„Christus geht im Poncho einher“ lautete einer der Wahlsprüche der Basiskirchen im Norden Perus. Die Campesinos, Kleinbauern indianischer Herkunft, betrieben in der unwirtlichen Gebirgslandschaft seit Generationen Ackerbau. Ein hartes Brot. Da kann sich jede Störung des gewohnten Ablaufs existenzbedrohend auswirken. In den Jahren nach der Jahrtausendwende hatten die Campesinos im peruanischen Cajamarca auf einmal Probleme mit der nahe gelegenen Yanacocha-Mine, der größten Goldmine Südamerikas. Der metallhaltige Dampf aus den Bergwerken legte sich als rostbraune Schmiere auf die Felder. Daraufhin starben die Kühe.
Die Campesinos begannen, sich zu wehren. Unterstützt wurden sie dabei lange Zeit von einer Kirche, die sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil für die Rechte der Armen starkmachte. Der legendäre Bischof José Dammert Bellido hatte in Cajamarca bis zu seiner Berentung im Jahr 1992 eine selbstbewusste indianische Kirche aufgebaut. Er hatte 3.000 Campesinos zu Gemeindehelfern ausgebildet, die zum Teil priesterliche Funktionen wie Bibellesungen und Taufen wahrnahmen. Der mutige Priester Marco Arana setzte das Werk des Bischofs fort und gründete die Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung „Grufides“. Mit zahlreichen gewaltfreien Aktionen unterstützte er die Bauern in ihrem Kampf gegen die Minenbetreiber.
Doch Marco Arana musste sich bald nach Beginn seiner Aktivitäten mit Morddrohungen auseinandersetzen. Sechs Campesinos waren, vermutlich von Sicherheitskräften der Minen, ermordet worden. Die Gewalttätigkeiten hatten zugenommen, als Ortsbischof Lázaro dem ihm unterstellten Priester Arano in den Rücken fiel. Der Bischof hatte bei seinem Amtsantritt 2004 angekündigt, den „Saustall“ auszumisten. Insider berichteten, dass er sich jedes Jahr von den Goldminen-Betreibern ein Auto habe schenken lassen. Bischof Lázaro verfasste 2006 einen Hirtenbrief, in dem er mehrere engagierte Priester aufforderte, ihre „Agitation“ sofort einzustellen und sich auf ihre „eigentlichen priesterlichen Aufgaben zu beschränken“.
Thron und Altar — die unheilige Allianz
Was sind die „eigentlichen priesterlichen Aufgaben“? Zweifellos prallten in Peru zwei Auffassungen von Kirche aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zwei Traditionen der Bibeldeutung, die einander seit den Ursprüngen des Christentums gegenseitig bekämpfen. Der Verbindung von Thron und Altar, wie sie sich seit dem römischen Kaiser Konstantin anbahnte, von kirchlichem Prunk und weltlicher Machtentfaltung, stand eine Strömung des sozial engagierten Christentums gegenüber, die sich auf das Armutsgebot bestimmter Stellen des Evangeliums berief.
Als unwissentlicher Begründer und Bezugspunkt jeder Art von „linker Theologie“ gilt der Evangelist Lukas. In seinem Evangelium, geschrieben circa zwischen 80 und 90 nach Christus, sind — verglichen mit Matthäus, Markus und Johannes — auffällig viele Textstellen überliefert, in denen die soziale Differenz zwischen Arm und Reich Thema ist. Die berühmte Weihnachtsgeschichte mit ihrer Stall- und Krippen-Romantik ist ausschließlich im Lukas-Evangelium überliefert. Sie verlegt die Geburt Jesu — was historisch nicht verbürgt ist und vielfach bezweifelt wird — in ein „Unterschichten-Milieu“, inmitten der Tiere des Feldes und der einfachen Hirten. Der Gottessohn auf Stroh gebettet — hier findet der Mythos vom Abstieg Gottes in die „Niedrigkeit“ des Menschlichen einen sinnfälligen und überaus populären Ausdruck.
