Zum Inhalt:
Der neue Mensch

Der neue Mensch

Die „Vierte Industrielle Revolution“ will nicht nur die Art ändern, wie wir arbeiten und uns informieren ― sie will uns selbst verändern. Exklusivabdruck aus „Schöne neue Welt 2030“.

Nach Auffassung des Weltwirtschaftsforums (WEF) befinden wir uns seit der Jahrhundertwende in der „Vierten Industriellen Revolution“. Für Klaus Schwab, den Begründer und Vorstandsvorsitzenden des Forums, handelt es sich dabei um eine technologische Revolution, die mit nichts Geringerem als einem tiefgreifenden Wandel der gesamten menschlichen Zivilisation einhergeht und „die unsere Art zu leben, zu arbeiten und miteinander zu interagieren, grundlegend verändern wird“  (1). Mit dieser Revolution werde ein völlig „neues Kapitel der menschlichen Entwicklung“ (2) eröffnet.

Als besonderes Merkmal der „Vierten Industriellen Revolution“ nennt Klaus Schwab die Verfügbarkeit und Verschmelzung neuer, ganz außergewöhnlicher Technologien. Dies führe schließlich dazu, dass „die Grenzen zwischen der physikalischen, der digitalen und der biologischen Sphäre verschwimmen“ (3) werden. Das betrifft in erster Linie den Einsatz der Bio- und Neurotechnologien, der implantierbaren Technologien sowie des Internets der Körper (IoB).

Es handelt sich dabei um Technologien, die weniger auf die Umwelt des Menschen, sondern vor allem auf die Veränderung des Menschen selbst ausgerichtet sind und einen nachhaltigen Einfluss auf sein Wesen und seine Identität haben werden. Mit der „Vierten Industriellen Revolution“ ― so Klaus Schwab ― stehe uns „eine Veränderung des Menschen bevor, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben“ (4) .

Die Technisierung des Menschen

Mit kaum zu überhörender Begeisterung äußert sich Schwab über die bevorstehenden technischen Innovationen und die von ihm erwartete Technisierung des Menschen. Bald schon würde man damit beginnen, „digitale Technologien in unserem Körper zu integrieren“. Dabei könnten die neuen Technologien „buchstäblich ein Teil von uns werden“. Dies werde die Grenzen zwischen Technologien und Lebewesen auflösen. In Anspielung auf die „Cyborg“-Metapher entwickelt er seine technokratische Utopie von einem neuen Menschen und prophezeit, dass es in Zukunft „kuriose Mischformen aus digitalem und analogem Leben geben (könnte), die unser ureigenes Wesen neu definieren“ (5).

Es ist der alte Traum von einem neuen, vollkommeneren Menschen, der aus Schwabs Worten spricht. Dieser Traum hat eine lange Geschichte.

Immer wieder wünschten sich die unterschiedlichsten Denker einen perfekteren Menschen und waren zugleich von einem immerwährenden Fortschritt der Menschheit überzeugt.

Mitunter verband sich dieser Fortschrittsglaube mit einem unerschütterlichen Glauben an die Leistungen der Wissenschaft und später auch an die Möglichkeiten, die mit einer breiten Anwendung der Technik verbunden waren. Der neue Mensch der „Vierten Industriellen Revolution“ unterscheidet sich jedoch grundlegend von früheren Menschenbildern, die zum Beispiel Jesus, Friedrich Nietzsche oder Karl Marx entwarfen. An die Stelle moralischer Werte, der Charakterstruktur oder der sozialen Verhältnisse ist allein die Technik getreten.

Nicht mehr durch Bildung, Erziehung, praktische Erfahrung oder revolutionäres Handeln wird eine Besserung des Menschen erwartet, sondern allein durch die erfolgreiche Anwendung neuer Techniken. Der aus der kommenden wirtschaftlichen Umgestaltung hervorgehende Mensch soll ― nach dem erklärten Willen des Weltwirtschaftsforums ― in erster Linie das Produkt von neuen Technologien sein. Ziel dieser transhumanistischen Zukunftsvision ist es, den Menschen durch den Einsatz neuer technischer Verfahren sowie mittels technologischer Eingriffe in seinen Körper zu vervollkommnen und weiter zu perfektionieren. Vertreten wird dabei ein technokratisches Menschenbild, das elitär und repressiv ist und dessen weitreichende Folgen sich gegenwärtig noch gar nicht abschätzen lassen.

