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Der Revolutionspädagoge

Der Revolutionspädagoge

In seinem neuen Buch zum 85sten erklärt der „rote Großvater“ Jean Ziegler seinen Enkeln den Kapitalismus.

Als Großvater oder Grandpapa möchte der intellektuell und emotional jung gebliebene Jean Ziegler nicht gern angesprochen werden. Seine Enkel nennen ihn daher liebevoll Jean. Nun hat der von Jean-Jacques Rousseaus politischem und revolutionspädagogischem Geist inspirierte Genfer Bürger Jean Ziegler allen Enkeln der Welt, und damit auch sich selbst und seinen erwachsenen Leserinnen und Lesern, zu seinem 85. Geburtstag ein großartiges Geschenk überreicht. Ein lesenswertes Buch — was denn sonst? Aber ein besonderes.

Nicht hassen, verstehen!

Nein, er verfasste keine neuen 95 Thesen, keinen neuen Gesellschaftsvertrag, keine neue Streitschrift, kein neues kommunistisches Manifest. Auch keinen marxistischen Katechismus für Glaubensbrüder und -schwestern, sondern — ganz im Geist der Aufklärungsliteratur bürgerlicher Revolutionäre des 18. und frühen 19. Jahrhunderts — von alledem etwas. Einfach ein kleines Frage-und-Antwort-Büchlein. Denn Ziegler beantwortet Fragen der Enkel-Generation, denen die meisten der heutigen Großväter und Großmütter, die einst revoltierende „68er“ waren, lieber ausweichen, die sie aber sicher völlig anders als Ziegler beantworten würden.

Diese Alt-Linken sind inzwischen zu jenem Establishment geworden, das sie in ihren Sturm- und Drang-Jahren mit revolutionärem Elan herausforderten. Sie haben, jedenfalls glauben sie es, die Fragen, die Ziegler nun ihren Enkeln beantwortet, bis zur Erschöpfung ausdiskutiert. Und sie sind in ihrer großen Mehrheit zu dem Ergebnis gekommen, man müsse diesen Kapitalismus gar nicht abschaffen, man brauchte ihn nur richtig — nämlich sozialökologisch — zu reformieren.

Denn die Welt ist in der Zeit, die seit der 68er Revolte verstrichen ist, obgleich sich für viele kaum etwas verändert hat, eine völlig andere geworden. Das kommunistische Weltsystem brach zusammen. Russland und China beendeten ihre antikapitalistischen Erziehungsdiktaturen und haben sich entschlossen, wenn auch keine „lupenreinen“, so doch kapitalistische Demokratien zu werden. Staaten, die schon lange Demokratien sind, waren ja auch noch nie lupenreine Demokratien und sind schon lange dabei, die vormals so hoch gehaltenen Freiheiten der Menschen zugunsten der Freiheit des Kapitals wieder einzuschränken.

Die im Kalten Krieg entstandene bipolare Denkstruktur mit ihren klaren Feindbildern — hier Freiheit, dort Sozialismus, hier Sozialismus, dort Imperialismus — verlor in den vergangenen 30 Jahren ihre nach 1945 durch den Kalten Krieg entstandene große Bedeutung und Bindekraft. Der durch die Bildung der Europäischen Union überwunden geglaubte Nationalismus und auch der immer mit nationalistischen Ideologien verbundene Rassismus kehren seit dem Fall der Mauer — scheinbar unaufhaltsam — wieder zurück.

Die Europäische Union, die einzige Antwort auf die Größe und Überlegenheit der Nationalstaaten USA, Russland und China — die nicht nur über Märkte von kontinentalen Ausmaßen, sondern auch über eine lange gemeinsame Geschichte verfügen —, droht wieder hinter ihre kurze gemeinsame Geschichte, die des Kalten Krieges, zurückzufallen und zu zerbrechen. Der Ausstieg Englands aus dem als antikommunistisches Bollwerk entstandenen westlichen Bündnissystem ist eines der Zeichen an der Wand, dass die Weltordnung des Kalten Krieges vor dem Aus steht.

Die Vereinigten Staaten von Europa für eine fortschrittliche Sozialordnung

Als wirtschaftlich konkurrierende Einzelstaaten würden allerdings alle Mitglieder der Europäischen Union verlieren, das heißt, sich in ökonomische, politische und militärische Abhängigkeiten jener großen außereuropäischen Staaten begeben müssen, die jetzt schon maßgeblich die Neuordnung der Welt nach ihren postkommunistischen Wertvorstellungen betreiben. Das würde einer Verwirklichung der großartigen Idee, in nicht allzu fernen Zeiten als Vereinigte Staaten von Europa eine von der Vormundschaft der Konzerne befreite Sozialordnung von kontinentaler Größe zu schaffen und damit einen wirklichen Friedensfaktor für die übrige Welt, endgültig den Weg verstellen.

Wenn Jean Ziegler der heutigen Enkelgeneration erklärt, was so schlimm am Kapitalismus ist, spricht er zu Menschen, die, um sich zu informieren und zu kommunizieren, so selbstverständlich Smartphones, Google, Facebook und Twitter benutzen und in Jetztzeit mit Informationsquellen und Menschen sogar anderer Kontinente in Verbindung stehen. Sie tun dies so selbstverständlich, wie einst ihre Großeltern Gespräche mit Nachbarn führten, die Tageszeitung lasen, Radio hörten und im Volkslexikon nachschlugen, wenn sie wissen wollten, was man unter Demokratie versteht.

