Der Opfertotalitarismus
Wer heute etwas auf sich hält, inszeniert sich als Opfer, denn nur so wird man noch wahrgenommen — dabei wird die Demokratie als wirkliches Opfer in Mitleidenschaft gezogen.
Klimakleber und Klimaaktivisten sind Opfer. So sehen sie sich selbst. Seit Jahren erzählen uns die jungen Leute um Greta Thunberg und Luisa Neubauer, dass sie die Opfer eines jahrzehntelangen Versäumnisses sind. Täter in dieser Allegorie: die vorherigen Generationen. Oma, die Umweltsau, hat die jungen Leute geopfert. Auf dem Altar eines Wohlstandes, der sich nicht schert um das Klima oder die Umwelt. Dass die jungen Leute von diesem Wohlstand profitiert haben, verschweigen sie bei dieser Opferdebatte geflissentlich. Dennoch genießen sie ihn natürlich. Man muss nur mal Luisa Neubauers Netzwerk-Accounts folgen, da sieht man, wo die junge Frau sich gerade aufhält: Das kann dann schon mal Kalifornien sein. Die Opfer der gleichgültigen Altvorderen kommen weit rum. Weiter als mancher dieser Alten selbst. Sind sie nicht die Opfer ihrer zu frühen Geburt? Und bei wem können sie sich als solche anerkennen lassen? Denn Opfer — das sind heute eigentlich alle. Wer gehört werden will, braucht diesen Status geradezu.
Du Opfer!
Vor mehr als einem Jahrzehnt wurde das Wort „Opfer-Abo“ zum „Unwort des Jahres“ gekürt. Es ging auf Jörg Kachelmann zurück. Er hat den Begriff in mehreren Interviews rund um seinen Strafprozess gebraucht. Ihm wurde damals Vergewaltigung und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen: Der Verdacht ließ sich vor Gericht nicht erhärten, sodass er nicht verurteilt wurde. Kachelmann unterstellte nun Frauen, dass sie ein „Opfer-Abo“ hätten, weil man ihnen solche Vorwürfe recht schnell glaubt.
Die Wortkreation wurde zum Unwort ernannt, weil es pauschalisiere und Frauen in inakzeptabler Weise vorwerfe, Erfinderinnen von Übergriffen zu sein. Man kann das so sehen — andererseits könnte man aber mit einigem Abstand auch festhalten: So ein Abo haben heute allerlei Gruppen. Nicht nur Frauen. Opfer zu sein ist kein Schicksal mehr, es ist geradezu ein bewährter Kniff, eine regelrechte Kampagnenstrategie, wenn man auf irgendeine Weise von sich reden machen möchte.
Die gesamte Klimabewegung beruht auf diesem Prinzip: Sie lebt davon, dass sich junge Leute als Opfer der vorherigen Jahrgänge betrachten. Die „Tätergenerationen“ der Eltern und Großeltern opfern die jungen Menschen:
So will es die Legende, so will es die PR junger und ungestümer Grünschnäbel, die ständig online sind, mobil wie keine Generation vor ihr und — wie schon erwähnt — aus einem reichhaltigen Globalangebot wählen können, von dem die „Tätergenerationen“ einst nur träumen konnten.
Egal wo man steht und geht: Opfer sind immer schon da. Fußballerinnen sind etwa auch Opfer — sagt man Opferinnen? Opfer der Herrenfußballer nämlich, die die ganze Aufmerksamkeit und fast alle Preisgelder auf sich ziehen. Menschen, die keinen deutschen Namen tragen, sind per se und grundsätzlich Opfer des deutschen Rassismus. Auch dann, wenn gar kein rassistisches Motiv vorliegt — selbstverständlich sind auch Biodeutsche Opfer immer und überall. Männer sind Opfer der Frauen und Frauen der Männer. Jeder ist es stets und ohne Unterlass.
In der Opferfalle
Opferfalle: So nannte der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli dieses Phänomen in seiner gleichnamigen Kampfschrift von 2015. Die heute weit verbreitete Lust, sich als Opfer zu sehen, so urteilte er, habe die „politische Suche nach der Zukunft“ erschwert — oder gar ersetzt. Denn das Gefühl der Viktimisierung suggeriere Ohnmacht — und die hat die Geschichte bisweilen noch nie verändert. Handelnde Subjekte der Geschichte sind gestalterisch, sie schreiten über eine Moral hinweg, die Opfer und Täter voneinander scheiden.