Neurotechnologien zur Gehirn- und Verhaltenssteuerung

Das Weltwirtschaftsforum hält insbesondere die Neurotechnologien für das eigentliche Wesen der „Vierten Industriellen Revolution“. Ermöglichen sie doch „beispiellose Erkenntnisse ― nicht nur darüber, wie das Gehirn mit seinem physischen und sozialen Umfeld interagiert, sondern auch über neue Wege, das Leben zu erfahren“ (6). Auch könnten sie bei einer Reihe von neurologischen Erkrankungen und körperlichen Behinderungen wirksam werden und dabei helfen, „die Industrie der Technisierung des menschlichen Körpers voranzubringen“.

Nicht selten kommen die notwendigen Mittel für Neurotechnologien und andere Spitzenforschung aus dem militärischen Bereich. Dort stellt man sie zunächst in den „Verteidigungskontext“ und nutzt später dann ihre Ergebnisse. So steht das menschliche Gehirn ― gerade auch „im Grenzbereich von Kriegsführung und Sicherheit“ ― im Mittelpunkt. Selbst für die Überschreitung einer Landesgrenze könnte in Zukunft ein detaillierter Gehirnscan zur Einschätzung des Sicherheitsrisikos einer Person notwendig werden, prophezeit Schwab (7).

Auch für Arbeitgeber werde es zunehmend interessanter, die Neurotechnologien zur Leistungssteigerung und ebenso zur Beurteilung von Stellenbewerbern oder zur Überwachung von Mitarbeitern einzusetzen.

Nach dem Einsatz biometrischer Systeme am Arbeitsplatz und der Verfolgung per Radiofrequenz-Identifikation (RFID) könnte es zukünftig dahin kommen, „dass Arbeitgeber direkt oder indirekt die Gehirne von Arbeitnehmern überwachen“. Für den Einzelhandel kündigt sich ebenfalls ein verstärkter Einsatz von Geräten zur Gehirnüberwachung an. Damit ließen sich wesentliche Entscheidungsmuster der Verbraucher durchschauen, um sie dann leichter zu einer von den Unternehmen gewünschten Verhaltensweise veranlassen zu können (8).

Grundsätzlich erweist sich der Einsatz der Neurotechnologien als bestens geeignet zur Beeinflussung des Bewusstseins und des Denkens der Menschen. Zudem sind solche Technologien äußerst hilfreich bei der Entschlüsselung von Gedanken, bei der Korrektur von „Fehlern“ im Gehirn sowie bei der „Verbesserung“ von dessen Funktion. In einer von Algorithmen und allgegenwärtiger Datenerfassung gesteuerten Welt lässt sich damit ein Zugriff selbst auf die intimsten Gedanken eines Menschen kaum mehr ausschließen (9).

Biotechnologien und Designerbabys

Das Weltwirtschaftsforum misst auch den Biotechnologien ein hohes Potenzial zur weiteren Technisierung des Menschen bei. Ebenfalls lieferten sie wichtige Werkzeuge und Strategien, mit denen sich die Beziehung des Menschen zur Natur völlig neu definieren ließe (10). Dabei seien die jüngsten Entwicklungen in der Biologie ― insbesondere in der Genetik ― atemberaubend. Große Fortschritte habe es beispielsweise bei der Editierung von Genen gegeben.

Bereits im April 2015 veröffentlichten Forscher „der Yat-sen University in Guangzhou die erste wissenschaftliche Abhandlung der Welt zur Veränderung der DNS menschlicher Embryonen“. So sei es inzwischen leichter geworden, „das Genom schon bei lebensfähigen Embryonen präzise zu verändern“. Dies alles bedeute, „dass in Zukunft Designerbabys geboren werden können, die besondere Merkmale besitzen oder gegen eine bestimmte Krankheit resistent sind“ (11).

Den nächsten Entwicklungsschritt auf diesem Gebiet sieht das Forum dann folgerichtig in der breiten Anwendung der synthetischen Biologie, in der Erschaffung von Designerorganismen. Für die Menschheit bedeute dies letztendlich den Eintritt „in ein ganz neues Zeitalter des Metabolic Engineering und der synthetischen Biologie“ (12). Damit soll es möglich werden, Organismen selbst herzustellen und „durch das Schreiben von DNA maßzuschneidern“. Schließlich gehe es um nichts Geringeres „als darum, in den genetischen Code zukünftiger Generationen einzugreifen“, meint Schwab (13).

Implantate zur Optimierung des Menschen

Mit implantierbaren Technologien soll Computertechnik nicht mehr am Körper getragen oder mitgeführt (Wearables), sondern direkt in den menschlichen Körper implantiert werden. Neben medizinischen Zwecken soll dies vor allem der besseren Kommunikation sowie der Ortung und Verhaltensüberwachung des Menschen dienen (14).

