Ohne den Druck, unter dem westliche Gesellschaften schon lange vor Corona gestanden haben, lässt sich die Willfährigkeit, mit der die restriktiven Maßnahmen geradezu als erlösend angekommen wurden, kaum verstehen. Mattias Desmet, Psychotherapeut und Professor für klinische Psychologie an der Universität Gent, betrachtet die Coronakrise daher eher aus einer symptomatischen Perspektive. Desmet hält die westliche Gesellschaft für derart gestresst, dass Corona nicht die Ursache, sondern die Folge einer zutiefst entwurzelten Gesellschaft ist:
„So wird leicht übersehen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung während der ersten Abriegelung sich von Stress und Angst befreit fühlte. Ich hörte regelmäßig Leute sagen: ‚Ja, diese Maßnahmen sind hart, aber wenigstens kann ich mich ein bisschen entspannen.‘ Weil die Hektik des Alltags aufhörte, kehrte Ruhe in die Gesellschaft ein. Der Lockdown befreite die Menschen oft aus einem psychologischen Trott. Dies führte zu einer unbewussten Unterstützung der Maßnahmen. Wäre die Bevölkerung nicht bereits durch ihr Leben und insbesondere durch ihre Arbeit erschöpft gewesen, hätte es nie eine Unterstützung für die Maßnahmen gegeben. Zumindest nicht als Reaktion auf eine Pandemie, die im Vergleich zu den großen Pandemien der Vergangenheit nicht allzu schlimm ist“ (1).
Sowohl der Psychologe Prof. Mattias Desmet als auch der Medienforscher Prof. Michael Meyen beschreiben etwas, das für säkulare Gesellschaften typisch ist, nachdem tradierte Gewissheiten und Sinnangebote verloren gingen: die Überhöhung wissenschaftlicher Autoritäten“.
„In ihrem Buch *Die Ursprünge des Totalitarismus beschreibt die deutsch-amerikanische politische Denkerin Hannah Arendt auf brillante Weise, wie dieser Prozess unter anderem in Nazi-Deutschland ablief. So greifen aufstrebende totalitäre Regime typischerweise auf einen ‚wissenschaftlichen‘ Diskurs zurück. Sie zeigen eine große Vorliebe für Zahlen und Statistiken, die schnell zu reiner Propaganda verkommen, gekennzeichnet durch eine radikale ‚Missachtung der Fakten‘. Der Nationalsozialismus zum Beispiel gründete seine Ideologie auf die Überlegenheit der arischen Rasse. Eine ganze Reihe sogenannter wissenschaftlicher Daten untermauerte ihre Theorie“* (2).
Während Desmet auf Hannah Ahrendt und das Dritte Reich verweist, betont Meyen die „Illusio“ des akademischen Feldes, der auch viele Journalisten anheimfallen. Die Medienbranche geht fest davon aus, dass sich Meinung und Fakten trennen lassen, und will an „objektive Wissenschaftler“ glauben, die ohne Abhängigkeiten einer selbst motivierten Forschung nachgehen. Man muss sich nur auf die „richtige Seite“ schlagen und diese nach Kräften unterstützen, und was die richtige Seite ist, „weiß man einfach“, wie Jan Böhmermann dem armen Markus Lanz erklärt.
Doch in Wirklichkeit ist es bei Weitem nicht so einfach, denn:
„Die ‚Fakten‘, um die es in der Corona-Debatte geht und damit auch bei der Videokonferenz mit der ARD, sind von Menschen gemacht. Manche tragen einen weißen Kittel, manche einen Schlips. Das macht sie nicht automatisch besser. Hannah Arendt wusste, warum es so leicht ist, ‚Fakten‘ und ‚Ereignisse‘ zu manipulieren oder aus der Welt verschwinden zu lassen (selbst ‚Tatbestände, die allgemein bekannt sind‘) und durch ein Image zu ersetzen, das besser in die herrschende Ideologie passt und zu den Interessen der Mächtigen: ‚Fakten besitzen keinerlei zwingende Evidenz für den menschlichen Verstand, sie sind zumeist noch nicht einmal einleuchtend.‘
Oder an anderer Stelle: ‚Alles, was sich im Bereich menschlicher Angelegenheiten abspielt — jedes Ereignis, jedes Geschehnis, jedes Faktum –, könnte auch anders sein, und dieser Kontingenz sind keine Grenzen gesetzt.‘ (…) So viel Unsicherheit können wir offenbar nicht ertragen. Jede Gesellschaft, sagt Michel Foucault, hat und braucht ein ‚Wahrheitsregime‘ — Techniken, von denen wir annehmen dürfen, dass sie Wahrheit produzieren, Menschen, die befugt sind, diese Wahrheiten dann zu verkünden, und Mittel, um Abweichler zu sanktionieren. (…)
Das Problem: Die Wissenschaft, die sich nur für die Wahrheit interessiert und für sonst nichts, ist eine Schimäre. Die Idee, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die ‚uneigennützig‘ und womöglich sogar ‚unentgeltlich‘ arbeiten: Das ist die Illusio des akademischen Feldes“ (3).
