Eine Corona-Diktatur auf Widerruf sei keine Lösung, sagte der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland neulich im Bundestag. Das könne man so nicht sagen, schrieben daraufhin einige Journalisten. Im ersten Moment fragt man sich allerdings schon, ob an jenem Diktaturvorwurf nicht vielleicht doch was dran sein könnte. Immerhin stand kurz mal die Unverletzlichkeit der Wohnung zur Disposition — und ein Ministerpräsident aus südlicheren Gefilden animierte zu Nachbarschaftshinweisen. So richtig demokratisch wirkt das freilich alles nicht.
Vielleicht ist der Ansatz von der Diktatur, den man nicht nur aus dem Lager der AfD vernimmt, aber auch einfach falsch — denn vielleicht ist das bloß die vollumfängliche Demokratie, die totale Fürsorge. Die Vollendung einer Herrschaftsform, die im Namen der Sorge bevormundet. Dieser Anspruch wäre tatsächlich noch viel schlimmer als eine plumpe Diktatur.
Mündiger Bürger oder Mündelbürger?
Demokratie beruht auf einer grundsätzlichen Annahme: Menschen sind mündige Wesen. Als solche nennt man sie Bürgerinnen und Bürger. Sie stellen den Souverän der gesamten Ordnung dar. Geschenkt natürlich, dass das ein theoretischer Ansatz ist. Unsere Demokratie hat sich schon lange vor Corona in die Hinterzimmer verabschiedet.
Als vor einigen Monaten Reichsbürger den Reichstag stürmten, mahnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dass dies einen „Angriff auf unsere Demokratie“ darstelle. Das war natürlich auch nur Theorie, denn die wirklichen Entscheidungen werden in den Hinterzimmern der Macht getroffen. Wer dort rein will, stürmt also lieber das Kanzleramt oder doch wenigstens das dem Reichstagsgebäude benachbarte Paul-Löbe-Haus.
Trotz dieser Entwicklung sollte man nicht verzagen und weiterhin dem theoretischen Ansatz folgen. Demzufolge ist der Bürgersouverän eben ein mündiger, ein erwachsener Mensch. Jemand, der souverän genug ist, Entscheidungen zu treffen, der selbstverantwortlich handelt — und der nicht zuletzt deswegen als strafmündig gilt. Ganz nach dem Prinzip, dass derjenige, der freie Handlungskompetenz hat, auch die Verantwortung für sein Handeln trägt.
Das Mündel hingegen ist das Gegenteil der Mündigkeit. Über ein Mündel verfügt man mittels einer Vormundschaft. Es handelt sich dabei also um eine unmündige Person. Diese ist daher nicht selbstverantwortlich und nicht souverän. Der Mündelbürger ist nicht im demokratischen Prozess vorgesehen. Dennoch rückt er in diesen Tagen ins Zentrum des Geschehens. Unter dem Label des Lebensschutzes entmündigt die politische Kaste dieses Landes den Souverän.
Lebensschutz oder Schutz der Getrieberädchen
Das geschieht unter dem Hinweis der Bundeskanzlerin, sie und die gesamte Bundesregierung hätten schließlich einen Amtseid geschworen, Schaden vom Volke abzuwenden. Gewissermaßen ließe sich daran die dringende Notwendigkeit eines strikten Lebensschutzes ableiten. Was aber dieser eidesstattliche Schaden sein soll, ist gar nicht genauer dokumentiert.
Oder ja eigentlich doch: Er ergibt sich aus den grundgesetzlichen Vorgaben. Und dort ist die oberste Direktive die Würde des Menschen. Sie ist unantastbar. Das menschliche Leben ist nur ein Teilaspekt des Würdebegriffes. Mit hineinspielen aber auch Mündigkeit und Selbstbestimmtheit, das Recht, sich selbst zu schädigen, oder eben auch, wie man würdig seinen Sterbeprozess gestalten möchte.
Wolfgang Schäuble hat relativ früh innerhalb dieser Coronakrise auf diesen Umstand hingewiesen. Der totale Lebensschutz habe keinen Verfassungsrang. Hier wird das Grundgesetz, als Basis des Amtseides, eindimensional interpretiert. Ein Alltag, in dem sich alles einem einzigen Ziel unterzuordnen hat, eben dem Erhalt des Lebens um jeden Preis, kann gar nicht demokratisch gestaltet werden. Dieser Alltag mausert sich zwangsläufig in ein diktatorisches Zerrbild. Zumal dann, wenn dieselbe Bundeskanzlerin, die auf ihren Eid verweist, die Parlamente in keiner Weise an ihren krisenpolitischen Maßnahmen beteiligt.
Der Lebensschutz ist aber nebenbei ohnehin als Etikettenschwindel zu begreifen. Um was es eigentlich geht: Um den Erhalt der Getrieberädchen des Staatsapparates, um Machterhalt und „Weiter so“, so gut es eben geht. Dass wir funktionstüchtig bleiben: Nicht als lebender Mensch, sondern eben als funktionierender Bürger, Konsument, Steuerzahler und Arbeitskraft — darum geht es eigentlich. Das klingt nur nicht so schön. Daher empfiehlt es sich freilich, für die Öffentlichkeit als jemand aufzutreten, der es gut mit einem meint.
Wenn es mal wieder jemand besonders gut mit einem meint
Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht — es ist gut gemeint. Das ist eine Binsenweisheit. Es ist erstaunlich, wie oft man im Alltag beobachten kann, dass diese Einschätzung durchaus stimmt. Die Überfürsorge der Schwiegermutter zum Beispiel: Die dürfte so gut wie nie aus Hass oder Abneigung entstehen. Die Glucke meint es doch nur gut, sie bietet sich bei jeder Gelegenheit an, kommt täglich kurz vorbei — und dass sie unaufgefordert die Betten von Tochter und Schwiegersohn gemacht hat: Das geschah doch nicht in böser Absicht.
Kaum einer käme auf die Idee, die betagte Helikoptermutti als Diktatorin zu bezeichnen. Die arme Frau, sie meint es doch nur gut. Aber wer es richtig schlecht mit einem meint, der meint es zuweilen gut mit ihm. Insofern muss man die Diktatur gar nicht begrifflich bemühen, um das politische Dilemma unserer Zeit begrifflich auf den Punkt zu bringen.
Es gibt ja auch nicht, wie in richtigen Diktaturen, klare Feindbilder und stigmatisierte Randgruppen. Was wir erleben ist die Fürsorgedemokratie, die Transformation des Mündigen zum Mündel. Und das ist ehrlich gesagt noch weitaus schlimmer als ein Wandel zur klassischen Diktatur. Deren Konturen sind gemeinhin wesentlich schärfer. Diese penibel zur Schau gestellte Überfürsorglichkeit meint es hingegen gut.
Vor einem Staat, der behauptet, er meine es nur gut, muss man sich gründlich hüten. In ihm lauert die Verfolgungsbetreuung und die Entmündigung. Denn jemand, der nicht möchte, dass jemand es gut mit ihm meint, der ist ja quasi eine Gefahr für sich selbst. Dem entziehen wir lieber mal seine Selbstbestimmung, damit er sich nicht schadet. Wer das Gute will, darf schließlich alles.