Parteien werben in ihren Programmen mit zahlreichen Wahlversprechen. Als Wähler geht man davon aus, dass ihr tatsächliches Handeln zu diesen Forderungen passt. Oft ist das auch der Fall, die AfD leugnet zum Beispiel in ihrem Programm den menschengemachten Klimawandel (Seite 173) und stimmte im Juni 2019 auch gegen einen Antrag von Die Linke, der den Klimanotstand anerkennen und Sofortmaßnahmen gegen den Klimawandel einleiten wollte.
Die Entstehungsgeschichte der App hat allerdings gezeigt, dass es auch Widersprüche zwischen Wahlversprechen und Abstimmungsverhalten gibt.
Wir haben uns für die anstehende Bundestagswahl deshalb dazu entschlossen zu überprüfen, inwieweit die Wahlprogramme der Parteien mit ihrem tatsächlichen Handeln übereinstimmen ― so auch für die AfD.
Die jüngste Bundestagspartei hat ihr Programm mit dem Titel „Deutschland. Aber Normal.“ Anfang April auf einem Parteitag beschlossen. Über eine Mitgliederbefragung Ende Mai, an der knapp die Hälfte der Mitglieder teilnahmen, wurden die Fraktionschefin Alice Weidel und Parteivorsitzender Tino Chrupalla mit 71 Prozent der Stimmen zum Spitzenduo für den Bundestagswahlkampf 2021 gewählt.
Die AfD wurde im Juni 2021 vom Deutschen Institut für Menschenrechte als „rassistische und rechtsextreme Partei“ bezeichnet, die Analyse basiert auch auf dem Programm für die Bundestagswahl 2021. Während einige Landesverbände wie Thüringen oder Sachsen bereits vom jeweiligen Verfassungsschutz als rechtsextreme Verdachtsfälle eingestuft werden, gilt das bisher nicht für die Bundespartei.
Als Tool für unsere retrospektive Kontrolle des Wahlprogramms der AfD haben wir unsere Democracy App benutzt. Mithilfe der App sind wir auf diverse Widersprüche zwischen den Wahlversprechen und dem Abstimmungsverhalten der AfD im Parlament gestoßen. Wir zitieren immer zunächst die entsprechende Stelle aus dem Wahlprogramm und verweisen dann auf die widersprüchliche Abstimmung mit Democracy-Link. Abschließend folgt eine kurze thematische Einordnung.
Ein letzter Hinweis: Wir stellen nur diejenigen Widersprüche aus unserer Recherche vor, bei denen die AfD zu dem entsprechenden Tagesordnungspunkt keinen eigenen Gesetzentwurf oder Antrag eingebracht hat, in dem die Forderung aus dem Programm enthalten ist.
Soziales
„Politiker sollen wie andere Arbeitnehmer auch in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen” (Seite 126).
Ablehnung des Linke-Antrags Bundestagsabgeordnete in gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen am 21. Mai 2021.
Die AfD möchte, dass PolitikerInnen zusammen mit anderen Arbeitnehmern in die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) einzahlen, lehnte allerdings Ende Mai einen Antrag von Die Linke ab, der den Einbezug von Bundestagsabgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung vorsah. Das hätte laut Begründung im Antrag unter anderem den Vorteil der Stabilisierung der GRV, auch im Hinblick auf den demografischen Wandel, welcher sich auf das deutsche Rentensystem auswirken werde.
„Als AfD bekennen wir uns zur Mitwirkung und Mitbestimmung der Beschäftigten in den Betrieben und zu allgemein verbindlichen Tarifverträgen” (Seite 43).
Ablehnung des Linke-Antrags Tarifbindung stärken am 12. Dezember 2019.
Im Dezember 2019 stimmte der Bundestag über einen Antrag von Die Linke ab, mit dem die Oppositionspartei gegen die sinkende Tarifbindung in Deutschland vorgehen wollte. Hierzu sollte der Geltungsbereich von Tarifverträgen erweitert werden. Außerdem sollten öffentliche Aufträge in Zukunft nur an Unternehmen vergeben werden, die branchenübliche Tariflöhne zahlen. Die AfD spricht sich zwar für allgemein verbindliche Tarifverträge aus, den linken Antrag lehnte sie allerdings ab.
Familie
„Die AfD bekennt sich zur Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft. Sie besteht aus Vater, Mutter und Kindern” (Seite 102).
Zustimmung zum GroKo-Gesetz über Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien am 12. Februar 2020 ― gilt auch für gleichgeschlechtliche Paare.
Das Bundesverfassungsgericht entschied Ende März 2019, dass das Adoptionsrecht in der damaligen Fassung verfassungswidrig war, weil es nichteheliche Familien faktisch ausschloss. Ein Stiefelternteil konnte das leibliche Kind des Partners oder der Partnerin nicht adoptieren, ohne dass die Verwandtschaft des Kindes zu seinem leiblichen Elternteil rechtlich erlischt. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde das Adoptionsrecht deshalb angepasst, sodass die Adoption von Stiefkindern auch in einer festen Lebensgemeinschaft möglich ist.