Diese brachen damals soziale Beziehungen ab oder pflegten sie, indem sie sich Postkarten und Briefe schrieben, vielleicht auch mal ein Telefongespräch führten, falls in der Nähe der Wohnung eine funktionstüchtige Telefonzelle stand. Und viel mehr Menschen als heute kannten ihre Arbeitgeber noch persönlich, und wenn nicht, dann wenigstens dem Namen nach. Diese Zeiten sind vorüber. Heute arbeitet man für anonyme Kapitalgesellschaften, für unbekannte Finanzoligarchen, für Banken und Schattenbanken, Medien- und Beraterkonzerne sowie Werbeagenturen.

Die jungen Leute von heute könnten sich vieles von dem, was ihnen Ziegler in diesem Büchlein über den Kapitalismus erklärt, mühelos aus dem WorldWideWeb abrufen. Aber sie tun es nicht. Und würden sie es versuchen, fänden sie doch kein derart kurzgefasstes, aber dennoch äußerst lehrreiches und sozialkritisches Kompendium zur Menschheitsgeschichte, zur sozialen Evolution der Gattung Mensch mit ihren Erfindungen, Reformen und Revolutionen. Nur aus Zieglers universalistischer Perspektive lässt sich begreifen, was den Menschen Jean Ziegler bewegt, ein solch informatives und zugleich höchst provokatives Buch zu schreiben.

Eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus

Es lässt sich wohl kaum ein Text im Internet finden, der den Gang der Weltgeschichte und die Weltereignisse, die wie Meilensteine aus dem scheinbar Immergleichen herausragen, derart verdichtet und im Zeitraffer Revue passieren lässt, wie es Ziegler in diesem Buch gelingt. Es ist allerdings ganz unter dem zentralen Aspekt verfasst, wie der Kapitalismus in die Welt kam und warum er unbedingt wieder aus der Welt geschafft werden muss.

Da es aber — zitiert Ziegler den Philosophen Jean-Claude Michéa — für viele Leute heute einfacher ist, „sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“, die demnach die Abschaffung des Kapitalismus zwar für wünschenswert, aber praktisch für unmöglich halten, liefert Ziegler reichlich Beispiele. Sie zeigen, dass auch alle früheren Ausbeutungssysteme untergegangen oder zumindest im Stadium ihrer Kriminalisierung angekommen sind, dass also auch die jetzt bestehende kannibalische Weltordnung besiegbar sein müsse.

Ja, die Sklaverei gibt es noch. Ebenso Leibeigenschaft und Hörigkeit. Aber keine noch so deformierte Demokratie der Welt, auch nicht die der USA, in denen sich sicher noch viele Weiße finden lassen, die die von Abraham Lincoln abgeschaffte Sklaverei am liebsten morgen wieder einführen würden, könnte es sich heute leisten, dies auch zu tun.

Schon längst verpönt sind auch die im Feudalismus üblich gewesene Leibeigenschaft und Hörigkeit.

In den so genannten Gottesstaaten waren diese Ausbeutungsformen gottgewollt. In modifizierten Formen gibt es sie immer noch. Es handelt sich aus unserer Sicht um archaische Verhältnisse, die, wie man bei genauerem Hinsehen an den Entwicklungen der arabischen Welt studieren kann, im Stadium ihrer Auflösung begriffen sind. Die Monarchen dort erleben jetzt, was die Herrscher Europas vor mehreren Jahrhunderten mit aller Gewalt, aber am Ende vergeblich zu verhindern suchten. Man kann täglich beobachten, wie sie sich derzeit fast alle im Modus der gewaltsamen, durch offene Unterdrückung und Terror gekennzeichneten Verteidigung ihrer durch tief verwurzelten Volksglauben gefestigten Privilegien befinden.

Ziegler zeigt, dass es viele Jahrhunderte dauerte, bis die antiken Sklavenhaltergesellschaften überwunden waren. Und dass es rund ein Jahrtausend dauerte, bis die Entwicklung der für die Ablösung von Feudalsystemen zentralen Arbeitsproduktivität durch Wissenschaft und Technik groß genug und der bürgerliche Dritte Stand innerhalb der europäischen Ordnungen so selbstbewusst geworden war, dass er als bürgerliche Klasse die europäischen Feudalaristokraten und den von ihnen — besonders seit der Entdeckung des amerikanischen Kontinents — betriebenen Kolonialismus abzulösen und durch den Freihandels-Imperialismus zu ersetzen imstande war. Dies allerdings mit Legitimationstheorien, mit Argumenten, humanitären Versprechen und in Verfassungen, also Gesellschaftsverträgen, verbrieften Rechten, die bis heute nicht eingelöst wurden und täglich erneut von professionellen Kapitalverwertern verraten und verkauft werden.