Klaus Schwab spricht in diesem Zusammenhang von „aktiven implantierbaren Mikrochips, die die Hautbarriere unseres Körpers durchbrechen und faszinierende Optionen“ schaffen. Dies betrifft integrierte Therapiesysteme bis hin „zu Möglichkeiten der Optimierung und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten (Human Enhancement)“. Auf diese Weise sollen kleine Computer in den menschlichen Körper integriert und „allmählich auch physisch Teil von uns“ werden (15).

Es handelt sich also um technologische Eingriffe in den Körper, die praktisch zu einer Verschmelzung des Menschen mit der Maschine führen werden. Ziel ist, eine rein technisch orientierte Weiterentwicklung und Optimierung des Menschen zu ermöglichen, was nicht zuletzt auch zur Steigerung seiner Leistungsfähigkeit beitragen soll.

Seit einigen Monaten spricht das Weltwirtschaftsforum in seinen Veröffentlichungen auch von einem Internet der Körper (IoB). Jüngst gemachte technologische Fortschritte hätten die neue Ära des IoB eingeläutet. Gekennzeichnet sei diese Ära durch eine noch nie da gewesene Anzahl vernetzter Geräte und Sensoren, die am Körper des Menschen angebracht (nicht-invasiv), aber auch implantiert oder anderweitig in den Körper (invasiv) eingebracht werden können.

Zu den invasiven Technologien gehören beispielsweise digitale Pillen, deren erste Verwendung im Jahr 2017 in den USA genehmigt wurde. Sie enthalten winzige Sensoren, die in Verbindung mit einem Medikament stehen, im Magen des Patienten aktiviert werden und entsprechende Daten liefern. Mit dem Internet der Körper wird es grundsätzlich möglich, enorme Mengen an biometrischen Daten und Daten über das menschliche Verhalten zu generieren. Der menschliche Körper soll dabei in eine Art „Technologieplattform“ verwandelt werden (16).

Doch bei Weitem nicht jeder wird sich die mitunter sehr teuren technischen Optimierungen seiner körperlichen und geistigen Funktionen leisten können, was zu einer weiteren Benachteiligung bestimmter Gruppen und damit zur Vertiefung der ohnehin schon bestehenden sozialen Spaltung innerhalb der Gesellschaft führen muss. In diesem Falle ― so Schwab ― „dürfte sich vermutlich eine Schere öffnen zwischen all jenen, die ihre Körper technisch aufrüsten, und den Abgehängten“ (17).

Demokratiefreie Epochenwende

Nach Auffassung des Weltwirtschaftsforums steht die Welt gegenwärtig „an der Schwelle eines radikalen Systemwandels“. Dabei polarisiere sich die Welt zunehmend, „in diejenigen, die den Wandel begrüßen, und solche, die ihn ablehnen“. Die daraus entstehende „ontologische Ungleichheit scheidet die Anpassungswilligen und -fähigen von den Anpassungsverweigerern“ und definiere damit im Grunde schon, wer die Gewinner und wer die Verlierer dieses Prozesses sein werden.

Während die Gewinner „von gewissen Formen radikaler Optimierungen des Menschen“ ― wie etwa der Gentechnik ― profitieren würden, bliebe dies den Verlierern vorenthalten. Die sich daraus ergebenden Spannungen begünstigten wiederum die Entstehung von „Klassenkonflikten und anderen Auseinandersetzungen, die anders sein werden als alles, was wir kennen“ (18). Damit bestehe die große Gefahr, „dass es in einer hypervernetzten Welt mit wachsender Ungleichheit zu verstärkter Fragmentierung, Ausgrenzung und sozialen Unruhen kommt“ (19).

Noch im Jahr 2016 schrieb Schwab, dass es an einem in sich stimmigen, positiven und verbindenden Narrativ fehle, das die Chancen und Herausforderungen der „Vierten Industriellen Revolution“ aufzeigt. Dies sei jedoch unverzichtbar, wenn man unterschiedliche Menschen und Gemeinschaften zu aktiver Mitgestaltung bewegen möchte und gleichzeitig verhindern wolle, „dass eine breite gesellschaftliche Gegenreaktion gegen die grundlegenden Veränderungen entsteht“. Auch lasse sich unter solchen Bedingungen das vorhandene Potenzial der „Vierten Industriellen Revolution“ nicht effektiv und umfassend ausschöpfen.

So mangele es der Politik vielfach an Führungsstärke und an dem nötigen Verständnis für die sich vollziehenden Veränderungen. Zudem sei der notwendige institutionelle Ordnungsrahmen nur unzureichend oder gar nicht vorhanden (20).

