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Der neue Antisemitismus

Der neue Antisemitismus

Israel- und Zionismus-Kritik werden als neuer Antisemitismus definiert.

Das Thema Antisemitismus ist politisch zu ernst, als das man es der zionistischen Lobby und deren Helfershelfern (Sayanim) überlassen sollte (1) . Einige Vertreter dieser Lobby verfahren nach dem Motto: „Wer Antisemit ist, bestimme ich.“

Antisemitismus ist das Vorurteil oder der Hass auf Juden wegen ihres Jude-seins. Da diese „primäre“, plumpe Form heutzutage weltweit geächtet ist, haben die diversen israelischen Regierungen und die mit ihr aufs engste kooperierende Israellobby Surrogate in Form neuer Spielarten oder Elementen des Antisemitismus ausgemacht. Zum Beispiel den sekundären Antisemitismus, der sich aus dem Schamgefühl und der Verdrängung über die Verbrechen am europäischen Judentum speist. Überspitzt und zynisch könnte man formulieren, dass es sich dabei um Judenhass nicht trotz, sondern wegen Ausschwitz handelt. Einige rechtslastige Israel-Unterstützer sprechen sogar schon vom „tertiärem“ Antisemitismus und meinen damit den „Hass auf Israel“. Für sie gilt bereits der Antizionismus als „sekundärer Antisemitismus“.

Das Meisterstück dieser Manipulation wurde mit einer so genannten Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ erreicht. Dieser Beitrag ist deshalb so erschütternd, weil Arte und der WDR sich dem Druck der zionistischen Lobby beugen und diesen Propagandastreifen, der von der israelischen Hasbara nicht perfekter hätte produziert werden können, trotz schwerwiegender Bedenken und zahlreicher journalistischer Mängel, doch noch ausstrahlen mussten. WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn gab in seinem „Verhör“ mit Michael Wolffsohn zu, dass eine monatelange Kampagne dieser erzwungenen Ausstrahlung vorausgegangen war.

Im Folgenden soll untersucht werden, ob es bei der Kritik an der Politik der israelischen Regierungen und der Kritik am Zionismus, der Ideologie des Staates Israel sowie bei Befürwortern der BDS-Bewegung um „Antisemitismus“ respektive „Antisemiten“ handelt. Oder geht es nicht primär darum, jegliche Kritik an der menschenverachtenden Politik der israelischen Regierung gegenüber dem palästinensischen Volk als „Antisemitismus“ zu brandmarken, um Israel politisch zu immunisieren, die Kritiker zu stigmatisieren und mundtot zu machen, damit die Kolonisierung des Landes Palästina weiter ungestört fortgesetzt werden kann?

Israel: Ein Staat wie jeder andere?

Der Zionismus ist mit dem politischen Anspruch angetreten, einen „Judenstaat“ zu schaffen, in dem die Juden gleichberechtigt wie jedes andere Volk in der Völkerfamilie leben können. Die einzigartige Ausnahmesituation der Juden in der Welt sollte beendet werden, was jedoch nicht gelungen ist. Aufgrund der Kolonisierung Palästinas und der damit einhergehenden Entrechtung und Unterdrückung des Palästinensischen Volkes, isoliert sich Israel in der internationalen Staatengemeinschaft zusehends. Die Trump-Administration unternimmt gerade alles, um Israel mit Brachialgewalt aus der Isolation herauszuführen.

Diverse israelische Regierungen behaupteten, sein „Existenzrecht“ würde in Frage gestellt werden. Dieses „Existenzrecht“, das es im Völkerrecht gar nicht gibt, wurde zu einem Ausnahmerecht exklusive für Israel umgedeutet. Seither gelten für Israel andere Maßstäbe, die immer wieder eingefordert werden. Hinzu kommt, dass es keinen anderen Staat auf der Welt gibt, der sich mit so vielen Mythen und Tabus umgeben hat wie Israel. Der größte Mythos scheint die biblische Legende vom verheißenen Land zu, dass Gott angeblich Abraham versprochen hat. Schon Abraham ist eine mythische Figur, eine Legende. Keiner war ein besser Mythen-Erfinder als David Ben-Gurion, Israels erster Ministerpräsident. John Rose nennt ihn den größten Mythenerschaffer („Mythmaker“ ) (2).

