Wir können viel über das Gewissen lesen, aber können wir es auch fühlen? Ich erinnere mich an die „Stimme des Gewissens“ wie an ein Fieber. Nach meinem Studium hatte ich dringend ein Praktikum in einem Buchverlag gesucht. Ich fand es in einem bekannten Münchner Großverlag. Wie sich nach wenigen Tagen herausstellte, war dessen politisches Programm jedoch rechtslastig. Es war natürlich naiv gewesen, dies nicht schon vorher recherchiert zu haben. Ein berüchtigter Bestseller war „Ich war dabei“, in dem Franz Schönhuber beschönigend über seine Zeit bei der Waffen-SS berichtete. Schönhuber war damals gerade dabei, eine rechtspopulistische Partei — die Republikaner — aufzubauen, und galt als potenziell gefährlichster Mann Deutschland.
Ich „rang“ ein Wochenende lang mit mir und fühlte mich von meinem Gewissen regelrecht belästigt. Dann glaubte ich, plötzlich nicht mehr die Wahl zu haben, und fühlte mich wie „fremdbestimmt“, obwohl ich eigentlich höchst selbstbestimmt handelte. Am nächsten Morgen sagte ich meiner Vorgesetzten rundheraus, dass ich den Verlag sofort verlassen würde — wegen Schönhuber. Alle im Verlag reagierten verständnisvoll, aber ich hatte mich damit einer wertvollen beruflichen Chance beraubt.
Ich erinnere mich an folgende Überlegung: Würde ich im Verlag bleiben und dort „Karriere“ machen, wäre mein gesamtes künftiges Berufsleben mit einem Makel behaftet. Ein bisschen Eitelkeit und Eigennutz spielten wohl auch eine Rolle. Durch diesen Job fühlte ich mich in meiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Antifaschisten infrage gestellt. Ich hätte es nicht mit meinem Selbstbild vereinbaren können.
„Weder sicher noch heilsam“
Meine Geschichte ist recht harmlos, verglichen mit wirklichen Gewissenstaten. In Deutschland verband man den Begriff „Gewissen“ lange Zeit vor allem mit Martin Luther. Der weigerte sich vor Gericht, seine Angriffe gegen den Papst zu widerrufen, „weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist“. Luther entging nur knapp seiner Verhaftung und war lange Zeit auf der Flucht. Der englische Dichter und Baptistenprediger John Bunyan weigerte sich, das Predigtverbot der anglikanischen Kirche zu befolgen. Er verbrachte 12 Jahre seines Lebens in Kerkerhaft. „Ich werde lieber bis zum Ende meiner Tage im Kerker ausharren, als mein Gewissen aufopfern“, sagte Bunyan. Als er entlassen wurde, predigte er wieder und wurde wieder eingesperrt. Erst 1687 wurde er mit der „Indulgenz-Akte“ rehabilitiert — nur um kurz darauf zu sterben.
Im Nachkriegsdeutschland ist Sophie Scholl zum Prototypen der Gewissensheldin avanciert. Im 4. Flugblatt der Widerstandsbewegung „Die Weiße Rose“ heißt es: „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen.“ Sophie und andere Mitglieder der Gruppe wurden 1943 von den Nazis hingerichtet. War mit dem Sieg der Alliierten über Nazideutschland „alles gut“? Keineswegs, der Rassismus lebte in anderem Gewand weiter, und in den USA wurde Martin Luther King zum Kämpfer für die Rechte der Schwarzen.
„Mein Verhalten wird bestimmt durch die zwingende Stimme des Gewissens und den Wunsch, der Wahrheit und dem Willen Gottes zu folgen, wo sie auch hinführen mögen. (…) Etwas muss geschehen, um das schlummernde Gewissen Amerikas zu wecken, ehe es zu spät ist.“
Auch Martin Luther King bezahlte seine Entscheidung mit dem Leben.
Das Bindungsgewissen
Menschen, die für ihr Gewissen Nachteile in Kauf nehmen, bewegen die Welt. Heute denkt man dabei etwa an Edward Snowden oder Julian Assange. Der Gewissensbegriff allerdings hat sich gewandelt: Wurde er bei Luther noch sehr stark mit „Gottes Stimme“ identifiziert, empfinden moderne Helden das Gewissen eher als autonome Instanz im Innersten des Menschen. Noch älter als diese beiden Versionen ist aber wahrscheinlich das Bindungsgewissen. Bert Hellinger versteht darunter eine mahnende Stimme, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sicherstellt.