Corona ― Schockstrategie und „Chance“ für einen autoritären Zentralismus

Mit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie und den damit verbundenen Beschränkungen des öffentlichen Lebens habe die digitale Transformation der Gesellschaft nun aber ihren „Impulsgeber“ gefunden, wie Klaus Schwab und Thierry Malleret in ihrem Buch „Covid-19 : Der große Umbruch“ schreiben. Aus diesem Grund sehen sie in der Pandemie auch „einen grundlegenden Wendepunkt“ in der globalen Entwicklung. Jetzt endlich sei die Zeit für einen Paradigmenwechsel gekommen. Eine neue Welt mit einer neuen Normalität könne nunmehr in den nächsten Jahrzehnten entstehen (21).

Die Veranstalter des Weltwirtschaftsforums sehen in der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Krise die seltene Chance zur Durchführung eines „Großen Neustarts“ der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Es geht ihnen dabei um einen fundamentalen Umbruch der gesamten bisherigen Wirtschafts- und Lebensweise, um die weltweite Umsetzung tiefgreifender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen. Bei den angestrebten Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer technokratischen Vision setzen sie auf einen verstärkten Zentralismus mit stark autoritären Zügen. Innerhalb eines globalen ordnungspolitischen Rahmens (Global Governance) werde es nötig, „dass sich ›ermächtigte‹ Akteure als Teile eines weitverzweigten Machtsystems verstehen, das nur mit kooperativeren Formen der Interaktion erfolgreich sein kann“ (22).

Mit Blick auf die durch die Pandemie ausgelöste weltweite Krise äußern Schwab und Malleret ihre Überzeugung, dass gerade tiefe, existenzielle Krisen „das Potenzial für einen Wandel“ in sich bergen.

Im Ausmaß ihrer transformativen Kraft sei die Corona-Pandemie sogar mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar, denn „beide haben das Potenzial einer transformativen Krise von bisher unvorstellbaren Dimensionen“. Wie schon der Zweite Weltkrieg eine „grundlegende Veränderung der Weltordnung und der Weltwirtschaft“ auslöste, so wäre auch heute wieder „die Zeit für einen Paradigmenwechsel gekommen“ (23). Die Pandemie beschleunige diesen Wechsel, indem sie als Katalysator für die schon vor der Krise eingeleiteten technologischen Veränderungen wirke (24).



Quellen und Anmerkungen:

(1) Klaus Schwab, Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, Seite 9.
(2) Klaus Schwab, Die Zukunft der Vierten Industriellen Revolution. Wie wir den digitalen Wandel gemeinsam gestalten, München 2019, Seite 21 folgende.
(3) Klaus Schwab, Davos 2016. Die Vierte Industrielle Revolution. In : Handelsblatt, 20. Januar 2016.
(4) Klaus Schwab, Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, Seite 149.
(5) Klaus Schwab, 2019, am angegebenen Ort, Seite 113.
(6) Ebenda, Seite 252.
(7) Ebenda, Seite 247 folgende, Seite 250.
(8) Ebenda, Seite 250.
(9) Ebenda, Seite 242 folgende.
(10) Ebenda, Seite 227.
(11) Klaus Schwab : Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, Seite 41  folgende, Seite 225.
(12) Klaus Schwab, 2019, am angegebenen Ort, Seite 237.
(13) Klaus Schwab : Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, Seite 38, Seite 41.
(14) Ebenda, Seite 227.
(15) Klaus Schwab, 2019, am angegebenen Ort, Seite 125.
(16) World Economic Forum : Shaping the Future of the Internet of Bodies : New challenges of technology governance. Briefing Paper, July 2020 ; http://www3.weforum.org/docs/WEF_IoB_briefing_paper_2020.pdf; World Economic Forum : The Internet of Bodies is here. This is how it could change our lives, 4 jun 2020. https://www.weforum.org/agenda/2020/06/internet-of-bodies-covid19-recovery-governance-health-data/
(17) Klaus Schwab, 2019, am angegebenen Ort, Seite 252.
(18) Klaus Schwab : Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, Seite 145 folgende.
(19) Ebenda, Seite 122.
(20) Ebenda, Seite 20.
(21) Klaus Schwab/Thierry Malleret : Covid-19 : Der große Umbruch, Genf 2020, Seite 11 folgende, Seite 12.
(22) Schwab, Klaus : Die Vierte Industrielle Revolution, München 2016, Seite 46.
(23) Klaus Schwab/Thierry Malleret, am angegebenen Ort, Seite 18.
(24) Ebenda, Seite 178.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.