Ben-Gurion hatte seine eigene Sichtweise, wie man mit Mythen umgehen sollte, damit sie zu Wahrheit werden. So behauptete er, dass ein starker Glaube an den Mythos ihn in Wahrheit verwandeln würde oder zumindest so gut wie Wahrheit sei. Sein enger Berater, der israelische Schriftsteller Yizhar Smilansky (S. Yishar) behauptete sogar: „Ein Mythos ist nicht weniger wahr als Geschichte, er ist jedoch eine zusätzliche Wahrheit, eine andere Wahrheit, eine Wahrheit, die neben der Wahrheit besteht; eine nicht objektive menschliche Wahrheit, und doch eine Wahrheit, die zur historischen Wahrheit wird.“ Die Bücher von Simcha Flapan (3) und Shlomo Sand (4) zeigen, wie mythenumwoben nicht nur die Gründung, sondern die komplette Geschichte Israels und des jüdischen Volkes sind.

Eine nicht zu leugnende Tatsache ist, dass Israel seit mehr als 50 Jahren das für einen Palästinenserstaat bestimmte Gebiet besetzt hält. Durch einen über Jahre hinweg geplanten Angriffskrieg im Juni 1967 hat Israel Territorien erobert, die größer waren als das eigentliche Kernland. Luftwaffengeneral Mordechai Hod bestätigt die These, dass es sich um einen lange geplanten Angriffskrieg gehandelt hat: „Sechzehn Jahre Planung gingen in diese entscheidenden achtzig Minuten ein. Wir lebten mit dem Plan, wir überschliefen den Plan, wir verzehrten den Plan. Ständig haben wir ihn perfektioniert (5).“

Seit dieser Zeit hat Israel alle Bestimmungen des Völkerrechts sowie die humanitären Bestimmungen der Vierten Genfer Konvention permanent verletzt – und dies mit stillschweigender Billigung seiner westlichen Protektoren. In diesen von Israel widerrechtlich besetzten Gebieten werden die Menschen tagaus, tagein gedemütigt und unterdrückt, ja als Menschen dritter Klasse behandelt. Obgleich dies alles bekannt ist, werden die Beziehungen zwischen dem israelischen Staat und der Europäischen Union (EU) immer enger. Erstaunlich ist, dass Israel trotz gravierender Verstöße gegen den Assoziierungsvertrag alle Vorteile weiter genießen darf. Israel befindet sich quasi im Status eines de facto-Mitgliedslandes. Diese privilegierte Stellung sollte solange ausgesetzt werden, solange Israel nicht sein Besatzungsregime in Palästina beendet.

Der Assoziierungsvertrag ist hier eindeutig, aber die EU scheint sich selbst daran nicht zu halten. Dort heißt es über den Ausbau der bilateralen Beziehungen: „(...) die Anhebung sollte auf die gemeinsamen Werte beider Parteien – im Besonderen auf Demokratie, Anerkennung der Menschenrechte, der Gültigkeit der Rechtsregeln und fundamentalen Freiheiten sowie auf anständigen Regierungsmethoden und internationale humanitäre Gesetze – gegründet sein (6).“
Die Vertreter der zionistischen Israellobby behaupten immer wieder, die Kritiker der israelischen Regierungspolitik würden unterschiedliche Maßstäbe an Israel einerseits und alle anderen Staaten andererseits anlegen. Dagegen sind sie es, die Israels besondere Stellung, das angeblich bedrohte Existenzrecht, die Geschichte, „der Jude unter den Staaten“ (Paria-Staat) et cetera hervorheben, um damit das Land als etwas Besonderes darzustellen. Diese doppelten Standards werden besonders von den USA, aber auch von Deutschland praktiziert. Kanzlerin Angela Merkel hat das so genannte Existenzecht Israels zur deutschen „Staatsräson“ erklärt.

