Der Streaming-Wahn

Die Digitalisierung bedroht die Natur.

Digitalisierung ist aktuell durch steigenden Rohstoffbedarf, Energieverbrauch, erhöhten Logistikaufwand und den Mangel an intelligenten Stoffkreisläufen größtenteils ein Nachhaltigkeitsdesaster. Dabei birgt sie durchaus Chancen auf der Nachhaltigkeitsebene.

Digitalisierung heizt unserem Planeten ein
von Felix Sühlmann-Faul

Streaming von Audio- und Videoinhalten fällt unter die Kategorie derjenigen Bereiche der Digitalisierung, die klare Nachhaltigkeitspotenziale birgt, nämlich Dematerialisierung (1). In vielen Bereichen kann Digitalisierung den Einsatz von physischen Objekten reduzieren und so den ökologischen Impact in Form von Energie- und Umweltverbrauch reduzieren. Wenn weniger Objekte produziert werden müssen, kann diese Energie eingespart werden. In Folge entstehen weniger Emissionen und es entsteht weniger Müll.

Nachhaltigkeit durch Dematerialisierung

Ein empirisches Beispiel für die Möglichkeiten der Dematerialisierung zeigt sich im Ausbau der Telekommunikation in den Ländern des globalen Südens. Statt des klassischen Verlegens von Telefonkabeln ist die Konzentration auf Mobiltelefonie deutlich nachhaltiger da energiesparender. Das Ziel – der Ausbau der Telekommunikation für die Bevölkerung – wird erreicht mittels des Überspringens eines ressourcenintensiven, manuellen Arbeitsschritts.

Ein anderes Beispiel ist eine Fachkonferenz. Der Einflussfaktor mit der größten CO2-Emmission ist hier die Anreisen der Teilnehmenden. Sie erzeugen am meisten CO2 (2, 3, 4). Zusätzlich wird viel Energie für die Klimatisierung der Räume oder dicke Konferenzbände aufgewendet. Durch einen Wechsel zu Videokonferenzen und Vortragsunterlagen als Download kann viel der Energie und folglich der Emissionen eingespart werden (2, 3, 4).

Wie nachhaltig ist Film per Stream?

Das Nachhaltigkeitspotenzial der Dematerialisierung zeigt sich auch im Streaming. Hier müssen Filme nicht mehr auf einen physischen Datenträger gebannt werden und der Transport fällt weg. Dass das einen Vorteil im Bereich der Ökobilanz bringt, konnte in einer Studie von 2014 gezeigt werden. Die Forscher fanden heraus, dass Streaming eines Films im Vergleich zur Autofahrt zur Videothek oder dem Kauf im Laden rund ein Drittel weniger CO2 erzeugt (5).

Aber: Das Nachhaltigkeitspotenzial ist äußerst relativ.

Wenn dem aktuellen Trend des „Binge Watchings“ – zu Deutsch etwa „Komaglotzen“ – gefolgt wird, sieht die Ökobilanz sehr viel schlechter aus.

Der übermäßige Konsum von Streaminginhalten, indem etwa an einem Wochenende mehrere Staffeln einer Serie hintereinander angeschaut werden, erzeugt einen deutlichen C02-Fußabdruck

Der globale Datendurchsatz steigt

Wie kommt das? Die Knotenpunkte des Internets sind (Computer-)Server, deren Aufgabe es ist, Daten bereitzustellen und zu verteilen. Zusammen bilden diese Servergruppen ein Daten- oder Rechenzentrum. Jeder Internetkauf, jede Suchmaschinenanfrage und jede E-Mail wandern von Datenzentrum zu Datenzentrum und passieren dabei Tausende von Servern – mit steigender Tendenz: Während 1992 der globale Datendurchsatz bei 100 Gigabyte (GB) pro Tag lag, erreichte er 2002 bereits 100 GB pro Sekunde. Die Prognose für das Jahr 2021 liegt bei knapp 106.000 GB pro Sekunde (6).

