In einem Vortrag „Geld, Macht und die menschliche Psyche“ (1) wendet Josef Rattner, Pionier der Großgruppentherapie und origineller Fortführer der Individualpsychologie Alfred Adlers, einige Gesichtspunkte aus der Psychologie und der Philosophie auf die Frage an, inwieweit das Streben nach Geld und Macht zu den wahnhaften Irrtümern der Menschheit oder einer Kultur gerechnet werden können. Da kritische Geister inzwischen längst konstatieren, dass die Digitalisierung um jeden Preis Geld- und Machtinteressen folgt (2), möchte ich die von Rattner angeführten Überlegungen zu Geld und Macht auf die Digitalisierung als Form einer wahnhaften Fehlentwicklung anwenden.
Interessant ist die von Max Weber verdeutlichte Verbindung zwischen Geld und Protestantismus. Letzterer hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Bürgertum seinen persönlichen Wert durch Fleiß zum Erwerb von Geld und Gütern erhöhen konnte. Das Glück — was immer es sei — ist nun nicht mehr abhängig von der Zugehörigkeit zu einem gottgegebenen Klassensystem, sondern der im richtigen Glauben Lebende kann es durch Fleiß und Strebsamkeit zu etwas bringen.
Zwar trug diese Entwicklung wesentlich dazu bei, den Feudalismus zu überwinden, aber es entstand jedoch eine neue Fehlentwicklung, wenn Selbst- und Eigenwert in Geld und Macht sich ausdrückte statt in sozialen Leistungen, die vorrangig der menschlichen Gemeinschaft zugutekommen und nicht den Reichtum Einzelner mehren. So wird der Mensch innerhalb einer derart erkrankten Kultur zu besessenem Herrschaftsstreben verleitet. Diese Rolle hat seit geraumer Zeit der Neoliberalismus übernommen. Rattner fragt nun, ob nicht auch ganze Kulturen neurotisch oder gar psychotisch entgleisen können, wie wir dies für Individuen diagnostizieren.
Mit Bezug auf Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ bejaht Rattner dies ebenso wie Freud. Als eines der kulturellen Wahnsysteme streicht Freud etwa die Religion heraus. Ebenso wurde Erich Fromm zum Kulturdiagnostiker und hob 1960 in einer Schrift hervor, dass der moderne Mensch in der Frage des „Haben oder Sein“ sich für das Haben entschieden hat. Alfred Adler (1870 bis 1937) bescheinigte dem Menschen ein anthropologisches Kleinheitsgefühl, dem er nur durch soziale Beitragsleistungen und Wertsteigerung der Person und der menschlichen Gemeinschaft Sinn fördernd entgehen kann.
In der kranken Kultur wird er jedoch leicht zur Selbsterhöhung durch Infektion mit dem Virus der Machtgier verleitet. Diesen Befall „erkennen wir nicht nur in den Disparatheiten des individuellen Lebens, sondern auch in kollektiven Tragödien wie einer egoistischen Wirtschaft, nationaler, religiöser und rassischer Überheblichkeit, Aufrüstung und Krieg und mangelhafter Zusammenarbeit in großen und kleinen Dimensionen“ (3). Aktuell spiegeln sich diese Zusammenhänge in der Flüchtlingspolitik wie auch im Umgang mit der Corona-Pandemie wider, in denen nationale und neoliberale Wirtschafts- und Machtinteressen dominieren.
Wie der Geldkomplex die Struktur der Religion hat, wie Norman O. Brown in seinem Buch über Zukunft im Zeichen des Eros aus dem Jahr 1959 beschreibt, so hat auch der Hype um eine bestimmte technologische Entwicklung, die gleichsam zum Götzen wird, eine Art Untergott unter der Oberherrschaft von Geld und Macht.
Ohne Rücksicht auf mögliche langfristige Folgen soll ihre Durchsetzung das Heil bringen — vor allem aber Geld und Macht einiger weniger steigern, sodass sie dann ihren größenwahnsinnigen Zielen frönen können.
Was etwa ist der kulturelle Wert für die Menschheit, wenn ein paar Millionäre ein paar Minuten im All verbringen? Und das angesichts der erdrückenden sozialen Probleme auf der Erde, der weitverbreiteten Armut, die Potenziale menschlichen Seins vernichten oder gar nicht erst sich entfalten lassen! Der elfminütige Flug mit Bezos „Blue Origin“ kostete 28 Millionen Dollar und Elon Musk bietet Flüge für Anfang 2022 zum Preis von 55 Millionen Dollar an (4). Und es soll billiger werden, wobei der CO2-Ausstoß, der ja vermindert werden soll, um die Menschheit vor der Klimaerwärmung und dessen Folgen zu retten, exorbitant ist. Das Schönrechnen mit dem Antriebsstoff Wasserstoff hilft da auch nicht weiter, da wir grünen Wasserstoff für den globalen Energiewandel dringender benötigen (5). Den diversen Egozentrikern ist dies aber schlicht egal.