Schon vor Jesu Geburt allerdings wird bei Lukas Sozialrevolutionäres verkündet: „Er übet Gewalt mit seinem Arm und zerstreuet, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn“, heißt es da über Gott Vater. „Er stößet die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllet er mit Gütern und lässt die Reichen leer“ (Lukas 1, 51). Die linke Revoluzzerin, die dies verkündet, ist keine Geringere als Maria, die Mutter des Religionsgründers. In der reichen Tradition der Marienverehrung gerade im Katholizismus spielt dieser „aggressive“ Aspekt Marias gegenüber ihren sanften Eigenschaften — Gnade und Milde — jedoch nur eine geringe Rolle. Es handelt sich bei Marias „Lobgesang“ um eine typische Rollentauschfantasie, die im Weiteren die Rhetorik des Lukas-Evangeliums prägen wird. Die Armen sollen im „Reich Gottes“ in die Position der Reichen versetzt werden und umgekehrt.
Die seligen Armen
In der Lukas-Version der Bergpredigt heißt es: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr hier hungert; denn ihr sollt satt werden. (…) Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost dahin. Weh euch, die ihr hier satt seid! Denn euch wird hungern“ (Lukas, 6, 20-24). Weiter hinter im Evangelium die Warnung vor Habgier: „Sehet zu und hütet euch vor Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat“ (Lukas 12, 15). Im Gleichnis „Reicher Mann und armer Lazarus“ findet sich der Reiche nach seinem Ableben in einem qualvollen Totenreich wieder und muss mitansehen, wie es sich der ebenfalls gestorbene Arme in „Abrahams Schoß“ gut gehen lässt (Lukas, 16, 19). Natürlich ist da auch die Geschichte von dem Reichen zu erwähnen, dem Jesus rät, alles, was er hat, den Armen zu geben. „Es ist leichter, dass ein Kamel gehe durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt“ (Lukas, 18, 25).
Eine solche Häufung sozial engagierter Textstellen hat Lukas den Ruf eines Evangelisten der Armen und sozialistisch denkenden Schriftstellers eingebracht. Tatsächlich geht es dem Jesus des Lukas-Evangeliums aber nicht um eine Idealisierung unfreiwilliger Armut, sondern um das Ideal des freiwilligen Besitzverzichts als Voraussetzung für Jünger-Nachfolge — die Preisgabe des Egos, um einen neutralen Begriff zu wählen.
Der De-facto-Kommunismus und die Besitzlosigkeit der Jüngergemeinschaft Jesu wurden zum Vorbild für besitzlose Mönchsgemeinschaften und Armutsbewegungen im späteren Christentum.
Spirituelle Therapie für Reiche
Reiche indes werden dazu ermahnt, die Anhaftung an materiellen Gewinn als Hindernis auf dem Weg zur Erlösung zu verstehen. Sie sollen Schulden erlassen, zu Unrecht angeeignetes Gut zurückgeben und generell einen großen Teil ihres Besitzes den Armen spenden. Diese Anweisungen sind zunächst „spirituelle Therapie“ für die Reichen, aber auch der Entwurf einer fundamentalen Sozialordnung, die — im Gegensatz zur modernen Wirtschaftsordnung — geeignet ist, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen.
Besonders deutlich werden diese beiden Aspekte in der Geschichte vom Zöllner Zachäus, dem Jesus auftrug, die Hälfte seiner Güter den Armen zu geben und Menschen, die er betrogen hat, das Vierfache zurückzugeben (Lukas 19, 8). Zachäus ist der Prototyp des Ausbeuters, des Feindbilds aller Sozialisten. Steuerpächter im damaligen Judäa waren Eintreiber für den römischen Staat. Sie schlugen aber auf die von Rom geforderte Summe oft noch ein Vielfaches drauf, um sich so an der Bevölkerung des eigenen Landes schamlos zu bereichern. Zachäus ist ein schönes Beispiel für die Umkehr eines Sünders und für Vergebung.