Begriffsunterscheidungen

Früher war ein Antisemit jemand, der Juden nicht mochte. Heute ist ein Antisemit jemand, den manche Juden nicht mögen. Aufgrund der militärischen und politischen Macht seit der Staatsgründung Israels im Mai 1948 können einige exponierte Zionisten behaupten: „Wer Antisemit ist, bestimmen wir.“ Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Kritiker des israelischen Besatzungsregimes Jude oder Nicht-Jude ist. Beide Gruppen werden verleumdet und des „Antisemitismus“ oder des „jüdischen Selbsthasses“ bezichtigt. Die an Israels Politik geübte Kritik wird als „antisemitisch“ bezeichnet, Kritik am Zionismus ebenfalls. Ein Antizionist, der diese Ideologie kritisiert, ist selbstredend auch ein „Antisemit“. Die israelische Regierung und die diversen Israellobbies in den USA und den EU-Staaten haben zur Inflationierung und damit zur Entwertung des Begriffs „Antisemitismus“ maßgeblich beigetragen, indem sie wahllos jeden Kritiker Israels mit dieser Verleumdung überziehen. Eine exakte Begriffsbestimmung zeigt, was Realität und was Propaganda ist.

Judentum und Zionismus

Das Judentum als eine der drei großen, monotheistischen Religionen ist überaus vielschichtig wie die anderen Religionen auch. Ebenso vielschichtig wie das Judentum war zumindest zu Beginn seiner Entstehung auch der Zionismus. Die Herkunft zum Beispiel aus Osteuropa oder Westeuropa stellte eine wichtige Zäsur dar. Dagegen ist der heute real-existierende, politische Zionismus geradezu monolithisch. Sein zentrales, politisches Ziel ist, eine möglichst große Fläche Palästinas mit so wenig Palästinensern wie möglich unter seine Herrschaft zu bringen. Solange nicht das ganze Palästina ohne die palästinensische Bevölkerung unter der Kontrolle Israel ist, scheint ein Friede illusorisch zu sein. In seiner Gründungsphase war der Zionismus noch mit idealistischen Elementen durchsetzt. Heute dagegen verkörpert Israel die politische Realisierung der ethnozentrischen, zionistischen Ideologie par excellence.

Antizionismus gleich Antisemitismus?

Fanatische Zionisten halten Antizionisten für ausgemachte „Antisemiten“, weil sie die Taten des Staates Israel kritisieren. Nicht alle Juden sind Zionisten wie die ultraorthodoxe, jüdische Gruppe „Naturei Karta“, die vehement antizionistisch ist. Seit 2008 existiert das „International Jewish Anti-Zionist Network“. Darüber hinaus gibt es in fast allen europäischen Ländern, den USA und Kanada „Jewish Voices for Peace"-Gruppen. Zusammen mit Millionen von Antizionisten kritisieren sie die brutale Besatzungspolitik, die Unterdrückung und die Verletzung der Menschenrechte der Palästinenser und verlangen ein Ende der Besatzung. Diese Ziele will auch die BDS-Bewegung erreichen, die von der zionistischen Israellobby in Verbindung mit einigen Regierungen auf das Schärfste verleumdet und als „antisemitisch“ gebrandmarkt wird, obgleich zigtausende jüdischer Bürger diese Bewegung unterstützen (7).

Zionismus und Antisemitismus

Zionismus und Antisemitismus müssten eigentlich die größten Feinde sein. Das Paradoxe jedoch ist, dass es ohne den Antisemitismus keinen Zionismus gäbe. Beide Rassismen bilden die zwei Seiten einer Medaille. So schrieb bereits Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, dass „die Antisemiten unsere Verbündeten und Freunde“ sein werden. Eine intensive Zusammenarbeit gab es zwischen den Nationalsozialisten und den Zionisten (8).

Die „Zionistische Vereinigung für Deutschland“ hat sich in einem Schreiben vom 21. Juni 1933 den Nazis regelrecht angebiedert.

„Der Zionismus glaubt, dass eine Wiedergeburt des Volkslebens, wie sie im deutschen Leben durch Bindung an die christlichen und nationalen Werte erfolgt, auch in der jüdischen Volksgruppe vor sich gehen müsse. Auch für den Juden müssen Abstammung, Religion, Schicksalsgemeinschaft und Artbewusstsein von entscheidender Bedeutung sein (...). Unser Bekenntnis zum jüdischen Volkstum stellt ein reines und aufrichtiges Verhältnis zum deutschen Volk und seinen nationalen und blutmäßigen Gegebenheiten her. Gerade weil wir diese Grundlage nicht zu verfälschen wünschen, weil auch wir gegen Mischehen und für Reinhaltung der jüdischen Art sind und Grenzüberschreitungen auf kulturellem Gebiet ablehnen, können wir in deutscher Sprache und Kultur erzogen, mit Bewunderung und innerer Anteilnehme an den Werken und Werten deutscher Kultur teilnehmen“ (9).

