretend.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Siehe dazu auch: „Ukraine — Knoten der Transformation“ auf der Website von Kai Ehlers.

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