Es wäre aber sicher ein Missverständnis, wenn sich die Kirchen mit Hinweis auf Zachäus mit ausbeuterischen Strukturen verbünden würden und dabei die Notwendigkeit der Umkehr des „Sünders“ unter den Tisch fallen ließen. Man kann durchaus sagen, dass „linke“ Interpretationen des Evangeliums eine Grundlage haben. Jesus spricht den Reichen das moralische Recht ab, ihren Besitz nur deshalb zu behalten, weil sie formaljuristisch Anspruch darauf erheben können.
Die Armut als Braut
Es ist unmöglich, hier einen Gesamtüberblick über die sozial engagierten Strömungen der Kirchengeschichte zu geben, die sich an das Lukas-Evangelium anschließen. Berühmt ist etwa die „Rede an die Reichen“ (370 nach Christus) von Basilius, Erzbischof von Caesarea:
„Genauso sind die Reichen: Sie betrachten die Güter, die allen gehören, als ihr privates Eigentum, weil sie sich diese als Erste angeeignet haben. Den Hungernden gehört das Brot, das du für dich behältst; den Nackten der Mantel, den du in der Truhe versteckst; den Armen das Geld, das du vergräbst.“
Bei den „vergrabenen“ Reichtümern kann man heute durchaus an auf Bankkonten gehortetes, dem Umlauf entzogenes Geld denken. Basilius’ Zeitgenosse, der griechische Bischof Grogor von Nyssa, sprach sogar explizit die Problematik des Zinses an: „Was ist für ein Unterschied, durch Einbruch in Besitz fremden Gutes zu kommen (…) oder ob man durch Zwang, der in den Zinsen liegt, das in Besitzt nimmt, was einem nicht gehört?“
Ein großer Erneuerer des Armutsgebots, wie es vor allem aus dem Evangelium des Lukas herausgelesen werden kann, war Franz von Assisi (1181 bis 1226). In seiner Geburtsstadt ist noch heute eine graue, zerrissene, mehrfach geflickte Kutte zu besichtigen, extremer Ausdruck seiner uneitlen, allem Weltlichen abgewandten Geisteshaltung. Franz von Assisi war der Sohn eines reichen Kaufmanns. Als ihn seine ebenfalls aus der „Oberschicht“ stammenden Freunde einmal allein und nachdenklich in einer Gasse vorfanden, fragten sie, ob er daran dächte, „ein Weib zu nehmen“. Franz soll geantwortet haben: „Ich gedenke mir eine Braut zu nehmen, diese ist aber viel edler, reicher und schöner, als ihr zu denken und euch vorzustellen vermöget.“ Diese Braut war die Armut.
Franz verkaufte alles, was ihm im väterlichen Haus gehörte, für den Wiederaufbau einer verwahrlosten Kapelle bei Assisi. Als sein Vater ihn dafür öffentlich zur Rede stellte und drohte, ihn zu enterben, entkleidete sich Franz vollständig und gelobte, von nun an nur noch Gott anzugehören. Franz — und in seiner Nachfolge die Orden der Franziskaner und der Klarissinnen — haben seither unzählige soziale Projekte auf den Weg gebracht und sind ihrem Gelübde persönlicher Bedürfnislosigkeit in der Regel treu geblieben. Dabei ist die starke Ausstrahlung des Franz von Assisi sicher auch seiner überlieferten heiteren Laune zu verdanken — schlagender Beweis dafür, dass eine konsequent immaterielle Lebenseinstellung sehr wohl ein erfülltes Leben zu begründen vermag.
Die armen Franziskaner waren so auch eine beständige Provokation für eine zunehmend prunksüchtige Kirche, die die soziale Botschaft des Evangeliums eher wegzuinterpretieren suchte. Eine literarische Spur dieses Zwiespalts finden wir in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“. In diesem berühmten Mittelalter-Roman wird eine Debatte zwischen Vertretern des Franziskanerordens und einer Gesandtschaft des Papstes Johannes XXII. beschrieben, die sich um die Notwendigkeit oder Nicht-Notwendigkeit der Armut der Kirche dreht. Doch kehren wir zurück in die Moderne.