Wie ich an anderer Stelle bereits ausgeführt habe, können Gesellschaften ohne ein Wahrheits- und Sinnsystem nicht existieren. Corona hat noch einmal in eindringlicher Weise verdeutlicht, dass Wissenschaft, als Religionssurrogat der Neuzeit, sämtlichen absolutistischen Deutungshoheiten ehemaliger Religionen in nichts nachsteht.
In Vom Verlust der Freiheit schrieb ich dazu:
„Natürlich braucht auch die säkulare Ersatzkultur Schamanen und Tempel, um die bösen Geister zu bezähmen. Um Armageddon 2.0 aufzuhalten, sind ganze Industrien entstanden, und Klimatologen avancierten zu den Kardinälen der neuen Religion. Doch mit dem Auftauchen des Pandemiekultes hat der Klimakult Konkurrenz bekommen. Verständlicherweise wehren sich die alten Priester gegen ihre drohende Arbeitslosigkeit. Man beeilt sich zu erklären, dass die alten und die neuen Geister gemeinsam bekämpft werden müssen, daher sollte man sich zu einer Ökumene zusammenschließen. Christian Drosten und Hans Joachim Schellnhuber werden zukünftig gemeinsam die Messe lesen“ (4).
Nicht minder andächtig als vor Hunderten von Jahren hört das Volk den neuen Hohepriestern zu und entwickelt mit Inbrunst kultische Handlungen, um das Böse abzuwehren.
Dieser Kultus ist zunächst rauschhaft stabilisierend. Neokultische Handlungen (Maskentragen, Hände desinfizieren, Impfungen …) versprechen Erfolg und sind sozial in hohem Maße gemeinschaftsfördernd. Auf Dauer entlarven sich jedoch alle Maßnahmen als inflationär, „Das Böse“ wird sogar immer mächtiger (Viren mutieren …), und der Abwehrkult fruchtet kaum noch (Impfungen wirken nicht, wie erhofft).
Nachdem die Projektion zunächst auf Angstobjekte wie Viren oder CO2-Moleküle übertragen wurde, kommt es früher oder später zur Ableitung der Frustration auf „Schuldige“, die es gewagt hatten, die Gefahr zu relativieren. Ungläubige und Leugner sind plötzlich schuld daran, dass die neokultischen Handlungen versagen. Die schönste und gesellschaftlich verbundenste Zeit war, als man im „totalen Kampf“ der großen Gefahr ins Auge sehen und in einer kollektiven Kraftanstrengung begegnen konnte.
Der oben bereits erwähnte Psychologe und Politikwissenschaftler Dr. Alexander Meschnig ist in seinem Essay „Die Corona-Impfung als Kommunion“ der Funktion neokultischer Handlungen als Religionsersatz nachgegangen. Insbesondere die Impfung erscheint Meschnig als „heilige Kommunion, die der Gläubige in Demut annimmt und die ihm die Erlösung bringen soll.“ Den Autor erinnert die Impfung an „den Empfang der geweihten Hostie, die die Erlösung von den eigenen Sünden bringt, in diesem Fall: wieder ein freies Leben ermöglicht“. Der Impfkult zeige sich unter anderem darin, dass in den sozialen Medien Selfies mit dem Pflaster der Einstichstelle voller stolz präsentiert werden:
„Eine weitere kulturgeschichtlich bedeutsame Veränderung betrifft den Geständniszwang im Zusammenhang mit der Impfung. Vor Corona hatte sich niemand für den Impfstatus des anderen interessiert, man wurde auch nicht von Geimpften belästigt, die stolz ihren Einstich zeigen. Ich hatte oben ja schon die Selfies mit Impfpflaster angesprochen. Aber das ist nur eine Vorstufe. Heute tragen besonders glückliche Geimpfte Anstecker mit der Aufschrift: ‚Pfizer. COVID 19 Vaccinated‘, die es etwa bei Online-Shops wie Etsy zu kaufen gibt — nicht gerade billig.