Globaler Datendurchsatz im Internet seit 1992 mit Prognose für 2021.

Globaler Datendurchsatz im Internet seit 1992 mit Prognose für 2021. Eigene Darstellung. Datenquelle: Cisco

Audiovisuelle Inhalte heizen den Datenverkehr an

Qualitativ hat sich in den vergangenen Jahren dabei deutlich die Zusammensetzung des Datenstroms verändert. Im Bereich der privaten Internetnutzung ist die audiovisuelle Unterhaltung heute der wichtigste Treiber der Nachfrage nach Bandbreite und erzeugt die größte Menge an Datenverkehr im Internet (7). 2021 wird sich laut dem amerikanischen Internetriesen Cisco der Datenverkehr zu knapp 82 Prozent aus Videostreaming (8) zusammensetzen.

Prognostizierte Zusammensetzung des Internet-Datendurchsatzes im Jahr 2021.

Prognostizierte Zusammensetzung des Internet-Datendurchsatzes im Jahr 2021. Eigene Darstellung. Datenquelle: Cisco.com

Eine andere Prognose geht davon aus, dass sich die Zahl von aktuell 200 Millionen Nutzern von Anbietern wie Netflix, Hulu oder Amazon Prime Video weltweit bis ins Jahr 2022 auf 400 Millionen verdoppeln (9) wird

Prognostizierte Zusammensetzung des Internet-Datendurchsatzes im Jahr 2021.

Anzahl Video-On-Demand-Nutzer*innen 2016 und Prognose für 2022. Eigene Darstellung. Datenquelle: statista.com

Leichter Zugang, überschaubare Kosten, erhöhter Konsum

Einer der Hauptgründe des steigenden Konsums von Video-On-Demand ist der leichte Zugang zu diesem Service, seine „Niedrigschwelligkeit“. Der Abschluss einer Mitgliedschaft und die Nutzung dieser Dienste sind schnell, einfach und ohne besondere technische Kenntnisse im Handumdrehen zu bewerkstelligen. Der leichte Einstieg verführt zusammen mit einer Flatrate-Zahlung pro Monat zu einem deutlich verstärkten Konsum dieser Angebote.

Der Umweltschaden durch den erhöhten Energieverbrauch ist dabei weder weithin bekannt noch in irgendeiner Form direkt ersichtlich.

Der Energieverbrauch durch Herstellung und Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) liegt bei circa 12 Prozent des Gesamtverbrauchs an elektrischer Energie. Die Rechenzentren haben aktuell daran einen Anteil von 21 Prozent, der – wie gezeigt – hauptsächlich durch das Streamen von Video-Inhalten erzeugt wird (10). Nach einer Prognose der Technischen Universität Dresden wird der Verbrauch elektrischer Energie durch IKT im Jahr 2030 so hoch sein wie der aktuelle Stromverbrauch der Weltbevölkerung (11).

Streaming-Verhalten führt zu schlechter Ökobilanz

Fassen wir an dieser Stelle kurz zusammen: Eine wichtige Chance für mehr Nachhaltigkeit durch Digitalisierung liegt in der Dematerialisierung, also der reduzierten Erzeugung und Nutzung physischer Materialien. Dazu gehört auch das Streaming von Filmen, Serien und Videos. Das Streaming eines einzelnen Films hat eine bessere Ökobilanz als die Autofahrt zur Videothek für das Ausleihen einer DVD. Problematisch ist nur, dass die „Niedrigschwelligkeit“ der Video-On-Demand-Dienste wie Netflix dazu einladen, deutlich mehr als einen Film zu schauen – vielmehr scheint das übermäßige Konsumieren ganzer Serienstaffeln am Stück eine Art Sport geworden zu sein. Dies erzeugt eine schlechte Ökobilanz, da die Streaming-Inhalte von Datenzentren geliefert werden, deren Energieverbrauch und folglich deren Emissionen jährlich steigen.