Man könnte sagen, dass man damit in die Falle geht:
Mitbestimmung und Veränderung benötigen nämlich keinen Opfergang, sondern eine klare Perspektive, die sich des gängigen Moralismus entzieht. Wer sich mit der Moral aufhält, schreitet nicht voran, der laviert, erstarrt im Status quo — der guckt zurück, wo er doch vorausschauen sollte.
Dass die, die heute mit Wonne Opfer sind, dennoch von Reformen, Perspektiven und einer möglichen Zukunft sprechen, schließt nicht aus, dass sie eigentlich zeitgleich im Stillstand ausharren.
Denn sie wenden die meiste Energie darauf auf, die Fronten zwischen denen, die sie als Täter und als Opfer identifiziert haben, weiter mit Nachschub aufzurüsten. Die Verinnerlichung dieses Verhältnisses absorbiert manchen Elan, wird zum Schwerpunkt der Programmatik. Eine konstruktive Lösung etwaiger Probleme, um die sich die Rollenverteilung wickelt, wird so jedenfalls wesentlich erschwert. Die Überwindung der eigenen Viktimisierung stellt insofern einen Akt der Mündigkeit dar. Denn sie setzt Ressourcen frei, die vormals auf die Inszenierung der eigenen Stellung fokussiert waren.
Insofern ist das größte Opfer, das heute jeder bringt, der Umstand, 24/7 Opfer sein zu müssen, um rein nach den Prinzipien der Aufmerksamkeitsökonomie wahrgenommen zu werden. In einem Debattenraum, in dem jeder als Opfer auftritt, das anderen Opfern nur die Existenz als Täter zuerkennt, erlahmen fruchtende Diskussion. In so einem Umfeld finden keine Dialoge statt, sondern aufeinander einredende Menschen, die Monologe halten. Die Opferfalle ist insofern viel mehr: Sie ist eine Gesellschaftsfalle.
Die Angst Täter zu sein und das Schweigen
Und das nicht nur, weil der Dialog damit an ein Ende gerät, Cancel Culture zur Konsequenz dieses Schlafmodus‘ wird: Nein, es muss ja auch jeder darauf achten, eine etwaige Täterschaft zu vermeiden. Und Täter ist man heute schnell, insbesondere dann, wenn man den Opferduktus nicht unwidersprochen hin- und aufnimmt, gewissermaßen verinnerlicht und als einzige Kommunikationsform anerkennt. Hier nicht auf den Kurs derer einzuschwenken, die sich selbst als Opfer identifiziert haben, macht jeden automatisch zum Täter.
Und so umschifft man sich gesellschaftlich vorsichtig, damit nur ja keine Havarie entsteht. In so einem Klima kann sich freilich keine Debatte entfalten, höchstens deren Simulation: Ritualisiert, arg schonend, dabei zwangsläufig konturlos bleibend. Das Opfer hat schließlich Vorrang, seine Wahrnehmung ist nicht nur eine Interpretation dessen, was ist: Man hat es mit der Wahrheit zu tun, die alleine einen Anspruch auf Gültigkeit durch das eigene gefühlsmäßige Erleben besitzt — durch Emotion quasi. Am Ende sprechen alle zwar miteinander, schweigen sich aber inhaltlich an.
Die Angst dominiert den Diskurs: Bizarr ist daran, dass diese Angst aus dem Umstand resultiert, die Angst der Opfer — ob wirklich oder vermeintlich — zu respektieren.
Ein besonders demokratisches Gefühl ist Angst allerdings nicht — und so resultiert aus dem Umstand, dass alle stets Opfer sein wollen, etwas Fatales: Die Demokratie gerät in Schieflage. Mindestens. Hier und da wird sie gar durch totalitäre Strukturen ersetzt: Opfertotalitarismus.
Kurz und gut könnte man feststellen, dass die Demokratie dort zum Opfer fällt, wo man meint, mit dem Opferstatus hausieren gehen zu müssen. Wir sprechen dieser Tage viel von Identitäten. Wir haben sie im Laufe von Jahrzehnten verloren, der Arbeiterstand hat kaum noch eine. Die Kirchen verlieren an Wirkmacht. Stattdessen modelliert sich jeder seine eigene Identität zum Alltagsgebrauch. Dabei gibt es eine allumfassende Identität, auf die heute fast jeder setzt: Die Identität des Opfers. Leider lässt sich damit keine Gesellschaft formen — sondern nur das komplette Gegenteil davon.