Wie die Geschichte zeigt, können die schlimmsten Antisemiten wie die Nazis in Deutschland sehr wohl pro-zionistisch sein.

Noch einen Schritt weiter ging der Chef der Terrororganisation Lehi, Avram Stern, in einem Schreiben vom 11. Januar 1941:

„Die nationale Militärorganisation (Irgun Zvei Leumi) ist sich des Wohlwollens der Deutschen Reichsregierung gegenüber zionistischer Aktivität in Deutschland und gegenüber zionistischen Emigrationsplänen wohl bewusst. Sie ist der Meinung, dass gemeinschaftliche Interessen zwischen der Errichtung einer Neuen Ordnung in Europa im Einklang mit den deutschen Plänen und den wahren nationalen Aspirationen des jüdischen Volkes, so wie sie von der Nationalen Militärorganisation (NMO) vertreten werden, bestehen könnten. (...) die NMO in Palästina bietet an, unter der Bedingung, dass die israelische Freiheitsbewegung von Seiten der Reichsregierung anerkannt wird, aktiv am heutigen Krieg an der Seite Deutschlands teilzunehmen“ (10).

Die fanatischste und größte Gruppe von Zionisten sind jedoch die christlichen Fundamentalisten in den USA und in anderen Ländern. In Deutschland gibt es ein Heer von Philosemiten, die eigentlich verkappte Antisemiten sind, die Juden besonders lieben. Kein geringer als Daniel Jonah Goldhagen hat in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ diese Philosemiten als typische Antisemiten bezeichnet, und zwar „im Schafspelz“ (sheep's clothing).

In seinem Essay „Counterfeit Courage“, der in „The Politics of Anti-Semitism“ erschienen ist, beschreibt Norman Finkelstein die Rolle Deutschlands, die es eigentlich spielen sollte:

„Heute besteht die Herausforderung für Deutschland darin, die Erinnerung an den Nazi-Holocaust zu verteidigen und seinen Missbrauch durch amerikanische, jüdische Eliten zu verurteilen; die Juden vor der Tücke zu verteidigen und ihre überwältigende blinde Unterstützung für die brutale Besetzung Israels zu verurteilen, aber dies erfordert echten moralischen Mut – nicht die opernhafte Art, die die politisch korrekten Deutschen so lieben“ (11).

Finkelstein weist der deutschen politischen Klasse einen honorigen Weg aus ihrem Dilemma zwischen Holocaust-Gedenken und Kritiklosigkeit gegenüber Israel, wenn er schreibt: Die moralische Herausforderung für Deutschland bestehe darin, seiner Verantwortung gerecht zu werden, die ihnen aus den Verbrechen des „Dritten Reiches“ gegen das jüdische Volk erwächst, andererseits aber nicht zuzulassen, das ihnen aufgrund des schrecklichen Vermächtnisses das Recht auf Anprangerung von aktuellen Verbrechen abgesprochen wird, nur weil sie von einem Staat begangen werden, der sich selbst als jüdisch definiert (12).

Auf der Suche nach einer neuen jüdischen Identität bedient sich der Zionismus selber antisemitischer Vorurteile und zwar in seiner Verachtung für die Diaspora. „Die radikale Verächtlichmachung des Diasporischen, die sich im hebräischen Substantiv gola und dem von diesem abgeleiteten Adjektiv galuti verdichtet findet, zeitigte nicht nur eine selbstherrliche Verdinglichung alles Israelischen, sondern auch die ideologische Perpetuierung einer Mischung aus Abscheu vorm Diasporischen und dem Schrecken vor einer absehbaren ‚nächsten Shoah‘„(13). Wo die Verteufelung der Diaspora nicht verfing, wie zum Beispiel in den USA, bediente sich der Zionismus der Stigmatisierung der Assimilation, die man als ein großes Unglück angesehen und die man als bedrohlich für die Existenz Israels eingestuft hat. Ob diese negative Identitätsbestimmung langfristig ausreichen wird, bezweifeln Israelis wie Abraham Burg (14).