Größenwahn taucht in der Geschichte immer wieder auf
Wie der Feudalismus sich riesige Baudenkmäler setzte und Kriege führte auf Kosten der Menschlichkeit, so frönt der heutige Geldadel seinen Hobbys, erwirbt die Geldmittel dazu durch moderne Sklaverei. Und die Lämmer schweigen (6)! Die Begeisterung und Lobhudelei ob solchen Unsinns ist der moderne Götzendienst. Waren es zu vorlutherischen Zeiten die dumm gehaltenen Massen, denen das Eiapopeia im Himmel in lateinischer Sprache vorgeleiert wurde, so werden heute die Bildungssysteme kaputt gespart, um die notwendigen Konsumtrottel für das Ressourcen vernichtende kapitalistische „Wirtschaften“ zu „produzieren“.
Da die Einstellung, nicht mehr nur in den westlichen Kulturen, zum Geld und der Kotau der Menschen vor dem Mammon und deren Priestern Züge wahnhafter Fixierung tragen, muss befürchtet werden, dass dies in die Zerstörung der menschlichen Kultur mündet.
Nun fragt Rattner nach den Grundzügen der Wahnkrankheit und findet die Auskunft der Psychiater, die dafür hauptsächlich genetische Ursachen verantwortlich machen, nicht hinreichend. Hier liefert uns die Philosophie tiefgründigere Überlegungen, besonders die Phänomenologie.
Fündig wird er bei Max Scheler, der eine gesunde Wahrnehmung und Realitätsprüfung mit dem Wertekanon des Menschen in Verbindung brachte. Anders gesagt: Der Mensch nimmt nur wahr, was er als Wert erkennt. Biologische, traumatische oder lebensgeschichtliche Einschränkungen oder Verletzungen können zu Wertblindheit und damit zur Verkennung des mitmenschlichen Zusammenhalts führen. Dieser Mensch sieht sich einer entleerten Welt gegenüber, die er möglicherweise mit „Halluzinationen und Wahngedanken bevölkert“, so Rattner (3).
Nun erkennt nach Scheler der Mensch Werte mit dem Gefühl als dem Werterkennungsorgan. Die Schwierigkeit besteht nun darin, welche Rangordnung er der Wertewelt zumisst. Nach Arthur Schopenhauer und Nicolai Hartmann sind die höchsten Werte Personwerte. Schopenhauer fragte nach dem, was einer hat, was einer vorstellt und was einer ist. Dabei ließ er keinen Zweifel daran, dass nur letzterer ein überdauernder Wert sein kann. Menschen können Besitz verlieren und Rang und Namen können ihnen schnell abhandenkommen, wenn die Gesellschaft andere auf den Podest hebt.
Nach Scheler sind die hohen und höchsten Werte „Liebe, Solidarität, Mitleid, Vernunft, Selbstverwirklichung und Freiheit der Person“ (7). Das heißt aber auch, dass nur solche Werte das Gefühlsleben wachsen lassen. Im Materiellen und in der Hypostasierung des Digitalen sind diese Werte jedoch nicht präsent. Sie gedeihen nur in der zwischenmenschlichen Begegnung. Und gerade die wird mit der Überbewertung der Digitalisierung ausgedünnt oder sogar abgeschafft. Wo in der sogenannten Wirtschaft der Mensch zu „Humankapital“ verkommt, wird er in großen Teilen der digitalen Welt zum Datenlieferanten mit allen entpersönlichenden Folgen (8).
Der Säuglingsforscher Daniel Stern (9) sprach von „Now-Moments“, die sich in der Interaktion zwischen Säugling und Bezugsperson ereignen, wenn die Einfühlung des Erwachsenen in die Bedürfnislage des Säuglings gelingt. Hier stellen sich Glücksmomente der Empathie ein, welche wiederum die Grundlage für die Entwicklung eines reichhaltigen Gefühlslebens bilden. Solche „Now-Moments“ ereignen sich in der zwischenmenschlichen Interaktion ein Leben lang, haben jedoch zur Voraussetzung, dass wir uns in einem intensiven und nahen Austausch befinden.