Eine unsoziale Religion ist am Ende
Einen wesentlichen Schub erhielt die politisch engagierte Kirche nach der kubanischen Revolution von 1959 mit der Entstehung der sogenannten Befreiungstheologie in Lateinamerika. Es war zunächst eine Bewegung der Armen selbst, landloser Bauern und Slumbewohner, die aus der Bibel eine Botschaft der Befreiung von Not und Unterdrückung herauslasen. Sie interpretierten die biblischen Geschichten, etwa den Auszug der Juden aus Ägypten, als etwas, das unmittelbare Konsequenzen für ihren Alltag hatte. Die Kirchenhierarchie verhielt sich gegenüber den Bestrebungen der Basis von Anfang an zwiespältig. Ein Teil des katholischen Klerus stellte sich traditionell eng an die Seite der Mächtigen und Besitzenden.
Auch in anderen Ländern der Erde wurde die Verbindung von Christentum und Politik als schlagkräftiges Instrument gesellschaftlicher Veränderung entdeckt. Der Rückgriff auf die weithin anerkannte Autorität biblischer Aussagen diente dazu, den berechtigten Ansprüchen der Armen und Unterdrückten Nachdruck zu verleihen, ihren Mut anzuspornen, aber auch Gewalt zu verhindern. So gab sich der Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King „überzeugt, dass jede Religion, die angeblich um die Seelen der Menschen besorgt ist, sich aber nicht um die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse kümmert, geistlich gesehen schon vom Tod gezeichnet ist und nur auf den Tag des Begräbnisses wartet. (…) Eine Religion, die beim Individuum endet, ist am Ende.“
Seit den 1970er-Jahren stellten sich Theologen wie Gustavo Gutiérrez, von dem der Begriff „Teología de la liberación“ stammt, Ernesto Cardenal und Leonardo Boff demonstrativ hinter die christlichen Basisbewegungen in Lateinamerika. Sie schufen mit Schriften wie Boffs „Schrei der Armen“ ein theoretisches Fundament, empfanden sich aber nicht als Begründer der Bewegung, sondern als deren Sprachrohr.
Die Befreiungstheologen verstanden die Erlösungsbotschaft der Bibel nicht ausschließlich in einem transzendenten Sinne, sondern fanden in ihr eine weltlich-ökonomische, ja sozialrevolutionäre Botschaft.
So kamen sie nicht umhin, auch die Kirchenhierarchie zu kritisieren, der sie vorwarfen, durch Verdummung der Armen den Ausbeutungsinteressen der Besitzenden zu dienen. In Deutschland gipfelten die Aktivitäten der Sympathisanten der lateinamerikanischen Befreiungsbewegung in der Aussage des Theologen Helmut Gollwitzer: „Christen müssen Sozialisten sein.“ Gollwitzer war auch ein Freund und Förderer von Rudi Dutschke, dem Anführer der 68er-Studentenbewegung in Berlin.