Könnte es nicht sein, dass Israel mit seiner brutalen Unterdrückung des Palästinensischen Volkes immer wieder die Weltöffentlichkeit zu Reaktionen provozieren will, die Anlass geben, eine so genannte Antisemitismus-Debatte zu initiieren, falls einige Kritiker über das Ziel hinausschießen? Dass sich das Image Israels dadurch nicht verbessert, scheinen die zionistischen Strategen in Kauf zu nehmen. Ihre „Erfolge“ im Westen scheinen ihnen Recht zu geben.

Antizionismus und Antisemitismus

Eine besondere Variante des „neuen“ Antisemitismus ist nach Meinung der Israellobby der Antizionismus. Der Zionismus ist eine Idee, also eine Art politischer Philosophie. Warum soll Kritik an einer politischen Philosophie „antisemitisch“ sein? Nur, weil sie die Staatsräson Israels bildet? Jede politische Theorie muss sich der Kritik stellen.

Die zionistischen Kritiker der Antizionisten unterstellen ihnen, dass ihre Kritik an der Regierungspolitik Israels nicht der wirkliche Grund für ihre Kritik sei, sondern es sei vielmehr ein verdeckter „Hass auf die Juden“ und ein „Hass auf Israel“, wie dies Omer Bartov in seinem Essay „Der alte und der neue Antisemitismus“ tut (15).

Dieser Behauptung widerspricht Tony Judt, indem er darauf hinweist, dass Bartov die Kausalität umdrehe. Es sei die Politik der israelischen Regierung, die weitverbreitete „antijüdische Gefühle in Europa und anderswo hervorgerufen hat“. Zionisten haben immer darauf bestanden, dass es keinen Unterschied zwischen dem jüdischen Volk und dem jüdischen Staat gebe. Dagegen sei „Israel nicht der Staat aller seiner Bürger und noch weniger aller seiner Einwohner: Es ist der Staat der (beziehungsweise aller) Juden. Israels politische Führung gibt vor, für Juden überall zu sprechen. Sie kann also kaum überrascht sein, wenn ihr Verhalten eine Rückwirkung provoziert – und zwar gegen Juden (16).“ So habe Israel selbst erheblich zum Wiederaufleben des Antisemitismus beigetragen, so Judt.

Es mag zwar sein, so Judt, dass einige der härtesten Kritiker Israels „antisemitische Neigungen erkennen lassen“, was den Antizionismus ipso facto noch nicht zum Antisemitismus mache.

„Israel spricht nicht für alle Juden, aber Israels Anspruch, für Juden überall zu sprechen, ist der Hauptgrund dafür, dass antiisraelische Stimmungen in Judenfeindschaft umschlagen. Juden und andere müssen lernen, Hemmschwellen zu überwinden und Israels Politik und Handlungen zu kritisieren, so wie sie es bei allen anderen Staaten auch tun“ (17).

Judt beendet seinen Essay mit einem Vergleich zweier Aussagen, die den schmalen Grad zwischen faktischer Kritik an Israels Politik und Antisemitismus deutlich macht:

„Zu sagen, dass Israel und seine Lobbyisten einen übermächtigen und verhängnisvollen Einfluss auf die Politik der Supermacht haben, ist eine faktische Aussage. Doch wenn man sagt, dass ‚die Juden‘ Amerika kontrollieren, um ihre Ziele zu erreichen, begibt man sich auf das Feld des Antisemitismus“ (18).

Der 3-D-Test für „Antisemitismus"

Nachdem es immer schwieriger geworden ist, Antisemitismus in der Gesellschaft aufzuspüren, hat Nathan Scharansky, ein ehemaliger sowjetischer Dissident und späterer israelischer Minister, einen „Test“ entwickelt, durch den man angeblich „Antisemiten“ auf die Spur kommen kann.
Die 3 Ds stehen für Dämonisierung und Delegitimierung Israels sowie das Anlegen von doppelten Standards in Bezug auf Kritik an der Politik der israelischen Regierung. Es gibt keine seriösen Kritiker der israelischen Regierungspolitik, die gegen diese willkürlich aufgestellten Kriterien verstoßen hätten.