Ein System von Gottes Gnaden — oder im Namen des Volkes

Die Überwindung ausbeuterischer Systeme verlief — das spricht Ziegler unumwunden aus — niemals friedlich. Und so wird auch künftig Gewalt eine Rolle spielen. Aber nicht etwa, weil die niederen, von Hunger, Elend, Krankheit und Missachtung ihrer Menschenwürde gepeinigten, aus den menschenwürdigen Lebenszusammenhängen ausgeschlossenen Kasten, Stände, Klassen oder Einzeltäter gewalttätiger als die vornehmen klerikalen, aristokratischen und über alle Machtmittel verfügenden Obrigkeiten wären.

Nein, weil die oberen Stände, die Herrschenden, wer immer sie in der langen Geschichte der Menschheit waren oder heute sind, ausnahmslos die mit ihrer gepredigten Moral und ihren Gesetzen unvereinbar gewordenen Privilegien gewaltsam verteidigen. Und besonders dann, wenn ihr mit Unschuldsmine als normal und legal dargestelltes System von Lug und Trug durchschaut und begriffen wird, dass noch die furchtbarsten Verbrechen im Namen der Götter, im Namen Gottes oder sogar — wie heute — des Volkes begangen werden.

Ziegler erklärt, wie das Bildungs- und Besitzbürgertum, das seit den Kreuzzügen und dem Kolonialismus wirtschaftlich erstarkte, seine gegen die Gottesstaaten gerichtete Aufklärung vorantrieb, schließlich die Herrschaften von Gottes Gnaden ablöste und heute im Namen des Volkes über die Völker der Welt seine Herrschaft ausübt. So vermittelt er den Beherrschten und immer wieder Besiegten für ihre Emanzipation und ihren irgendwann doch noch möglichen Sieg das unbedingt notwendige Herrschaftswissen. Das ist eine ganz besondere Art von Whistleblowing.

Schade nur, dass Ziegler, der über einen sehr reichen Zitatenschatz verfügt, nicht auch das Marx-Engels-Zitat aus der Frühschrift „Deutsche Ideologie“ den Enkeln übermittelte: „Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, das heißt ideell ausgedrückt; ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen.“

Neoliberalismus als Legitimationstheorie der neuen Herrscher der Welt

Das meint Ziegler, wenn er sagt, die freiheitlich-demokratisch-neoliberale Grundordnung sei die Legitimationstheorie der neuen Herrscher der Welt. Die angeblich für die Menschheit gemachten bürgerlichen Revolutionen befreiten in Wirklichkeit nur die Reichen und die Superreichen von der Vormundschaft der Feudalherren. Die befreiten Leibeigenen wurden in vogelfreie Proletarier verwandelt. Unmittelbar nach ihrer Machtergreifung errichtete die Bourgeoisie ihre bis heute als Liberalismus bezeichnete offene Diktatur über die Massen derer, die nichts zu verkaufen hatten als ihre Arbeitskraft.

Dass es langer, oft blutiger, eher spontaner Kämpfe und blindwütiger Maschinenstürmerei bedurfte, bis sich die Arbeiterklasse überhaupt erst einmal als soziale Klasse begriff und ihre Feinde als solche erkannte, sich organisierte und zielgerichtet demonstrierte, muss man wissen.

Auch dass diese damals neue Klasse es war, die der herrschenden Bourgeoisie scheibchenweise das freie, gleiche und geheime Wahlrecht, viele Arbeitsschutz- und Sozialgesetze, Streik- und Versammlungsrecht et cetera abtrotzte. Das wird zwar in Zieglers Antworten deutlich und uneingeschränkt anerkannt, aber er hätte es — ohne zu langweilen — ruhig etwas ausführlicher darstellen dürfen.

Das Ganze wäre sachgerechter gewichtet gewesen, wenn Ziegler der Enkelgeneration mehr über die Geschichte der Arbeiterbewegung erzählt hätte. Marx selbst kommt nicht zu kurz. Aber es ist nun einmal in erster Linie den organisierten Kämpfen der Arbeiterbewegung zu verdanken, dass Menschen, die heute eine — wenn auch gefährdete — doch relativ große soziale Sicherheit und Freiheit genießen und Rechte haben, ihre Errungenschaften mit legalen Mitteln zu verteidigen.

Sie haben nicht nur ein Widerstandsrecht, sie haben, wenn man die unantastbaren Artikel 1 und 20 der Deutschen Verfassung zugrunde legt, sogar eine Widerstandspflicht. Die Deutschen haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass man mittels demokratischer Wahlen eine Demokratie auch abwählen und durch ein prokapitalistisches Mörderregime ersetzen kann. Das sollte für immer verhindert werden.

Aufbau des Sozialstaats aus Angst vor Kommunismus

Den von der Arbeiterbewegung errungenen Siegen ist es ganz wesentlich zu verdanken, dass sich in vielen Teilen Europas und der übrigen Welt der „liberale“ Kapitalismus, der schon mörderisch genug war, in das verwandelte, was die Feinde des Sozialismus — nachdem ihr Plan gescheitert war, ihn unter dem demagogischen Namen „Nationalsozialismus“ total auszurotten — als „soziale Marktwirtschaft“ angeboten haben. Ziegler kennt dies alles, erwähnt sogar als eine der Ursachen für den Aufbau des Sozialstaats die Angst vor Gewerkschaften und Kommunismus.