Gottes Solidarität mit den Unterdrückten
Jon Sobrino, einer der populärsten Befreiungstheologen, der seinen Lebensmittelpunkt seit 1957 in El Salvador hatte, drückte die Auffassung der Befreiungstheologie besonders prägnant aus: „An Gott glauben bedeutet, sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren.“ Sobrino war auch Berater des 1980 von einer Todesschwadron ermordeten Erzbischofs Óscar Romero. Hinter dem Mord standen vermutlich Militärberater aus den USA. Romero hatte in seiner letzten Predigt vor seiner Ermordung gesagt: „Kein Soldat ist verpflichtet, einem Befehl zu gehorchen, der wider das Gesetz Gottes gerichtet ist. (...) Ich bitte euch, ich flehe euch an, ich befehle euch im Namen Gottes — hört auf mit der Unterdrückung!“
Der Brasilianer Leonardo Boff wurde 1985 vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger zu einem Jahr des Schweigens verurteilt und später aller kirchlichen Funktionen enthoben. Ratzinger warf Boff unter anderem vor, dass Jesus Christus nach dessen Ansicht keine bestimmte Kirchengestalt befohlen habe, sodass andere als das katholische Kirchenmodell aus dem Evangelium heraus denkbar wären. Ferner dass Offenbarung und Dogma bei Boff nur eine untergeordnete Rolle spielten und dass er den historischen Machtmissbrauch der Kircheninstitution unnötig polemisch und respektlos beschrieben habe. In seiner Rechtfertigung gegenüber der Glaubenskongregation sagte Boff: „Die Kirche der Reichen für die Armen verneint die Macht des Volkes, sich zu befreien.“
In den 1990er-Jahren startete Leonardo Boff ganz im Sinne der Grundsätze der Befreiungstheologie scharfe Angriffe gegen die sich ausbreitende Ideologie des Neoliberalismus:
„Die Befreiungstheologie ist in den Sechzigerjahren aus dem Schrei der Armen hervorgegangen. Dieser Schrei erklingt bis heute. Und er wurde zum lauten Aufschreien, weil es nicht mehr nur die Dritte Welt betrifft, sondern zwei Drittel der Menschheit. Nicht nur die Armen schreien, sondern auch die Schöpfung, unsere Erde, die ausgeplündert wird. In den 1990er-Jahren geht es nicht um die Befreiung, sondern um die soziale Ausschließung als Folge der neuen Produktionsweisen, des Weltmarktes und des Neoliberalismus.“
Und Boff vermerkt mit bitterer Ironie: „Hält diese Entwicklung an, verlieren die Armen ihr Privileg, ausgebeutet zu werden. Sie werden einfach ausgeschlossen, für nichts erklärt und, wie beispielsweise die brasilianischen Straßenkinder, von Todesschwadronen wie lästige Hunde erschossen.“ In einem anderen Interview sagte der streitbare Theologe: „Ich glaube, dass Veränderung möglich ist, weil ich keinen Gott annehmen kann, der sich dieser Welt gegenüber indifferent verhält, sondern nur einen, der sich den Armen, den Leidenden zuwendet. Seine Gnade gibt Kraft zum Widerstand, Kraft zur Befreiung.“ Die Theologie müsse „offen sein für solche Herausforderungen, für den Schrei der Armen. Sonst bleibt eine Kluft zwischen der Welt des Glaubens und der konkreten politischen Wirklichkeit“.
Kapitalistische Pharisäer
Wie steht es aber um das sozial engagierte Christentum in unseren Breiten, in den zunehmend von einer neuen Armut bedrohten „reichen“ Ländern des Westens? Hier bekamen die gegenüber dem Kapitalismus kritischen Kräfte Zuspruch von unerwarteter Seite. Heiner Geißler, der früher als konservativer Hardliner verschriene ehemalige Generalsekretär der CDU, stellte 2003 in seinem Buch „Was würde Jesus heute sagen?“ die unkonventionelle Frage: „Dürfen Kapitalisten sich Christen nennen?“ Geißlers Antwort: „Wer den Börsenwert und den Aktienkurs eines Unternehmens verabsolutiert und nur noch die Kapitalinteressen ökonomisch gelten lässt, gehört zu den Menschen, die, wie Jesus sagt, viel Geld besitzen und für die es schwer sein wird, in das Reich Gottes zu kommen.“