Im Gegenteil: Die Politik der israelischen Regierung trägt zur Selbst-Delegitimierung des Landes bei, indem sie willkürlich besetztes palästinensisches Land kolonisiert, das Völkerrecht und die Menschenrechte der Palästinenser mit Füßen tritt und bis heute nicht sagen kann, wo die Grenzen Israels eigentlich verlaufen. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery hat in seinem Beitrag in der Tageszeitung „Junge Welt“ vom 10. August 2010 den Delegitimierern Israels Namen gegeben. Es seien dies der Außen-, der Verteidigungs- und der Innenminister des Landes.

Was den Vorwurf der doppelten Standards betrifft, den die Kritiker der israelischen Regierungspolitik angeblich an Israel anlegen würden, verhält es sich genau umgekehrt, wie von den Israellobbyisten immer behauptet. Aktuell zeigen sich die doppelten Standards der „Freunde“ Israels bei der Präsentation einer Landkarte des Rappers Bushido, auf der Israel nicht zu sehen ist. Dies sei eine Infragestellung der Existenz Israels! Dagegen regt sich keiner dieser Kritiker auf, wenn auf allen offiziellen Landkarten Israels und den Straßenkarten Palästina nicht eingezeichnet ist, das heißt, inexistent ist.

Die Israelkritiker dagegen verlangen, dass endlich die westlichen Regierungen die gleichen Standards an Israel anlegen, wie sie dies bei Verstößen gegen Völkerrecht und Menschenrechte anderer Länder auch tun. Dies geschieht jedoch nicht. Im Gegenteil: Über die menschenverachtende Politik der diversen israelischen Regierung wird hinweggesehen beziehungsweise wird im UN-Sicherheitsrat das Veto eingesetzt respektive als Drohung gebraucht, wenn den USA selbst die harmloseste Resolution noch zu kritisch erscheint.

Die 3-D-Formel taugt nichts zur Feststellung von „Antisemitismus“. Sie ist ein weiteres Werkzeug der zionistischen Propaganda, um Israel gegen Kritik zu immunisieren.

Die „intellektuellen“ Grundlagen der politischen „Vernichtung“ von „Israelkritikern"

Kritiker der israelischen Regierungspolitik hatten seit der Regierungsübernahme durch Ariel Sharon im Februar 2001, aber spätestens seit der rechtsnationalistischen Regierung unter Benyamin Netanyahu und seinem rechtsextremen Verteidigungsminister Avigdor Lieberman keinen leichten Stand mehr. Kritiker dieser brutalen Kolonisierungs- und Unterdrückungspolitik geraten nicht nur in den USA, sondern auch in den Ländern Westeuropas – insbesondere in Deutschland, in dem es eine lange Tradition der Denunziation Andersdenkender gibt – ins Fadenkreuz von extremistischen, rechtszionistischen Lobbygruppen und ihren philosemitischen Parteigängern. Gegen solche Personen gehen sie nicht nur mit den Mitteln der Diffamierung, Denunziation, Lüge, der Verdrehung von Tatsachen und massivem Mobbing vor, sondern schrecken selbst vor der beruflichen Vernichtung der Kritiker nicht zurück.

In Deutschland, Österreich und anderen Ländern Westeuropas, von den USA gar nicht zu reden, erscheint es fast unmöglich, Veranstaltungen oder Vorträge zu organisieren, die sich kritisch oder nur realistisch mit der desaströsen Lage in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten befassen. Dass es sich bei diesen Protesten von zionistischen Lobbyisten um „spontane“ Aktionen handelt, ist eine Legende. Dahinter steckt eine von Regierungsseite geplante und mit aller Macht durchgesetzte Strategie.

Strategische Vorarbeiten zu dieser von Staatswegen organisierten Delegitimierung von berechtigter, demokratischer Kritik wurden schon auf der „Internationalen Konferenz des Global Forum for Combating Antisemitism“ am 16. und 17. Dezember 2009 in Jerusalem geleistet. Auf dieser Konferenz wurde der Kampf gegen die „Delegitimierung“ und „Dämonisierung“ Israels als die „entscheidenden Themen unserer Zeit“ bezeichnet.