In den Details des Gesetzestextes (Seite 9) heißt es explizit: „Auch gleichgeschlechtliche Paare (…) werden von der Neuregelung erfasst.“
Die AfD stimmte dem Gesetz der Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD Anfang 2020 zu, obwohl eine Familie für sie laut Programm aus Vater und Mutter, also einem heterosexuellen Paar, besteht.
Wirtschaft
„Wir lehnen es ab, dass sich die Bundesregierung zunehmend als Unternehmer versteht und betätigt. Sie (…) versucht die Wirtschaft durch Vorgaben und Subventionen zu steuern“ (Seite 44).
Ablehnung des Grünen-Antrags Ölheizungen ersetzen, Subventionen für fossile Brennstoffe streichen am 13. Februar 2020 und des Linke-Antrags Kein öffentliches Geld für klimaschädliche Energien und Atomkraft am 22. April 2021.
In ihrem Programm positioniert sich die AfD gegen Subventionen und kritisiert die Bundesregierung dafür, Unternehmen mit diesen beeinflussen zu wollen. Als die Grünen durch einen Antrag im Februar 2020 Subventionen für fossile Brennstoffe beenden wollten, stimmte die AfD dagegen.
Knapp ein Jahr später lehnte die größte Oppositionsfraktion einen ähnlichen Antrag der Linken ab, der Subventionen für klimaschädliche Energien sowie Atomkraft streichen wollte.
Steuern
„Die AfD fordert die Einführung einer Digitalsteuer für Tech-Riesen“ (Seite 37).
Zustimmung zum FDP-Antrag Unternehmenssteuerreform statt Digitalsteuer am 17. Mai 2019.
Das AfD-Programm enthält die Forderung einer Digitalsteuer für große Tech-Konzerne, im Mai 2019 stimmte die Fraktion jedoch einem FDP-Antrag zu, der statt einer Digitalsteuer eine Reform der Unternehmenssteuer anstrebte. Außerdem wird direkt im Anschluss an das obige Zitat explizit beschrieben, dass die Digitalsteuer „nicht auf den Gewinn, sondern auf den Umsatz dieser Unternehmen erhoben“ werden soll. Im erwähnten FDP-Antrag heißt es hingegen, dass „das bewährte Prinzip der Unternehmensbesteuerung, wonach Gewinne dort besteuert werden, wo die Wertschöpfung stattfindet“ erst einmal nicht aufgegeben werden sollte (Seite 3).
Parlament
„Durch die Volksabstimmungen wollen wir die Flut der oftmals unsinnigen Gesetzesvorlagen eindämmen” (Seite 13).
AfD mit 77 Gesetzesinitiativen im Bundestag, 2. Platz nach Großer Koalition mit 90.
Dieser Widerspruch liegt ausnahmsweise nicht im Abstimmungsverhalten, sondern der Arbeit im Bundestag generell. Die AfD hat es sich nach eigener Aussage zur Aufgabe gemacht, die Menge an Gesetzesvorlagen im Bundestag zu reduzieren, im Programm wird dies als Argument für Volksabstimmungen angeführt. Wenn es um die Frequenz von Gesetzesinitiativen geht, ist die AfD allerdings mit 77 Vorlagen selbst auf dem 2. Platz nach der Großen Koalition. Gleiches gilt für selbstständige Anträge, hiervon hat die AfD 636 eingebracht und wird nur von der FDP geschlagen, die 797 Anträge initiierte (Stand: 1. Juli 2021).
Die Zahlen sind im Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentsmaterialien unter „Statistiken“ bei „Gesetzgebung“ beziehungsweise „Parlamentarische Initiativen“ einzusehen.
Disclaimer
Wir möchten dieser Recherche anmerken, dass die AfD in der vergangenen 19. Legislaturperiode in der Opposition war und insofern keinem Kompromissdruck wie die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD ausgesetzt war. Da im politischen Ideenwettbewerb allerdings stets mit eigenen Versprechen statt mit möglichen Kompromissen Wahlkampf gemacht wird, ist es für uns nur folgerichtig, die Parteien an diesen Versprechen zu messen und zu bewerten.
Darüber hinaus sind wir uns im Klaren, dass in der politischen Praxis des Bundestags Fraktionsdisziplin eine Rolle spielt und insofern Anträgen beziehungsweise Gesetzentwürfen anderer Fraktionen ― unabhängig vom Inhalt ― oft aus Prinzip nicht zugestimmt wird. Diese Tatsache gilt für die vorgestellten Widersprüche allerdings nicht als Ausrede. Wie oben genannt haben wir nur diejenigen Widersprüche in unsere Veröffentlichung aufgenommen, bei denen die AfD zu dem entsprechenden Tagesordnungspunkt keinen eigenen Gesetzentwurf oder Antrag eingebracht hat. Wenn die AfD die Vorschläge inhaltlich vertritt, hätte sie diese problemlos in eigenen Initiativen fordern beziehungsweise umsetzen können.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „AfD-Wahlprogramm im Reality-Check“ auf democracy-deutschland.de.