„Überall, wo es Bindungen gibt, gibt es automatisch eine spontane Wahrnehmung: ‚Was gilt hier, damit ich dazugehören darf, und was muss ich tun und lassen, damit ich meine Zugehörigkeit nicht verliere?‘ Das Wahrnehmungsorgan für diese Art der Wahrnehmung ist das Gewissen. Daher hat einer, der mehreren Gruppen angehört, auch verschiedene Gewissen.“
Den Wahrheitsgehalt von Hellingers Aussage kann man leicht nachprüfen. Jemand ist beruflich engagiert und Familienvater. Vernachlässigt er den Betrieb, hat er ein schlechtes Gewissen gegenüber seinem Chef; arbeitet er dagegen bis spät in die Nacht, hat er ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Kindern. Auch der Verrat an der „Volksgemeinschaft“ konnte etwa im Dritten Reich eine Quelle von Gewissensbissen sein. Paradoxerweise konnte es jemanden in Gewissensnot bringen, einen Feind nicht zu töten, einen versteckten Juden nicht zu verraten und so weiter. Das Bindungsgewissen erwies sich oft als stärker als jede wolkige Vorstellung von Humanität.
Das schlechte Gewissen — ein autoaggressiver Akt?
Die Bindungen, die uns an die Wertvorstellungen unserer Eltern ketten, sind wohl die stärksten, die es gibt. Was wir als Kinder gehört haben, prägt sich so tief ein, dass wir selbst das Ergebnis plumper Manipulation später als unser „Ureigenes“ empfinden. Sigmund Freud machte das Gewissen am „Über-Ich“ fest.
Was wir an Normen und Regeln von unseren Eltern mitbekommen haben, verinnerlichen wir. Das im Unterbewusstsein gespeicherte Abbild des mahnenden Vaters wirkt dann selbst in Abwesenheit des realen Vaters als strenger Zuchtmeister.
Omar Khadr, der aus einer Familie von Al-Kaida-Kämpfern stammte, trieb sein Bindungsgewissen dazu, schon mit 15 Jahren in Afghanistan gegen die Amerikaner zu kämpfen. Seine Bewacher in Guantanamo Bay folterten ihn dann ebenso „gewissenhaft“. Vielleicht entsprach ein solches Verhalten den Vorstellungen ihrer Eltern von einem „guten Amerikaner“.
Ist das Gewissen also ein nebulöses, beliebig formbares Ding, das wir zu Unrecht mit „Standfestigkeit“ identifizieren? Friedrich Nietzsche brandmarkte in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“ das schlechte Gewissen als autoaggressiven Akt. Der Mensch, so Nietzsche, sei voll natürlicher, destruktiver Impulse: Feindschaft, Grausamkeit, Lust an der Zerstörung. Werden diese Impulse durch eine rigide Moral gehemmt, wenden sie sich gegen ihren Urheber. Er quält sich dann dauernd mit Skrupeln und entwickelt ein schlechtes Gewissen.
„Mit ihm aber war die größte und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit.“
Ja, auch das Gewissen hat Gegner, aber ist ihr Urteil gerecht?
Das Gewissen fordert Entscheidungen
Für mich ist das Gewissen keine Krankheit, sondern das einzig Gesunde, wenn die Welt um uns herum verrückt spielt. Das Bindungsgewissen versucht persönliche Nachteile — den Ausschluss aus der Gemeinschaft — zu vermeiden.. Interessant wird es aber, wenn jemand aus Gewissensgründen bewusst einen Nachteil in Kauf nimmt — im äußersten Fall sogar den Tod. Das Buch „Die Macht des Gewissens“ von Siegfried Fischer-Fabian erzählt hierzu ein paar erschütternde Geschichten. Etwa das eines Bauernsohns aus dem Sudentenland, der sich weigerte, der SS beizutreten. Er schreibt im Februar 1944 an seine Eltern:
„Ich muss Euch heute eine traurige Nachricht mitteilen, dass ich zum Tod verurteilt wurde, ich und Gustav G. Wir haben es nicht unterschrieben zur SS. (…) Wir beide wollen lieber sterben, als unser Gewissen mit so Gräueltaten zu beflecken.“
In solchen Fällen hat man das Gefühl, dass „höhere menschliche Fähigkeiten“ am Werk sind. Normalerweise erstrebt der Mensch Glück und will Leid vermeiden — eine Binsenweisheit, die zum Beispiel vom Dalai Lama ständig wiederholt wird. Wie kommt es dann, dass Menschen so eklatant gegen ihre eigenen Interessen verstoßen? Dass sie für eine Idee von „anständigem Handeln“ sogar ihr Leben geben?