Er betont aber viel stärker ganz andere Faktoren, was ich mir mit seiner Schweizer Sozialisation und außergewöhnlichen Lebenserfahrung erkläre. Er praktiziert für das Zeitalter des kleinteiligen wissenschaftlichen Spezialistentums ein geradezu altertümlich anmutendes universalistisches und ganzheitliches Denken. Es befähigt ihn, solche Prozesse wie den der Globalisierung in Dimensionen und Zusammenhängen zu denken, die man weder bei globalisierungsfeindlichen Nationalkapitalisten noch bei den sich hinter dem relativ harmlos klingenden Globalisierungsbegriff versteckenden Imperialisten findet.

Dass die europäische Arbeiterbewegung dem liberalen Manchesterkapitalismus — den schon Marx des „herodischen Kindermords“ beschuldigte —, einem sozialstaatlich regulierten Kapitalismus weichen musste, wird von Ziegler ausdrücklich gewürdigt. Aber es ist nicht sein Ansatzpunkt. Er hat vor allem die neuen, nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung sich rapide verändernden, derzeit eher multipolaren Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse vor Augen. Jedenfalls versucht er, vom historisch weit zurückliegenden Standpunkt des radikaldemokratischen, ansatzweise kommunistischen Flügels der bürgerlichen Revolutionen ausgehend, einen neuen Kommunismus zu begründen. Einen, den es lediglich kurze Zeit in der Pariser Kommune gab und den auch Karl Marx als solchen anerkannte.

Ziegler bestreitet, dass der Leninismus, der in Russland in den Stalinismus, und der Stalinismus, der in China in den Maoismus mündete, die aus seiner Sicht beide scheitern mussten, jemals etwas mit dem Kommunismus von Marx und Engels zu tun hatten. Sie hätten zwar vieles bewegt und bewirkt, aber nicht den Kapitalismus überwunden.

Niemand, nicht einmal der Kommunist, der die UdSSR und das maoistische China nach wie vor rechtfertigt, könnte das bestreiten. Ich bin kein Kommunist, sondern nur ein entschiedener Gegner des Antikommunismus, aber diesem Verdikt Zieglers muss ich mich verweigern.

Es ignoriert die ungezählten Millionen von Menschen, die begeistert und unter größten Opfern die nachholende Entwicklung dieser rückständigen Länder und die Verteidigung dieser Leistungen gegen ihre imperialistische Feinde als bewusste Kommunisten vorangetrieben und mitgetragen haben. Nicht Stalin, sondern sie haben die Alphabetisierung und Elektrifizierung ihres Riesenlandes verwirklicht. Nicht Stalin, aber Millionen seiner Landsleute sind bei der Verteidigung ihrer UdSSR gegen die einfallenden Faschisten in den Krieg gezogen, sind gefangen genommen oder zu Krüppeln geschossen oder erschossen worden.

Sie haben mit ihren Leistungen nicht — wie der westliche Kapitalismus — unter feudalistischen Rahmenbedingungen die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals vollzogen, sondern sie unter kommunistischem Vorzeichen für ihre abgehängten Kulturnationen unter extrem erschwerten Bedingungen nachgeholt. Dies geschah auch gewaltsam und — gemessen an den schon weit fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten — auch unter Missachtung systematischer, als bürgerlich verächtlich gemachter, aber dort schon anerkannter Rechtstaatlichkeit. Die Kommunisten Russlands und Chinas haben es unter schwersten Bedingungen, nämlich unter gleichzeitiger Verhinderung ihrer Kolonisierung und imperialistischen Unterwerfung unter die kapitalistischen Demokratien, geschafft, dem Imperialismus der westlichen Kapital-Gesellschaften zu widerstehen und ihren eigenen kapitalistischen Entwicklungsweg zu gehen.

Ich will Eure Schätze nicht antasten

Aber Ziegler deutet und erklärt den Enkeln die weltgeschichtliche Entwicklung seit den bürgerlichen Revolutionen etwas anders. Er zelebriert die geistig-moralischen Errungenschaften der bürgerlichen Aufklärung, die Erklärungen der Bürger- und Menschenrechte. Er filtert deren universell gültigen, aber im praktischen Kampf zuerst gegen die reaktionären Feudalmächte, dann gegen die antikapitalistische Arbeiterbewegung durch systematische Verfälschung und Verrat beschädigten höchsten Werte heraus.

Und er versucht, diesen Werten gegen die übermächtig gewordene kannibalische globale Faktizität die weltumspannende Geltung zu verschaffen, die schon in den bürgerlichen Revolutionen angelegt war. Sie ging aber — so Zieglers Deutung — durch Verrat der eigenen Ideale verloren. Der Verräter war — erklärt er — Robespierre, „die Lichtgestalt der ‚Demokraten‘, die für die Abschaffung der Sklaverei, der Todesstrafe, für das allgemeine Wahlrecht und gleiche Rechte für alle eintraten“. Dieser war es, der am 24. April 1793 vor der Nationalversammlung erklärte, die Gütergleichheit sei eine Chimäre, und der sich wenige Tage später an „die Neureichen, die gerissenen Profiteure, die sich das Elend des Volkes zunutze machten“, wandte und mit Blick auf die äußeren Feinde der Revolution versprach: „Ich will Eure Schätze nicht antasten.“

Hier also — im kapitalistischen Eigentumsrecht — liegt die Wurzel der mit den bürgerlichen Revolutionen entstehenden Klassengesellschaften, der Ursprung aller sozialen Übel und Ungerechtigkeiten. Damit auch der alsbald heraufziehenden Gefahr des Sozialismus und Kommunismus der Arbeiterbewegung. Mit Marx und Engels erreichte dieser Sozialismus das wissenschaftliche Niveau, ohne das im wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhundert die Arbeiterbewegung nicht ernst genommen worden wäre.