Filmgenuss per Stream mit Augenmaß

Digitalisierung erzeugt ein hohes Maß an Effizienz. Das umfasst allgemein den sparsamen Einsatz der Mittel (Geld, Zeit, Energie, Rohstoff) zur Umsetzung beziehungsweise Erreichung eines Ziels und ist damit ein wichtiger Faktor der Nachhaltigkeit. Doch wie gezeigt wurde, wird ein Gewinn auf Ebene der Effizienz schnell wieder durch erhöhten Konsum aufgefressen. Das nennt sich „Reboundeffekt“. Aus demselben Grund lässt man Energiesparbirnen auch gerne einmal etwas länger brennen, da sie im Unterhalt günstiger sind.
Daraus resultiert der wichtigste Nachhaltigkeitsfaktor, die Suffizienz – die Reduzierung von Energie- und Rohstoffverbrauch und des Konsums. Nur eine erhöhte Effizienz in Kombination mit gleichzeitigem suffizientem Verhalten ist in der Lage, nachhaltige Effekte hinreichend zu bewirken. Das bedeutet für uns: Nichts spricht gegen den Filmgenuss per Stream. Dieser kann sogar nachhaltig sein, wenn sich der Konsum im Rahmen hält. Das ist nachhaltige Digitalisierung, die Energie spart und Emissionen reduziert.

ÜBER DEN AUTOR
Der Techniksoziologe Felix Sühlmann-Faul ist spezialisiert auf den Bereich Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Zuletzt verfasste er eine Studie zu den Nachhaltigkeitsdefiziten der Digitalisierung und möglichen Handlungsempfehlungen im Auftrag des WWF Deutschland und der Robert Bosch Stiftung.
Kurze Zusammenfassung
Ausführliche Zusammenfassung
Komplette Studie

Am 6. September erscheint sein Buch „Der blinde Fleck der Digitalisierung“ im Oekom-Verlag


Quellen und Anmerkungen

(1) Vgl. nachhaltigkeit.info/artikel/dematerialisierung_1121.htm
(2) Vgl. Murugesan, San 2010: Strategies for Greening Enterprise IT: Creating Business Value and Contributing to Environmental Sustainability, in: Unhelkar, Bhuvan: Handbook of Research on Green ICT: Technology, Business and Social Perspectives, IGI Global: 51-64
(3)Vgl. Smith, Bud E. 2013: Green Computing: Tools and Techniques for Saving Energy, Money and Resources, CRC Press: 54
(4) Vgl. Hilty, Lorenz 2002: Sustainable Development and the Information Society, in: Brunnstein, Klaus und Berleur, Jacques (Hrsg.): Human Choice and Computers, The International Federation for Information Processing, Volume 98, Heidelberg, 305-315
(5) Vgl. Shehabi, Arman / Walker, Ben / Massanet, Eric 2014: The energy and greenhouse-gas implications of internet video streaming in the United States; iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/9/5/054007/pdf
(6) Vgl. cisco.com/c/en/us/solutions/collateral/service-provider/visual-networking-index-vni/vni-hyperconnectivity-wp.html
(7) Vgl. Lohmann, Wolfgang / Hilty, Lorenz / Behrendt, Siegfried et al. 2015: Grüne Software - Schlussbericht zum Vorhaben: Ermittlung und Erschließung von Umweltschutzpotenzialen der Informations- und Kommunikationstechnik (Green IT), TV3: Potenzialanalyse zur Ressourcenschonung optimierter Softwareentwicklung und -einsatz, Dessau-Roßlau
(8) Vgl. cisco.com/c/en/us/solutions/collateral/service-provider/visual-networking-index-vni/vni-hyperconnectivity-wp.html
(9) Vgl. de.statista.com/outlook/201/100/video-on-demand/weltweit#market-users
(10) Vgl. Finley, Kent 2015: Your Binge-Watching is Making the Planet Warmer; wired.com/2015/05/binge-watching-making-planet-warmer/
(11) Vgl. Clauß, Ulrich 2011: Das Internet als Klimakiller; m.welt.de/print/die_welt/wissen/article13392674/Das-Internet-als-Klimakiller.html