Über die „Pharisäer“ in seiner eigenen Partei sagte der ehemalige Jesuitenschüler Geißler: „Jeden Sonntag (…) feierlich in die Kirche zu gehen, als politischer Schausteller sozusagen (…), aber gleichzeitig tiefe Einschnitte ins soziale Netz, die Kürzung der Sozialhilfe zu verlangen, den Kündigungsschutz abzuschaffen, Lohndumping als Wettbewerbselement zuzulassen, statt einer Bürgerversicherung das Risiko von Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu privatisieren und auf den Kapitalmarkt zu verfrachten, ist nicht nur ökonomisch falsch, sondern führt wie in den USA zu einer Spaltung der Gesellschaft und ist mit der Botschaft des Evangeliums nicht zu vereinbaren.“
Reichtum, der arm macht
Ein beredtes Beispiel für den Geist der Befreiungstheologie in Deutschland ist ein Aufsatz des evangelischen Theologen Ulrich Duchrow, der in Carl Amerys lesenswertem Sammelband „Briefe an den Reichtum“ veröffentlicht wurde. Duchrow gestaltet seinen Beitrag als fiktiven Briefwechsel zwischen zwei erfundenen Figuren: dem argentinischen Bischof Teófilo Lucano und dem deutschen Bischof Justus Zumkehr. Der Argentinier gibt zu Protokoll:
„Es geht nicht etwa um Armut als solche. Vielmehr geht es um Reichtum, der arm macht. Es geht um Mechanismen der Bereicherung, die als naturnotwendig erklärt und somit vergötzt werden. Armut ist die Folge. Darum kann es die Kirche nicht vermeiden, in Konflikt mit diesem Reichtum zu geraten. Nur so kann sie mitwirken, die Ursachen der gegenwärtigen Misere anzupacken. Bekanntlich reicht es nicht, die unter die Räuber Gefallenen zu versorgen. Man muss sich um die Räuber kümmern und sogar um die Ursachen dafür, dass und warum es Räuber gibt.“
Teófilo Lucano beziehungsweise Ulrich Duchrow präzisiert dann seine ökonomische Analyse. Die Ausbeutungsmechanismen hätten „mit der Einführung des Privateigentums zu tun — nicht im Sinn von Gebrauchseigentum, sondern von Eigentum, mit dessen Hilfe man nach Marktgesetzen Vermögensvermehrung betreiben kann. Der Zusammenhang von verabsolutiertem Verfügungseigentum — Zins — Geld — Verlust des verpfändeten Landes/Schuldsklaverei auf der einen und wachsender Großgrundbesitz mit Bewirtschaftung durch Sklavenarbeit auf der anderen Seite — ist also strukturell ein Mechanismus, der den Segenskreislauf umkehrt und damit zwingend in Gegensatz zu Jahweh gerät.“ Er zitiert dann die Bibel: „Kein Sklave kann zwei Herren dienen. Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon“ (Lukas, 16,13). Die Befreiung der Reichen vom Mammonismus sei psychologisch gesprochen „Suchttherapie“.
Der Text wird in der ökonomischen Theorie äußerst konkret und kritisiert die Kirchen für ihre Praxis, von Zinsen auf Geldanlagen zu profitieren:
„Wenn hingegen die Zins- über der Wachstumsrate liegt, raubt der Geldvermögensbesitzer den anderen am Wirtschaftsprozess Beteiligten, also vor allem den Arbeitenden, den gerechten Anteil am gemeinsam Erwirtschafteten. (…) Das Argument, die Kirchen bräuchten die Zinseinnahmen zu marktüblichen Bedingungen (…), ist gleichbedeutend mit der plausiblen Aussage, Räuber bräuchten ja auch etwas als Lebensunterhalt.“
Autor Duchrow setzt noch eins drauf:
„Neutralität in einem asymmetrischen System bedeutet Parteinahme für die Seite der Macht und des Reichtums. Wenn die Kirche Kirche sein will, muss sie sich an die Seite Gottes stellen. Und Gott holt die Mächtigen vom Thron und hebt die Niedrigen aus dem Staub.“
„Diese Wirtschaft tötet“
Ist der Vorwurf der Parteinahme für die Seite der Macht berechtigt? Ex-Papst Benedikt XVI. sprach noch 2007 gegen den Befreiungstheologen Jon Sobrino eine scharfe Lehrverurteilung aus. Der Lateinamerikaner verbreite in einigen seiner Bücher „erhebliche Abweichungen von Glauben und Kirche“ und könne somit bei den Gläubigen „großen Schaden anrichten“. Er betone zu sehr die Solidarität mit Armen und Unterdrückten und zu wenig den Glauben und die Erlösung durch Jesus Christus. Außerdem unterstreiche Sobrino zu sehr den menschlichen Charakter Jesu und vernachlässige dessen Göttlichkeit.