Aber Ziegler ist weit davon entfernt, Marx zum Säulenheiligen zu machen. Er besteht darauf, obgleich man das auch anders sehen kann, dass Marxens Verelendungstheorie falsch gewesen sei. Und dies, obwohl doch er selbst wie kein zweiter Marxist dieser Welt das von Gegnern des Marxismus gern gebrauchte Argument widerlegt hat. Oder kennt irgendjemand einen Kapitalismuskritiker, der das gegenwärtige Elend in weiten Teilen der Welt so umfassend studiert, analysiert und seine Ergebnisse in so vielen Büchern mit ungewöhnlich hohen Auflagen, dazu in sehr vielen Sprachen und öffentlichen Vorträgen publik gemacht hätte?

Verelendung — heute ein unbekanntes Phänomen?

Aber wer diese Tatsache so auffasst, als ob Ziegler sich hier selbst widerlegt hätte, missversteht seine Sicht auf die Welt unserer Gegenwart und seine Absicht, sie uns zu erklären. Denn er geht davon aus, dass Marx die Verelendungstheorie nur mit Blick auf die kapitalistischen Industriestaaten entwickelt habe. Hier aber habe sich die Arbeiterklasse unbestreitbar einen relativ hohen Wohlstand erkämpfen können, der ja auch von dieser Klasse selbst als Widerlegung dieser Theorie von Marx gedeutet wurde.

Dennoch kann Ziegler den Enkeln sagen, dass Marx in allen anderen Punkten recht hatte — so mit Blick auf die Bildung der Oligarchien, der Kapitalkonzentration, auf die weltweite Ausdehnung ihrer Macht und Märkte sowie die Ausgrenzung und Verelendung vieler Millionen Menschen in der Dritten Welt.

Von dieser Argumentationsebene aus und auf die Erklärung der Menschenrechte durch die revolutionäre Bourgeoisie verweisend entwickelt Ziegler seinen eigenen revolutionären Versuch eines Neuanfangs kommunistischen Denkens und Handelns von Grund auf.

Er hofft, zumindest von der Enkelgeneration verstanden zu werden. Denn er spricht von den bewundernswerten wissenschaftlichen, technischen und sozialen Errungenschaften des Kapitalismus auch anerkennend, aber nicht, ohne — oft sehr drastisch — die unerträglichen Folgen, Nebenwirkungen, Begleiterscheinungen des neoliberalen Profitsystems zu beschreiben. Dem überquellenden Reichtum werden die ungeheuren Verbrechen gegenübergestellt, die begangen wurden und noch immer begangen werden, um Kapital und damit Macht und Herrschaft zu akkumulieren.

Überfluss und Überschuss kapitalistischer Gesellschaften und verhungernde Kinder, die Zerstörung der natürlichen Umwelt, die Vergiftung der Böden, des Grundwassers und der Meere und die Vernichtung der Wälder gehören zusammen, sind aus Zieglers von umfassendem Wissen und einzigartiger Lebenserfahrung entwickelter Weltanschauung heraus nachweislich die Kehrseite dieses Kapitalismus. Er zitiert Victor Hugo: „Aus der Hölle der Armen ist das Paradies der Reichen gemacht.“

Diese dunkle Kehrseite ist es, die so schlimm am Kapitalismus ist, dass Ziegler seiner Enkelin sagen kann: „Die kannibalische Weltordnung, die er geschaffen hat, muss radikal zerstört werden, aber die wunderbaren Errungenschaften der Wissenschaft und Technik wollen wir nicht nur erhalten, sondern noch potenzieren.“ Die Enkel lernen: Das zentrale Problem sind nicht Wissenschaft und Technik, sondern die derzeitige — auf die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse gestützte und von den sie repräsentierenden Parteien, Politikern, Parlamentariern, Bürokratien, Wissenschaftlern und Medien geschützte — Verfügungsgewalt über sie.

Diese private Verfügungsgewalt über Wissen, Informations- und weltumspannende Kommunikationstechnologie, hat es — enorm potenziert durch die Digitalisierung — möglich gemacht, dass der globale Finanzkapitalismus inzwischen auch noch den letzten mittelständischen Hinterwäldler bedroht. Durch das Ende der kommunistischen Gefahr ist ihm jedoch die Möglichkeit genommen, diese Sozial- und Umweltschädlichkeit des Neoliberalismus zu ignorieren oder gar als notwendiges Übel zu akzeptieren.