Die Entleerung zwischenmenschlicher Begegnung durch eine übertriebene Digitalisierung führt hingegen zu emotionaler und empathischer Verkümmerung, ähnlich wie die Überbewertung materieller Güter.
Erschreckend dabei ist, dass dies alles nicht neu ist und schon vielfach beschrieben und angemahnt. Dennoch setzt sich der Götzendienst am Materiellen immer wieder durch. Das mag mit der grundsätzlichen Offenheit des Menschen zu tun haben, die ihn verletzlich macht, ihn die Kompaktheit und Festigkeit des Materiellen bewundern lässt, so Sartre, (1991 [1943]). Die andere Seite ist die Heilserwartung durch etwas Größeres, Übermenschliches, wobei wir wieder bei religiösen Weltbildern wären. Und möglicherweise ist es diese Heilserwartung, die den Menschen in der modernen Welt sein Heil in der Digitalisierung suchen lässt.
Die einen materialisieren diesen Heilswunsch in Form von Geld, die anderen wähnen sich in sozialen Kontakten zu sein, wenn sie möglichst viele Follower auf Facebook, jetzt Meta, haben. Die emotionale und Sinn-Entleerung mündet immer häufiger in Depressionen. Diese Fixierung auf die niederen Werte führt zu vielfältigen seelischen Erkrankungen, die ja auch als Geisteskrankheiten bezeichnet wurden und bis in manifeste Wahnkrankheiten münden können. Interessanterweise war dies Spinoza (1633 bis 1677) schon bekannt, der im Jahr 1678 in seiner „Ethik“ bereits die Folgen beschrieb, wenn der Mensch fixiert ist auf seine niederen Affekte:
Es gibt viele Menschen, denen „ein und derselbe Affekt hartnäckig anhaftet. Denn wir sehen, daß Menschen manchmal von einem Gegenstand so erregt werden, daß sie denselben vor sich zu haben meinen, obgleich er nicht gegenwärtig ist; was, wenn es im wachem Zustand vorkommt, den Betreffenden als irrsinnig oder verrückt erscheinen läßt. (…). Wenn aber der Habsüchtige an nichts anderes denkt als an Profit oder Geld, der Ehrgeizige an Ruhm usw., so hält man diese für nicht irrsinnig, weil sie gewöhnlich lästig sind und für hassenswert erachtet werden. In Wahrheit aber sind Habsucht, Ehrsucht, Lüsternheit usw. Arten des Irrsinns, obgleich sie nicht zu den Krankheiten gezählt werden“ (10).
Heute können wir, an die Zeit angeglichen, die aktuellen Fixierungen nennen, die zum Wahnsinn disponieren: Atombomben, Atomkraftwerke, Autoverkehr, grenzenloses Macht- und Gewinnstreben unterschiedlichster Art, ausbeuterische Land-„Wirtschaft“ — und eben besinnungslose Digitalisierung. Und sollten dann größenwahnsinnige Trampel an die Macht kommen oder „wirtschaftliche“ Macht gewinnen, hat uns die Geschichte immer wieder gelehrt, in welche Untergangsszenarien das führen kann. Immerhin ein Trost: Totalitäre Systeme gehen irgendwann zugrunde.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Rattner, J. (2001): Geld, Macht und menschliche Psyche, Zeitschrift für Sozialökonomie 131/2001, S. 16 bis 23
(2) Z. B. Zuboff, S. (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus
(3) Rattner, 2001, S. 20
(4) https://www.dw.com/de/jeff-bezos-flug-ins-all-kommerzielle-space-cowboys-greifen-nach-den-sternen/a-58320416, 30. Dezember 2021
(5) https://www.t-online.de/nachhaltigkeit/id_90480576/raketenflug-von-amazon-gruender-jeff-bezos-weltraumurlaub-kostet-mehr-als-nur-geld.html, 30. Dezember 2021
(6) Mausfeld, R. (2021): Warum schweigen die Lämmer, Westend Verlag
(7) Siehe Scheler, M. (1980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, sechste, durchgesehene Auflage, Francke Verlag
(8) Kuck, B. (2021): Der gläserne Patient, Rubikon, https://www.rubikon.news/artikel/der-glaserne-patient
(9) Stern, Daniel, N. (2003 [1985]): Die Lebenserfahrung des Säuglings, Klett-Cotta achte Auflage
(10) Spinoza, B. (1987): Ethik, 3. Auflage, Röderberg, S. 257
Literatur:
- Fromm, E. (1960): Haben oder Sein, dtv
- Sartre, Jean-Paul (1991 [1943]): Das Sein und das Nichts. Erste Auflage der Neuübersetzung. Rowohlt Verlag