Wird Jesus also weiterhin in Gold und Purpur gekleidet? Oder läuft er, wie die peruanischen Campesinos meinen, „im Poncho“ einher, in der Tracht des einfachen Volkes? Findet man ihn im Bischofsornat oder eher in der zerrissenen Kutte des Franz von Assisi? Entbindet die Lehre von der Göttlichkeit Jesu die Kirchen von ihrer Pflicht zur Fürsorge für die Armen, die gegebenenfalls auch Frontstellung gegenüber ungerechten Bereicherungsmechanismen bedeutet?
Sollte ein ferner, transzendenter Gott weiter auf Kosten der Menschen und an ihnen vorbei verehrt werden? Oder bedeutet „Menschwerdung Gottes“ nicht gerade, dass der hohe ethische Grundsatz der Nächstenliebe gleichsam auf die Erde herabgestiegen ist, um hier in unserem Umfeld konkrete Wirklichkeit zu werden?
Der aktuelle Papst Franziskus gab nicht nur durch die interessante Wahl seines Namens vielen Anlass zur Hoffnung. „Diese Wirtschaft tötet“, sagte er in seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ (2013).
„Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. (…) Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen.“
In seiner Enzyklika „Fratelli Tutti“ von 2020 schrieb Franziskus in einem ähnlichen Sinn:
„Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkeimenden Herausforderung immer die gleichen Rezepte herauszieht.“
Dem Kapitalismus wirft der Papst eine Tendenz zur Gleichschaltung innerhalb der Weltkultur vor:
„Die örtlichen Konflikte und das Desinteresse für das Allgemeinwohl werden von der globalen Wirtschaft instrumentalisiert, um ein einziges kulturelles Modell durchzusetzen. Eine solche Kultur eint die Welt, trennt aber die Menschen und die Nationen.“
Ob die katholische Kirche dem Anspruch der Enzyklika in ihrer gegenwärtigen Verfassung auch nur annähernd gerecht wird, ist eine andere Frage.
Geimpften- und Getesteten-Erlöser
Auch die Kirchen sind seit 2020 weitgehend vor dem Corona-Narrativ eingeknickt, haben sich ihres universellen Anspruchs entkleidet und sind vielerorts zu Klientelkulten für Träger von 3G-Zertifikaten geworden.
Während Jesus Aussätzige umarmte, unterstützten die meisten seiner „Nachfolger“ jenen segregationistischen Zeitgeist, der Teile der Bevölkerung ohne Not erst zu Aussätzigen erklärt hatte. Nicht wenige Priester verwandelten sich in Geimpften- und allenfalls noch Getesteten-Erlöser.
Diese traurigen Entwicklungen mögen nicht das Wesen des christlichen Impulses ausmachen, sie mögen auch, wie wir hoffen können, nicht das letzte Wort gewesen sein. Mit einem bloßen Weiterwursteln nach dem Corona-Kulturbruch wird es jedoch nicht getan sein. Solange nur sinkende Inzidenzzahlen, nicht echte Einsicht zu einer Normalisierung der Situation in den Kirchen führt, bleiben bei vielen zuvor Ausgegrenzten offene Wunden, die ohne eine glaubwürdige Bitte um Vergebung nur sehr schwer werden heilen können.
Das Thema Corona existiert ja keineswegs völlig unabhängig vom Kapitalismusdiskurs, der im Mittelpunkt meines Artikels steht. Corona und die nachfolgenden inszenierten Krisen rund um Krieg, Teuerung und Gasmangel haben den „Schrei der Armen“, den Leonardo Boff beschrieben hatte, wieder lauter ertönen lassen. Die Anzahl der Armen nimmt rasant zu. Papst Franziskus, der unter anderem Impfungen zur „moralischen Verpflichtung“ erklärte, erwies sich dabei zeitweise eher als Teil des Problems, anstatt Lösungen aufzuzeigen. Sein Appell half dabei, die Kassen einiger Pharmariesen anschwellen zu lassen, während De-facto-Berufsverbote in den Lockdowns, Investitionen in Aufrüstung und eine durch desaströse Energiepolitik mutwillig von der Politik verursachte Teuerung immer mehr Menschen in die Armut absinken lassen.