Ende der kommunistischen Bedrohung

Erst mit dem objektiven Ende der „kommunistischen Bedrohung aus dem Osten“ und dem beeindruckenden Auftreten der nun ebenfalls dem Freihandel huldigenden Russen und Chinesen auf den Weltmärkten glaubten die Verantwortlichen in den kapitalistischen Demokratien, dass es jetzt möglich, ja notwendig und alternativlos sei, dem privaten Konzernkapital ungeahnte Freiheiten zuzugestehen. Aus Zieglers und der Sicht vieler anderer entstand so ein Kapitalismus, der nicht mehr reformierbar ist. Tatsächlich wird inzwischen der einst mit Verbesserung ihrer sozialen Lage assoziierte Begriff Reform von den meisten Menschen, wenn ihnen die etablierten „Volksparteien“ Reformen versprechen, nur noch als Sparpolitik und Gefährdung ihrer Existenz verstanden.

Ziegler erklärt in seinem Buch dem Nachwuchs das Scheitern aller bisherigen Versuche, dieses System, das er für die bestehende „kannibalische Weltordnung“ verantwortlich macht, zu überwinden. Immer wieder wird er durch Zwischenfragen unterbrochen und muss erklären, woher eigentlich das Wort Kapitalismus stammt, was Oligarchen, was Offshore-Paradiese und die Paradise Papers sind, was es mit dem Problem der Überschuldung auf sich hat und wieso man in einer freien Gesellschaft von Konsumzwang sprechen kann.

Das alles sind Fragen, die nicht nur junge Menschen stellen, sondern auch große Teile der mittleren und älteren Generationen. Und immer wieder werden von ihm Beweise und Belege erbracht, die abstrakte, also eher theoretische Formulierungen an Beispielen konkretisieren. Vieles hat Ziegler selbst erlebt und kann allein deshalb damit überzeugen. Oder er zitiert Statistiken, die jederzeit auf ihre Richtigkeit überprüft werden können. Ich kenne keine erfolgreichen Versuche, ihn seriös zu widerlegen. Oft findet er klare Begriffe, die komplizierte Sachverhalte gut begreiflich machen.

Wo bleibt der Aufstand, die Empörung?

Wer sich an Zieglers 2002 erschienenes, ebenfalls sehr eindrucksvolles und viel diskutiertes Buch erinnert, in dem er seinem Sohn Dominique in revolutionspädagogischer Absicht klarmachte, wie der Hunger in die Welt kommt, ahnt vielleicht, dass diese als Generationendialog verkleidete Aufklärungsschrift auch der unbarmherzigen Logik des Älterwerdens geschuldet ist. Genau wie heute stand damals Zieglers zentrale Frage im Raum: Angesichts der gegen die Gehirnwäsche der Massenmedien und die gekauften Wissenschaften bekannt gewordenen Ungeheuerlichkeiten, die allein der Hunger in der Welt täglich anrichtet und für den das System des Kapitalismus — neben all seinen bewundernswerten Leistungen — verantwortlich ist, wo bleibt der Aufstand des Gewissens der Bevölkerungen, der Intellektuellen, der Sozialwissenschaftler? Wo bleibt die überfällige Revolution?

Jetzt erklärt Ziegler seinen Enkeln — der älteste ist 16 —, dass er vor allem eine Fähigkeit des Kapitalismus so gefährlich findet: das Heranwachsen zu einer richtigen „Weltregierung ohne Staat“.

Der australische Milliardär und Weltbankpräsident James Wolfensohn hat diesen Begriff immer wieder in seinen Vorträgen auf Weltbankseminaren, an denen Ziegler als Sonderberichterstatter der UNO teilgenommen hat, wiederholt: „Stateless global Governance“. Ziegler übersetzt uns diesen von Wolfensohn als optimal angesteuerten Zustand: „Vertrauen wir auf die Selbstregulierung des von allen Einschränkungen befreiten Weltmarkts.“

Dieser neoliberale Weltkapitalismus hat nach Zieglers fester Überzeugung keine Zukunft. Daher kann er seinen Enkeln und deren Generation nur den eindringlichen Rat geben: Schafft dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und die „kannibalische Weltordnung“, die es im Lauf der Geschichte hervorgebracht hat, ab, bevor es euch abschafft! Das System lässt sich nicht mehr schrittweise und friedlich reformieren. Auf die Rückfrage: Wie denn sonst? antwortet er radikal und bündig: „Wir müssen den Oligarchen die Arme brechen, ihre Macht zerschlagen“.

Hier spätestens schrillen vermutlich beim „Normalbürger“ die Alarmanlagen. Sie werden sagen: Das ist doch ein strafbarer Aufruf zur Gewalt. Ich kann sie trösten: Nein, ist es nicht! Ziegler fordert nicht zur Gewalt auf, er würde einen friedlichen Übergang bevorzugen. Die Gewalt kommt von oben. Daher ermutigt er nur zum Widerstand, zur Gegengewalt. Das ist moralisch wie juristisch ein gravierender Unterschied, den vielleicht, trotz der dichten, von Konzernideologen verbreiteten Nebelschwaden die meisten noch erkennen werden.

