Das am 25. März 2020 per Regierungserlass verfügte allgemeine Ausgangsverbot war verfassungswidrig. Zu diesem Schluss kamen die obersten Richter in ihrer Sitzung am 22. Juli 2020. Jedem, der sich ein wenig mit der Materie befasst hatte, konnte schon im März auffallen, dass eine wesentliche Diskrepanz zwischen dem vom Parlament beschlossenen Gesetz und der Regierungsverfügung bestand. Die Abgeordneten beauftragten die Koalitionsregierung aus ÖVP und Grünen nämlich, gegen die Verbreitung des Virus das „Betreten bestimmter Orte zu untersagen“. Damit sollten größere Menschenansammlungen unterbunden werden.
Die Viererallianz aus Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) machte daraus ein generelles Betretungsverbot aller öffentlichen Orte, außer für dringend zu erledigende Berufsarbeit, Besorgung von Lebensmitteln, medizinische Hilfeleistung und Spaziergänge, die nur allein oder mit Haushaltsangehörigen gestattet waren.
Mit den Ausgangssperren nahm der Polizeistaat so richtig Fahrt auf. Über 35.000 Anzeigen, davon 11.500 in der Hauptstadt Wien, wurden gegen Menschen ausgesprochen, die zu lange auf einer Parkbank saßen, das war mehr als der erlaubte Spaziergang, sich mit Freunden trafen, sie wurden vom Innenminister als „Lebensgefährder“ dargestellt oder zum Wandern fuhren — auch das war mehr als der erlaubte Spaziergang im Umfeld des Wohnortes. „Der Verfassungsgerichtshof hat die wichtigste Verordnung zu den Ausgangsbeschränkungen damit praktisch zur Gänze eliminiert“, fasst der bekannte Rechtsprofessor Heinz Mayer das politische Debakel der Regierung im praktischen Corona-Management zusammen. Nun beginnt der Streit darum, was mit jenen bereits bezahlten tausenden Strafen, die bis zu 500 Euro betragen, passiert.
Die Corona-Koalition bleibt vorerst vom Richterspruch unbeeindruckt, führt das Schlamassel auf die Hektik im Maßnahmen-Stakkato zurück und verspricht für die Zukunft, ihre Erlässe und Verordnungen genauer zu prüfen. Letzteres ist freilich keine Frohbotschaft, könnte doch die Regierungsmehrheit im Parlament für die herbeigeredete zweite Welle härtere Gesetzestexte erlassen.
Zwei Stunden, nachdem der Verfassungsgerichtshof den Kern des Lockdown vom März 2020 gekippt hatte, statuierte ein Klagenfurter Richter ein Exempel an einer Bosnierin. Wegen „vorsätzlicher Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten“, sprich: Missachtung einer mündlich ausgesprochenen Quarantäne, erhielt die 49-Jährige eine Geldstrafe von 100 Tagsätzen, in ihrem Fall 800 Euro, und sechs Monate Haft, die bedingt ausgesprochen wurde.
Dass es ausgerechnet eine — wie die nach Tagsätzen berechnete Geldstrafe zeigt — arme Frau mit ausländischen Wurzeln ist, die das erste Strafverfahren trifft, zeigt zum einen ein gewisses rassistisches Grundrauschen im Justizapparat und zum anderen einen Probegalopp, es mit jemandem zu probieren, der sich nicht wehrt.
Diese Annahme war richtig. Die Bosnierin kam ohne Anwalt, bekannte sich schuldig und nahm das Urteil sofort an.
Wie viele Personen seit den Lockdown-Maßnahmen in Österreich mit sogenannten „Absonderungsbescheiden“ bedacht wurden — so lautet der juristische Terminus für die Aufforderung, sich in eine 14-tägige Quarantäne zu begeben —, ist offensichtlich ein streng gehütetes Geheimnis. Die Pressestelle im Gesundheitsministerium weiß es nicht und verweist höflich auf regionale Gesundheitsbehörden in den Bundesländern, die sich wieder auf die Bezirksämter berufen. Die Zahl dürfte im fünfstelligen Bereich liegen.
Solche Absonderungsbescheide werden anfangs oft mündlich per Telefon oder als SMS-Kurznachricht ausgesprochen, das Eintreffen des offiziellen Briefes kann Tage dauern. Kontrolliert wird die Quarantäne von den Gesundheitsbehörden der Gemeinden und Länder sowie der Polizei. Wien verweigert die polizeiliche „Hilfe“, während die Exekutive in Tirol schon über 30.000 Mal ausgerückt ist, um den Abgesonderten nachzuspüren.
Zu einem Absonderungsbescheid kommt man relativ leicht … und teilweise wie die Jungfrau zum Kind. Es genügt, etwas länger neben jemandem gesessen zu sein, der positiv auf Covid-19 getestet wurde, wenn die Tracking-Behörden die entsprechende Spur erfolgreich aufnehmen können. Oder man war zum Beispiel, wie am Sonntag, dem 19. Juli geschehen, in einer serbisch-orthodoxen Kirche in Wien beten; dort wurden insgesamt fünf Personen positiv getestet und alle Gläubigen in Quarantäne geschickt.