Leider besteht wenig Zweifel daran, dass wachsende Armut das große Thema der nächsten Jahre sein wird — gerade auch in lange Zeit relativ reichen Ländern wie Deutschland. Wie werden sich die Kirchen in den anstehenden Konflikten positionieren? Werden sie mit Leonardo Boff darauf hoffen, dass Gottes Gnade „Kraft zum Widerstand, Kraft zur Befreiung“ verleihe? Oder werden sie sich gemäß der Empfehlung von Bischof Lázaro auf ihre „eigentlichen priesterlichen Aufgaben“ beschränken, was dann wohl auf politisch wirkungslose oder gar das System stabilisierende Seelenpflege hinausliefe?
Jenseits der Gehorsamspflicht
Hinter diesem Konflikt steht noch ein weiterer, der das Verhältnis des Gläubigen zu „seiner“ Obrigkeit betrifft. Da ist auf der einen Seite der Satz des Paulus (Römer 13): „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.“ Dieser Satz scheint auf plumpe Weise Machtnarrative in die Seelen der Menschen verpflanzen zu wollen.
Wenn man beobachtet, wie Priester auf vielerlei Art dem Geist der Evangelien zuwiderhandelten — vom Segnen der Waffen bis hin zu 2G-Kirchen —, dann kann man sogar sagen: Der Satz des Paulus über die Obrigkeit ist vielleicht der einzige gewesen, auf dessen getreuliche „Pflege“ durch die Kirchen man sich jederzeit verlassen konnte.
Auf der anderen Seite steht der Satz aus der Apostelgeschichte: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Dieser suggeriert, es könne auch einen Gegensatz geben zwischen Gott und der weltlichen Obrigkeit, und der Christ habe sich im Konfliktfall klar auf die Seite Gottes zu stellen. Wie im Übrigen auch im Spannungsfeld zwischen „Gott“ und dem „Mammon“. Theologisch sind beide Bibelzitate nur schwer miteinander in Einklang zu bringen, obwohl natürlich auch dies fintenreicht versucht worden ist. Aus sozialpolitischer Sicht scheint aber klar: Befreiend ist nur der zweite Satz, jener aus der Apostelgeschichte. Er entbindet religiöse Menschen von einem automatisierten Gehorsam gegenüber weltlicher Macht, verleiht ihnen Halt und Würde, die aus einem überweltlichen Bereich abgeleitet werden. Er zeigt eine Perspektive auf, von der aus die Unterdrückungs- und Ausplünderungsnarrative der Regierungen relativiert und überwunden werden können.
In autoritären, gelenkten Gesellschaften werden immer nur zweierlei Weltanschauungen geduldet: erstens eine atheistisch-materialistische, die zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit führt, weil keine über diese hinausgehende Quelle der Wertsetzung anerkannt wird; zweitens eine eingebettet-religiöse Haltung, die in einer abenteuerlichen gedanklichen Konstruktion Gott und Staatsführung zur Deckung bringt und die „Freiheit eines Christenmenschen“ (Martin Luther) wieder hinlenkt zur Unfreiheit eines staatshörigen Kirchgängers. Man kann aber auch ganz anders argumentieren: Wenn ich Atheist bin, muss ich nicht gehorchen, weil ich weiß, dass Regierungshandeln keinem erhabenen mystischen Geheimnis entspringt, sondern nur realpolitischen Erwägungen von stets nur sehr relativer Gültigkeit. Wenn ich dagegen an Gott glaube, muss ich ohnehin nicht gehorchen, weil das „moralische Gesetz in mir“ (Immanuel Kant) gegenüber den eher zufälligen Resultaten weltlichen Machtgeschachers stets die verlässlichere Orientierungsgröße darstellt.