Ziegler macht in diesem Zusammenhang seinen Leserinnen und Lesern klar: Schon die Verfassungsväter der USA, obgleich noch Sklavenhalter, waren sich einig darüber, dass, sobald eine Regierung den hehren Zielen der Menschenrechtserklärung, darunter „Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit“ verderblich wird, „es das Recht des Volkes ist, sie zu stürzen und eine neue Regierung einzusetzen…“. Das geschieht normalerweise friedlich, nämlich durch freie Wahlen. Aber was, wenn Wahlen manipuliert werden? Was, wenn reaktionäre Milliardäre bestimmte Kandidaten unterstützen oder selbst kandidieren? Was, wenn Kandidaten, die nur etwas mehr soziale Gerechtigkeit fordern, einfach ermordet werden?

Das Gras wächst …

Die Enkelin Zohra steht in diesem, übrigens nur 126 Seiten starken und in neun überschriftslose Kapitel gegliederten Bändchen für die Enkel der ganzen Welt. Sie entdeckt — wie die Leserinnen und Leser — in Zieglers Argumentation einen eklatanten Widerspruch: „Aber Jean, während all unserer Gespräche hast Du von der Allmacht der Herren des kapitalistischen Systems gesprochen. Wie kann es da den Schwächsten gelingen, den Stärksten die Arme zu brechen?“ Jeder, der auf mehr Demokratie setzt, fragt sich das.

Aber einen Jean Ziegler kann man mit solchen Einwänden nicht in Verlegenheit bringen. Er kennt sie, hört sie immer und immer wieder. Deshalb zitiert er bei solch heiklen Fragen meist einen der großen Dichter oder Denker. Denn natürlich ist fast alles schon einmal angedacht worden. In diesem Fall lässt er Karl Marx zu Wort kommen, der einmal an seinen Freund Joseph Weidemeyer schrieb: „Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören.“ Der welterfahrene Jean fügt, an die Enkelin adressiert, hinzu: „Ich garantiere dir, gegenwärtig wächst das Gras.“

Ziegler selbst ist es, der das Gras wachsen hört. Als er das in französischer Sprache und 2018 in Frankreich veröffentlichte Büchlein schrieb, ahnte niemand etwas vom kurz bevorstehenden Aufstand jener Massen, die als Bewegung der „Gelbwesten“ dem Vermögens- und Bildungsaristokraten Emmanuel Macron und seiner Bewegung en Marche das Fürchten lehren würde.

Niemand hatte bis dahin etwas von dem fast schüchtern wirkenden Mädchen namens Greta Thunberg gehört; sie fiel als Enkelin der Ziegler-Generation quasi im richtigen Augenblick des Erscheinens der ersten deutschen Auflage seines neuen Buch vom Himmel. Doch Ziegler hatte seiner Enkelin schon garantiert, dass das Gras der Rebellion längst wächst. Und was geschieht? Während Ziegler europaweit sein Büchlein vorstellt und Interviews dazu gibt, erheben sich die Gelbwesten, Greta tritt auf, es kommt zu Massendemonstrationen, als ob Ziegler selbst sie bestellt hätte.

Kann man das rational erklären? Selbstverständlich. Denn in Zieglers Bewusstsein hat die Revolution, für die er in seinen Büchern und Vorträgen kämpft, schon lange staatgefunden. Seit seinen Erlebnissen als kleiner UNO-Beamter im Kongo in der Zeit kurz nach Patrick Lumumbas Ermordung und seinen Begegnungen mit Che Guevara in Kuba und in Genf rebellieren seine Vernunft und sein Glaube gegen die stummen Zwänge der von den Freiheitsaposteln des Kapitals über die breiten Massen verhängten Denkverbote.

Ziegler denkt gegen den Strich, er kämpft gegen die auf den Kopf gestellte „Normalität“, die mittlerweile durch einen langen Prozess der Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit und seinen Mitmenschen erreicht wurde. Oft denkt er sogar gegen seine eigenen Gedanken. Man nennt das bekanntlich Selbstkritik.

Nicht gerade wenige meinen, er habe sich „verrannt“. Er entgegnet lächelnd, dass sei ihm schon öfter gesagt worden. Ja, er schieße immer mal wieder über das Ziel hinaus, aber selten daneben. Ziegler kennt seine wirtschaftsliberalen Pappenheimer. Sie sind inzwischen erfahren genug, ihren Gegnern größtmögliche Narrenfreiheit zu gewähren. So lange es irgend geht, vermeiden sie es, Denkverbote direkt zu verordnen. Sie wissen längst, das indirekte besser wirken: Schon allein faktische Berufsverbote sind viel effektiver. Und wer wüsste im Zeitalter des professionellen Karriere-Coachings nicht, was man bei einer Bewerbung oder im Beruf — natürlich wider besseres Wissen — alles verschweigen muss, um nicht abgelehnt zu werden. Kennen nicht längst alle die abschreckenden Schicksale derer, die seit einigen Jahren Whistleblower genannt werden?

Früher Whistleblower

Man könnte Ziegler als einen Whistleblower bezeichnen. Aber als er 1976 sein Buch „Eine Schweiz — über jeden Verdacht erhaben“, veröffentlichte, hatte man noch keinen Begriff für die „Verräter“ sozialschädlicher und gesetzwidriger Praktiken von Managern, Unternehmern, Unternehmen oder staatlichen Institutionen. Ziegler wurde verurteilt. Wer sich mit den Urteilen befasst, wird sich noch heute fragen: Wie hat dieser Mann es überlebt? Kann man die Schweiz noch als Rechtsstaat anerkennen? Müsste dieses Urteil nicht revidiert, müsste Ziegler nicht eine riesige Entschädigung zugesprochen werden? Er verzichtet. Denn die Entwicklung hat ihm Recht gegeben. Er ist dankbar für die Möglichkeiten, die ihm — trotz Anfeindungen — eröffnet wurden. Er konnte einen wissenschaftlichen und politischen Weg beschreiten, der ihn bescheiden bleiben ließ und vollauf entschädigte.