Aktuell sind 4.000 Menschen in Wien „abgesondert“, in ihren eigenen vier Wänden eingesperrt, so die Schätzung der Landes-ÖVP, die sich darüber beklagt, dass sich die sozialdemokratische Stadtverwaltung von der Polizei bei den Kontrollgängen nicht „helfen“ lässt.
Zurück zum Fall der 49-jährigen Bosnierin, die wegen Verletzung der Quarantäne nun vorbestraft ist. Sie war Ende März 2020 positiv auf Corona getestet worden. In welchem Zusammenhang dieser Test gemacht wurde, ist für den Autor nicht eruierbar. Weil ihre Enkelin in Bosnien fiebrig danieder lag, wollte sie ihrer Tochter Geld für Medikamente zukommen lassen und schickte dafür eine Freundin zum Bankschalter in den nahen Supermarkt. Diese dürfte dort das Anliegen vorgebracht haben, dass sie für ihre Freundin Geld nach Bosnien überweisen soll und diese wegen der verordneten Quarantäne selbst nicht kommen könne.
Darauf wies die Bankangestellte die Freundin ab und meinte, so eine Überweisung wäre nur persönlich möglich. Als tags darauf die „Abgesonderte“ am Schalter erschien, wusste die Bank-Frau bereits über ihre Quarantäne Bescheid. Ob sie selbst die Polizei informierte oder die Anzeige von der Bank kam, bleibt unklar. Jedenfalls trat sie dreieinhalb Monate später als Zeugin im Prozess gegen die Quarantäne-Brecherin auf und beschuldigte diese noch dazu, keine Maske getragen zu haben, was die Bosnierin bestreitet. „Zum Glück wurde ich nicht angesteckt“, meinte die Bank-Zeugin vor dem Richterstuhl.
„Ich wäre nicht gegangen, wenn meine Enkelin nicht krank gewesen wäre“, beteuerte die Angeklagte später vor dem Richter Oliver Kriz, der ein abschreckendes Signal setzen wollte: „Das (Urteil)“, meinte er gegenüber der Kärtner Kronenzeitung, „sollte Nachahmer abschrecken, die meinen, andere durch Covid gefährden zu müssen.“ Mit dieser Stellungnahme — „gefährden zu müssen“ — unterstellte er einen Vorsatz, zu dem die Angeklagte sich nicht äußerte, weil sie ohne Beratung das Urteil annahm. Sie war ein leichter Fall für das Gericht, das mit ihr einen Präzedenzfall schaffen konnte.
Als ob es die österreichische Regierung im Corona-Management derzeit besonders auf Südosteuropäer und -innen abgesehen hätte, arbeiten Gesundheits- und Innenministerium an einer automatischen 14-tägigen Quarantäne für alle Menschen, die aus Bosnien, Serbien, Montenegro oder Bulgarien nach Österreich einreisen, und zwar auch dann, wenn sie einen gültigen negativen Test vorweisen können.
Diese Schikane sollte ohne lange Vorlaufzeit bereits am 24. Juli in Kraft treten. Sie würde Tausende Menschen treffen, die man früher Gastarbeiter und -innen genannt hat, und die ihren Urlaub trotz bestehender Reisewarnung bei Verwandten in ihrer Heimat verbrachten.
Viele von ihnen würden ihre Jobs verlieren, während sie zu Hause 14 Tage lang in Isolation sitzen.
Mit dieser Maßnahme spränge das rassistische Grundrauschen von der Justiz in den Regierungsapparat über; und es paart sich dort mit der Klassenfrage, denn die trotz negativer Testung erzwungene Quarantäne soll für Schlüsselkräfte nicht gelten. Damit sind wohl jene Österreicher mit österreichischen Wurzeln gemeint, die sich aus anderen als familiären Gründen in den Balkanländern aufgehalten haben oder auch ein paar serbischstämmige Unternehmer, die gute Kontakte zu österreichischen Stellen haben.
Ab Freitag, den 24. Juli 2020, gilt im Übrigen auch wieder eine verschärfte Maskenpflicht in Österreich. Mund-Nasen-Hüllen sind nun außer in öffentlichen Verkehrsmitteln, Krankenhäusern und Apotheken wieder in Lebensmittelläden, Banken, bei der Post, in Pflegeheimen und bei allen Veranstaltungen in geschlossenen Räumen zu tragen.
Im sozialdemokratisch regierten Wien regt sich — nicht zum ersten Mal — leiser Widerstand. Eingedenk der Aufhebung der Ausgangssperren durch den Verfassungsgerichtshof, der zehntausende Strafen null und nichtig erklärt hatte, erklärte ein Sprecher der Wiener Polizei, bei Verstößen gegen die Corona-Regeln bis auf weiteres keine Strafmandate mehr auszustellen, sondern es bei Ermahnungen zu belassen. Wie lange sich die Bundeshauptstadt solche Querschüsse gegen die autoritäre Koalitionsregierung wird leisten können, wird sich auch in den Reaktionen auf der Straße zeigen.
Kleinere Manifestationen gegen das Zwangsregime finden Wochenende für Wochenende statt, und am 11. Oktober 2020 wird in Wien gewählt. Verpflichtendes Maskentragen beim Urnengang könnte vor allem den Sozialdemokraten schaden.