Von einem „Opfer“ zu sprechen, ist heute nicht sehr modern. Viele versuchen, klaren Entscheidungen auszuweichen. Politiker wollen beweisen, dass „Ökonomie und Ökologie keine Gegensätze sind“. Firmen versuchen Gewinne mit einem ethischen Wertekanon zu verbinden. Vegetarier legen Wert darauf, dass umweltfreundliche Ernährung auch fantastisch schmeckt. Es mag meistens möglich sein, ein guter Mensch zu sein und zugleich ein gutes Leben zu führen. Manchmal fordert das Gewissen aber eine Entscheidung.
Ein Organ für die Ganzheit
Ich will hier noch eine eigene Definition von Gewissen zur Diskussion stellen. Ich nenne es ein „Organ für die Ganzheit“. Philosophen, Mystiker und Quantenphysiker sagen übereinstimmend, dass die Welt eine Einheit ist. Wir, alle Lebewesen und die unbelebte Materie, gehören untrennbar zusammen. Erstaunlich ist nur, wie die Illusion von Trennung entstehen konnte.
Das Wissen um die Ganzheit sagt uns, dass wir nicht andere Menschen, Tiere oder die Umwelt verletzen können, ohne dabei zugleich uns selbst zu verletzen. Dieses Wissen ist uns aufgrund kultureller Prägung nicht immer bewusst zugänglich; unbewusst lebt es aber durchaus in uns: als Ge-Wissen. Manchmal zeigt es sich in Form eines intuitiven Unbehagens, das auftritt, wenn wir die Ganzheit verletzt haben.
Im Gegensatz zum Bindungsgewissen kann das Gewissen als Organ der Ganzheit durchaus gegen die Normen der eigenen sozialen Gruppe rebellieren. Das Ganzheitsgewissen hat seinen Sitz in einem „innersten Bezirk“ des Menschen. Es war da, bevor die Manipulationen von Eltern, Milieu und Zeitgeist greifen können, und ist deshalb von diesen unabhängig. Wir müssen das Ganzheitsgewissen nicht erst erwerben, wir müssen nur die Ablagerungen entfernen, die es verdecken. Gewissen-haft zu sein meint keine egozentrische Fundamentalopposition. Es resultiert aus der Erkenntnis: „Es geht nicht nur um mich.“ Diese Art von Ganzheitsgewissen brauchen wir heute dringender denn je.
Ein ungenützter Muskel
Aber brauchen Demokratien eigentlich noch Nachhilfeunterricht in puncto Gewissen? Im deutschen Grundgesetz heißt es: „Abgeordnete sind ‚nur ihrem Gewissen unterworfen‘.“ Andererseits sind sie Vertreter des ganzen Volkes — beides wären hehre Werte, wenn sie wirklich praktische Politik bestimmen würden. In Wahrheit überlagern Fraktionszwänge oft die Verbindung zwischen dem Volk und „seinen“ Abgeordneten. Eine kleine Führungsriege innerhalb der Parteien dominiert und manipuliert die Basis. Die Führung wiederum wird gesteuert durch „Sachzwänge“, die von mächtigen globalen Konzernen und Banken geschaffen wurden.
Da kommt es den Mächtigen zupass, dass der Begriff „Gewissen“ einen etwas angestaubten Ruf hat. Er scheint nicht mehr so recht in eine Zeit globaler Verstrickungen und wohlmeinender, aber hilfloser Polit-Macher zu passen. Gewissensentscheidungen verlangen eine klare Trennung: hier der böse Tyrann, dort der Held, der sich ihm mit Pathos entgegenstemmt. Die Bürger moderner, gelenkter Demokratien aber sind selbst in tyrannische Systeme verstrickt: durch falsche Wahl- und Konsumentscheidungen.
In jüngster Zeit zum Beispiel durch recht unbedenkliches Mitmachen bei der Diskriminierung von Ungeimpften. In einer Zeit „alternativloser“ Politik ist das Gewissen zwar nicht verboten, verkümmert aber wie ein zu wenig genutzter Muskel. Die beste Möglichkeit, das Gewissen einzuschläfern, besteht darin, zu leugnen, dass überhaupt eine Gewissensentscheidung ansteht.