Der Button, gebacken in Emaille und zusätzlich mit einem Magnetverschluss gesichert, hat, im Gegensatz zum Pflaster auf dem Arm, das, obwohl sorgfältig gehütet, leicht abfallen kann, einen großen Vorteil: Er kann so lange getragen werden, wie der Einzelne das möchte, ein permanentes Bekenntnis der Zeugen Coronas, ohne Ablaufdatum. Die Werbung hat für diesen Typus — meist jung, also praktisch nicht von Covid-19 bedroht — bereits einen Begriff gefunden: Vaxinistas, eine Zusammensetzung aus Vaccine (Impfung) und Fashionista (Modeliebhaber). Vaxinistas sind so stolz auf ihre Impfung, dass sie auch nach dem ‚Piks‘ der ganzen Welt zeigen wollen: Ich bin geimpft“ (5).
Meschnig, der der Volksmeinung intensiv in den Medien nachspürt, hat im Schweizer Tagesanzeiger einen Bericht entdeckt, dem er zeitgeschichtliche Relevanz zuschreibt. Im Text wird ein Impfzentrum gleichsam zum Tempel und zur Begegnungsstätte der Gläubigen:
„Doch Stress hat in dieser Impfpraxis, unweit des Bahnhofs Altstetten, keinen Platz. Denn es passiert gerade etwas Schönes, und alle Menschen, die im Raum sind, werden getragen davon, scheint es. Die Impfwilligen genauso wie die Medizinerinnen. (…) Es ist wie ein kleines, kollektives Impf-High, das in der Praxisluft liegt. (…) Das Impfen schafft eine flüchtige, glückliche Gemeinschaft, eine Impfcommunity, vereint für ein paar Minuten. Da sind diejenigen, die noch auf den Piks warten, und jene, die vor Ort noch ihre 15 Minuten Sicherheitszeit nach dem Shot absitzen. Es werden Witzchen gemacht, ein Vater spielt mit seinem Kind, die Stimmung ist heiter. Das Impf-High wirkt. (…)
Beim Verlassen der Praxis bedanken sich die Frischgeimpften, teils mehrfach. Dann gehen sie durch die Schiebetür, hinaus in ihren Alltag, der nicht mehr ganz derselbe sein wird. (…) Diese Menschen verlassen die Praxis in Altstetten mit einer Perspektive. In ein paar Wochen wird der Impfstoff seine volle Schutzwirkung entfalten. Mit der Covid-Impfung wird auch das Potenzial für eine neue Leichtigkeit injiziert. (…) Die Impfpraxen und Impfzentren sind Orte, an denen Hoffnung keimt. Deshalb sind sie vielleicht gerade die glücklichsten Orte in der Corona-geplagten Welt. Falls Sie noch nicht da waren: Sie werden es fühlen“ (6).
Menschen, die derart beseelt sind, wie der Autor des Artikels mit dem vielsagenden Titel „High vom Impfen — Impfen macht richtig glücklich“, können leider recht schnell zu Monstern mutieren, sofern „Ungläubige“ ihre Andacht stören.
In Bezug auf den Aussonderungsprozess totalitärer, gläubiger Gesellschaften gegen „Ungläubige“, schreibt der Professor für klinische Psychologie Mattias Desmet:
„Eine Bevölkerung, die von diesem Prozess betroffen ist, ist zu enormen Gräueltaten gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst fähig. Sie zögert absolut nicht, sich selbst zu opfern. Dies erklärt, warum ein totalitärer Staat im Gegensatz zu einfachen Diktaturen nicht überleben kann. Er verschlingt sich am Ende sozusagen selbst. Aber dieser Prozess kostet in der Regel viele Menschenleben“ (7).
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Das Impfbuch: Über Risiken und Nebenwirkungen einer COVID-19-Impfung“ von Raymond Unger.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Patrick Dewal, Turmbau zu Dystopia, Interview mit Mattias Desmet, Rubikon, 14. August 2021; https://www.rubikon.news/artikel/turmbau-zu-dystopia
(2) Ebenda.
(3) Michael Meyen „Die Propaganda Matrix“, Rubikon 2021, Seite 49 und folgende.
(4) Raymond Unger, Vom Verlust der Freiheit, Europa Verlag 2021, Seite 475.,
(5) Alexander Meschnig, Die Corona-Impfung als Kommunion, Achgut.com 13. Juli 2021, https://www.achgut.com/artikel/die_spritze_als_kommunion
(6) Martin Fischer, High vom Impfen — Impfen macht richtig glücklich, tagesanzeiger.ch 11. Mai 2021, https://www.tagesanzeiger.ch/high-vom-impfen-652043311164
(7) Patrick Dewals, Turmbau zu Dystopia, Interview mit Mattias Desmet, Rubikon, 14. August 2021; https://www.rubikon.news/artikel/turmbau-zu-dystopia