“We need to point out how BDS crosses the line from legitimate criticism to historically-laden, anti-Semitic messaging .” In ihrem Bericht erscheint eine solche Auseinandersetzung mit der BDS-Kampagne als „Krieg“. Ihre kriegerische Phraseologie klingt wie folgt: „Feind“, „Kommandozentrum“, „Kampf“, „Schlacht“ oder „Schlachtfeld“. Als Ergebnis wurde ein Strategiepapier gleichen Namens veröffentlichte. Dieser Aktionsplan ist auf fünf Jahre hin ausgelegt. Eine zentrale Rolle in diesem Plan kommt dem israelischen Außenministerium zu, das helfen soll, „to centralize the fight against BDS and delegitimization, coordinate responses to what is a coordinated attack, share information, take a moral stand against the human rights hypocrites, engage diplomats in a fight for Israel’s basic rights, and train Israeli diplomats about the BDS movement ”. Dieses Strategiepapier bedient sich einer offensiven und aggressiven Sprache.

Welche Wichtigkeit diese Herausforderung für Israel besitzt, zeigt ein weiteres Strategiepapier, das vom Reut-Institut (Re´ut=Freundschaft) auf der jährlichen Konferenz in Herzlyia 2010 präsentiert worden ist. Das 92-seitige Dokument trägt den Titel: „Building a Political Firewall Against Israel´s Delegitimization (Aufbau einer politischen Firewall gegen Israels Delegitimierung) “ Daneben gibt es eine 31 Punkte umfassende Zusammenfassung. Nach Ansicht des Reut-Instituts stellten die Kritiker Israels eine ernste Gefahr für die Existenz Israels dar. Die Verfasser dieser antidemokratischen Richtlinie schrecken nicht davor zurück, der Regierung zu empfehlen, Menschrechtsaktivisten zu attackieren und zu unterdrücken. Der Bericht trifft aber eine Unterscheidung zwischen denjenigen, die Israel „kritisieren“ und anderen, die es angeblich „delegitimieren“ (19).

Israels Unterdrückungspolitik und das Ende der Meinungsfreiheit

Eine Auflistung aller Veranstaltungen und Diffamierungen von Konferenz-Veranstaltern und Persönlichkeiten des öffentlichen, wissenschaftlichen, journalistischen und künstlerischen Lebens würde zu weit führen. Eine Sammlung von inszenierten Antisemitismus-Skandalen, die keine Vollständigkeit beansprucht, hat das Palästina-Portal zusammengestellt (20).

Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, tut sich ebenfalls schwer, Antisemitismus zu definieren. Er sagt: „Antisemitismus genau zu beschreiben, das konnte ich noch nie. Ich konnte nur sagen, wer kein Antisemit ist.“ Auch den Antisemitismus sieht der Botschafter im Niedergang. „Der Antisemitismus schrumpft regelmäßig seit dem Zweiten Weltkrieg. Er schrumpft überall, in Deutschland wie anderswo, genauso wie in Amerika“ (21).

Trotz dieser Entwarnung erzeugt die zionistische Israellobby geradezu eine „Antisemitismus-Hysterie“ und instrumentalisiert diese, um Veranstalter unter massiven Druck zu setzen, keine Räumlichkeiten an Gruppen zu vermieten, die israelische Referenten eingeladen haben, wenn diese angeblichen „Antisemiten“ Israel „delegitimieren“ und sein „Existenzrecht“ bestreiten würden. Zuletzt geschehen in Frankfurt am Main, wo der Deutsche Koordinationskreis Palästina Israel (KoPi) eine Veranstaltung anlässlich des 50. Jahrestages der israelischen Besetzung Palästinas abhalten wollte (22). Aufgrund massiven Drucks seitens der Israellobby im Verein mit dem CDU-Bürgermeister Uwe Becker kündigte der Betreiber der Einrichtung den Mietvertrag. Nur durch einen Gerichtsbeschluss war es möglich, die Veranstaltung abzuhalten.

Ähnliche Vorgänge gibt es auch in Österreich. So sollte der südafrikanische Professor Farid Esack am 30 Juni im Rahmen einer BDS-Veranstaltung einen Vortrag über Unterschiede und Ähnlichkeiten der Situation im ehemaligen rassistischen Südafrika und Israel halten. Kurz nach Bekanntgabe des Veranstaltungsortes hat das Arcotel Wimberger den Vertrag über die zugesagten Räumlichkeiten gekündigt.