Er hat einfach nicht klein beigegeben und ist sich treu geblieben. Aber er ist auch radikaler geworden. Denn je tiefer er Einblicke in die Machtstrukturen gewann, desto sicherer wurde er, dass dieser Kapitalismus der Menschheit, also auch der herrschenden Klasse selbst, eine Katastrophe von apokalyptischen Ausmaßen bescheren wird, die allenfalls noch durch eine Revolution verhindert werden kann. Ziegler gesteht die vielen Niederlagen der Linken ein, dennoch glaubt er fest daran, dass es noch Gründe genug gibt, auf den Umsturz zu hoffen.

In einem Interview, das er vor einiger Zeit dem Altlinken Arno Widmann für die Frankfurter Rundschau gab, fragt ihn der Journalist: „Woher kommt Ihre Hoffnung?“ Zieglers Antwort mag ihn überrascht haben. Er gab eine ähnliche auch seiner Enkelin: „Die Revolution ist nicht einfach eine Forderung, die wir herantragen an die Welt. Sie steckt in der Welt. Sie ist ihr, wie Sartre sagt, inkarniert. Wie und wann sie sich Bahn bricht, weiß man nicht. Aber sie kommt. Es bedarf nur einer Anklage gegen einen mächtigen Halunken aus der Filmbranche in Hollywood und schon sind Tausende von Frauen, die irgendwann Opfer sexueller Angriffe wurden, auf den Barrikaden.“

Erfahrungen und Fakten

Das sind Erfahrungssätze, die keiner mittels Fakten-Check überprüfen muss. Sie gehören zu den täglichen Nachrichten. Dazu braucht es auch keine Forschungen und Erklärungen. Das Bemerkenswerte: Solchen Sätzen haben weder die rationalistischen Empiriker des kapitalhörigen freiheitlich-demokratischen Wissenschaftsbetriebs, die von sich wirklich glauben, sie würden wertfreie Wissenschaft betreiben, noch die auf das marxistische revolutionäre Subjekt „Arbeiterklasse“ fixierten Altrevolutionäre bislang etwas Überzeugendes entgegenzusetzen.

Wenn Ziegler dagegen offiziell anerkanntes wissenschaftliches Datenmaterial und seine eigenen Erfahrungen über den Hunger, die Not, das Elend in der Welt, über die Zerstörung intakter Lebenswelten und der Natur durch das Profitsystem, die Spekulation mit Nahrungsmitteln, das Landgrabbing und den Raubbau an Mensch und Natur anprangert, wissen auch diejenigen, die seinen antikapitalistischen Rigorismus ablehnen, dass er im Grunde Recht hat. Diese Welt ist nicht, wie ihre Werbung verspricht, die beste aller möglichen Welten, sondern eine nicht von Gott gewollte kannibalische Weltordnung herrscht über sie. Was die Zieglers Theorieansätze Totschweigenden und die von ihm zum Verstummen Gebrachten von ihm unterscheidet, ist ihre Haltung. Sie lässt sich mit dem berühmten Ausspruch der untergehenden Feudalherrschaften zusammenfassen: Nach uns die Sintflut!

Sie können alle Blumen abschneiden …

Sind diese Zyniker die wahren Aufklärer und Propheten unserer Zeit? Oder vielleicht doch Ziegler? Das muss jeder selbst entscheiden. Man sollte dazu nicht nur dieses unglaublich anregende Frage- und Antwortbüchlein seinen Kindern und Enkeln schenken, sondern es auch selber lesen. Auch wir, die wir an irgendeiner Front gegen Unrecht und Ungerechtigkeiten kämpfen, in irgendeiner Demonstration gegen Mietwucher, Wohnungsnot, Bodenspekulation, Unterentwicklung, Ausländerhass, Antisemitismus und Wirtschaftsverbrechen protestieren, sind aus Zieglers welthistorischer Perspektive beteiligt an der Entstehung eines neuen revolutionären Subjekts: der weltweiten Zivilgesellschaft. „Sie vereinigt Millionen Männer und Frauen, die denkbar verschiedenen Völkern, Kulturen, sozialen Klassen und Altersgruppen angehören.“

Sie gehorchen keinem Zentralkomitee, folgen keiner Parteilinie. Sie sind Zieglers große Hoffnung — und nicht nur seine. Niemand wird ausgeschlossen, niemand ausgegrenzt. „Zusammen (…) bilden sie eine geheimnisvolle Bruderschaft der Nacht, die täglich an Macht gewinnt und gegen die kapitalistische Barbarei kämpft. Bereits heute sind viele Menschen erwacht.“ Das Buch gibt den Enkeln — trotz drohender Klimakatastrophe — als letzte Antwort den schönen Gedanken Pablo Nerudas über die Herrschenden auf den Weg: „Sie können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling beherrschen.“

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