Gewissenshelden — nur historisch beliebt
Politiker rühmen die Widerstandskämpfer im Dritten Reich und jene, die sich der DDR-Diktatur entgegengestellt haben. Wenig später gehen sie ungerührt daran, den Willen derer zu brechen, die beispielsweise gegen rigide Demonstrationsauflagen verstoßen.
Wer heute aufbegehrt, dem wird kein Denkmal gebaut. Er wird durch Geldstrafen und Prozesse zermürbt, fühlt sich isoliert und wenig angesehen. Seine Tat geht in einer Flut von oberflächlichen Medienberichten unter. Selbst Gesinnungsgenossen bespötteln ihn noch für seinen unvernünftigen Hang zur Selbstschädigung.
Der historische Held dient der Erbauung; der Held in der Nachbarschaft ist eine Provokation und daher unerwünscht. Er konfrontiert einen mit der eigenen Feigheit und zeigt, dass es eine Alternative zur Untätigkeit gibt.
Es gibt aber auch einen hoffnungsvollen Aspekt: Das Gewissen genießt von allen Motiven zum Widerstand das höchste Ansehen. Ein Gewissen, das stärker ist als der Wunsch, Leiden zu vermeiden, macht frei — auch heute noch. Ein großer Gewissensheld lässt sich wegsperren und später in die Geschichte wegloben; viele kleine Gewissenshelden würden die Planbarkeit, die Kontrollierbarkeit politischer Prozesse überhaupt infrage stellen.
„Imagine“: Ein Offizier würde befehlen, Zivilisten in Afghanistan zu bombadieren, und die Antwort des Piloten wäre „Nein“. Sachbearbeiter auf den Sozialämtern würden sich weigern, Leistungsempfänger zu drangsalieren. Bankangestellte würden aufhören, ihre Kunden zu belügen und ihnen faule Papiere zu verkaufen. Polizisten würden plötzlich entdecken, dass sie von der Politik missbraucht werden, um Entscheidungen gegen das eigene Volk durchzusetzen. Sie würden sich weigern, gegen Demonstranten vorzugehen. Undenkbar?
Jenseits von Sachzwang und Eigennutz
Wie sähe eine Welt aus, in der das Gewissen den Gehorsam als Leitbild ablösen würde? Es wäre eine Welt, in der Befehlsketten reißen und Machtmittel verpuffen würden. Sicher auch eine chaotische Welt, in der Fehler gemacht würden, aber eine sehr lebendige. In der Sachzwang-Realität kommt es immer wieder zu grotesken Situationen. Wenn etwa von Kassenpatienten Zusatzbeiträge eingetrieben werden, obwohl allen klar ist, dass man eigentlich die Macht der Pharmakonzerne brechen und die Preise auf Medikamente begrenzen müsste.
Kaum einer will das, was geschieht, aber jeder spielt mit: der Gesundheitsminister, oft auch mehr Getriebener als Handelnder; die Kassenleitung, die der Politik gehorcht; die Sachbearbeiter, die der Kassenleitung gehorchen und die Beiträge eintreiben; die Patienten, die sich widerwillig in ihr Schicksal fügen. „Alternativlosigkeit“, wohin man schaut. Was fehlt, ist eine Gegenmacht, die fähig wäre, den Druck von oben durch Gegendruck zu parieren.
Diese Gegenmacht ist in jedem von uns vorhanden. Es ist unsere höchste Instanz, das vergessene Organ der Ganzheit: unser Gewissen. Mit dem Erwachen des Gewissens zeigen sich plötzlich Alternativen, verschwindet der Automatismus des gehorsamen Funktionierens. Um unser Gewissen heute anzuwenden, fehlt es uns weder an Gelegenheiten noch an Dringlichkeit.
Es fehlt am Bewusstsein, dass überhaupt eine Instanz jenseits von Sachzwang und Eigennutz existiert.
Wo sie sich meldet, wird sie zum Schweigen gebracht oder bagatellisiert. Wir müssen nicht nur unsere Sensoren für die Verletzung der Ganzheit schärfen, sondern auch den Mut in uns stärken, destruktiven Kräften zu widerstehen. Ein Gewissen, das keine praktischen Folgen hat, bleibt in unfruchtbarer Grübelei stecken. Lasst es uns wieder entdecken, es pflegen und respektieren! Eine Welt, in der das Gewissen regiert, nicht gewisse Interessengruppen, wäre eine bessere Welt.