Als im Frühjahr 2017 eine palästinensische Rechtsanwältin einen Vortrag halten wollte, wurde die Hotelleitung nach Bekanntgabe des Veranstaltungsortes unter Druck gesetzt und zur Stornierung des Vertrags gedrängt. Den Gegnern eines Diskurses über die israelische Besatzung und Apartheidpolitik gelang es damit zum wiederholten Male (Amerlinghaus 2016, WUK und Arcotel Kaiserwasser 2017), Diskussionsveranstaltungen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen (23). Dieses Mobbing seitens der zionistischen Israellobby zeigt, wie schlecht es um die Meinungsfreiheit auch in Österreich bestellt ist.

Der Verleger und Publizist Abi Melzer schreibt in „Der Semit“, dass sich in den letzten Jahren in Deutschland vorherrschende Diskurs über den Antisemitismus von seinem Gegenstand, dem realen Antisemitismus, gelöst habe. „Die tatsächlich herrschende Thematik dreht sich um den antisemitischen Charakter von Antizionismus oder vielmehr um bestimmte Formen der Kritik an der Politik des Staates Israel, die an sich noch nicht einmal antizionistisch sein muss. (...) Das Anti-Antisemitismus-Geschrei floriert im heutigen Deutschland mehr denn je und es wird hauptsächlich von jüdischen Journalisten und Intellektuellen geführt“ (24).

Sollte sich die liberale Zivilgesellschaft nicht gegen diese die Meinungsfreiheit bedrohende Tendenz seitens der zionistischen Israellobby mit allen Mitteln zur Wehr setzen, könnte es bald um die Meinungsfreiheit geschehen sein.


Quellen und Anmerkungen:

(1) http://der-semit.de/die-sayanim-schattenkrieger-des-mossad/
(2) http://between-the-lines-ludwig-watzal.blogspot.de/2010/02/mythen-des-zionismus-myth-of-zionisms.html
(3) http://der-semit.de/die-geburt-israels/
(4) http://between-the-lines-ludwig-watzal.blogspot.de/2009/08/invention-of-jewish-people.html
(5) http://www.watzal.com/f_fdf.html. Kapitel 1, S. 35. Dort finden sich unzählige Zitate israelischer Politikers und Militärs, die belegen, dass Israel mit Wissen und Zustimmung der USA diesen Angriffskrieg bewusst vom Zaune gebrochen hat.
(6) Vgl. dazu David Cronin, Europe' Alliance with Israel. Aiding the Occupation. http://mwcnews.net/index.php?option=com_content&view=article&id=10323&Itemid=125
(7) Vgl. Omar Barghouti, Boykott – Desinvestment – Sanktionen, Köln-Karlsruhe 2012.
(8) Vgl. Lenni Brenner, Zionismus und Faschismus, Berlin 2007.
(9) Zit. in: Hajo G. Mayer, Judentum, Zionismus, Antizionismus und Antisemitismus, Berlin 2009, S. 49 f.
(10) Ebd., S. 51 f.
(11) https://www.counterpunch.org/2002/11/25/counterfeit-courage-reflections-on-political-correctness-in-germany/. Vgl. auf The Politics of Anti-Semitism, (eds), Alexander Cocburn/Jeffrey St. Clair, Petrolia 2003, S. 83.
(12) Zit in: Moshe Zuckermann, „Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010, S. 160.
(13) M. Zuckermann, ebd., S. 15.
(14) http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14271
(15) Vgl. Omer Bartov, in: Neuer Antisemitismus?, hrsgg. von Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider, Frankfurt/Main 2004.
(16) Tony Judt, Zur Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antizionismus, in: ebd., S. 49.
(17) Ebd., S. 50.
(18) Ebd., S. 51.
(19) http://www.watzal.com/Israelkritiker_und_Israellobby.pdf; http://www.watzal.com/International410_Delegitimierer.pdf
(20) http://www.palaestina-portal.eu/texte/antisemitismus_instrumentalisierung.htm
(21) Avi Primor, zit. in: Arn Strohmeyer, Antisemitismus – Philosemitismus und der Palästina-Konflikt, Herne 2015, S. 23.
(22) https://www.kopi-online.de/wordpress/?p=3383
(23) Vgl. http://bds-info.at/mediale-repraesentation-oeffentlichkeit-und-ohn-macht-nachbetrachtungen-zur-israeli-apartheid-week-2017/
(24) http://der-semit.de/antisemiten-sind-mir-egal-antisemit-ist-wen-manche-juden-hassen/

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