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Der Militarisierungs-Wahn

Der Militarisierungs-Wahn

Die NATO will angeblich Frieden schaffen — mit immer neuen Waffen.

Auszug des Kapitels „Waffen“ aus dem Buch „Die ganze Wahrheit über alles“ von Sven Boettcher und Mathias Bröckers, das 2016 im Westend-Verlag erschienen ist.

Ein Cartoon des US-Magazins Politico verlegte die Situation unlängst in das Zimmer eines Psychiaters. Auf der Couch der amerikanische Patient, Uncle Sam, über und über bedeckt mit Raketen, Gewehren, Waffen: „Ich habe 1800 Nuklearraketen, 283 Schlachtschiffe, 9400 Flugzeuge (...) ich gebe mehr für das Militär aus als die nächsten zwölf Nationen zusammen – und obwohl ich Jahr für Jahr mehr ausgebe, fühle ich mich noch immer unsicher!“ „Das ist einfach, antwortet der Therapeut. „Sie haben einen militärisch-industriellen Komplex.“

Auf den Begriff gebracht und bekannt gemacht wurde die Krankheit erstmals im Januar 1961, als Dwight D. Eisenhower nach acht Jahren als Präsident der USA sein Amt an John F. Kennedy übergab und in seiner schon erwähnten Abschiedsrede die Nation mahnte:

„Wir müssen auf der Hut sein vor unberechtigten Einflüssen des militärisch-industriellen Komplexes.“

Diese Mahnung vor einem Machtzuwachs der Rüstungsindustrie aus dem Mund eines Mannes, der fast 40 Jahre in Uniform zugebracht und als General im Zweiten Weltkrieg die US-Truppen in Europa befehligt hatte, war einigermaßen erstaunlich.

Doch sie blieb genauso wirkungslos wie Eisenhowers Empfehlung, wie diese krakenhafte Machtausbreitung des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) verhindert werden könne, nämlich nur „durch wachsame und informierte Bürger“.

Dass die Bürger in der Folge eher unaufmerksam und ahnungslos blieben, hatte damit zu tun, dass die Maschinerie in der Folge noch ein weiteres Geschäftsfeld vereinnahmte und zum militärisch-industriellen Medien-Komplex (MIMK) mutierte. Wenn dann ein führender TV-Kanal (NBC) in der Hand eines führenden Rüstungskonzerns (General Electric) ist, kann man sehr leicht, wie im Irakkrieg 2003, erfundene Massenvernichtungswaffen zur Bedrohung aufblasen und Milliardenaufträge (Pentagon) für zusätzliche Tomahawks und Patriots (General Electric) einfahren. Und wenn die eingebetteten Reporter im gescripteten Reality TV von der Front berichten, dass die Luftschläge „mit chirurgischer Präzision vorgetragen werden“ – dann ist alles gut.

Im Jahr 2014 betrug das Budget des Pentagon 610 Milliarden Dollar. Potentielle oder imaginierte Feinde müssen mit 216 (China), 84 (Russland) oder drei Milliarden (Syrien) auskommen, während alle Nato-Staaten per anno zusammen über einen Etat von über 1000 Milliarden verfügen. Nun hat in den vergangenen Jahrzehnten niemand irgendeines der Nato-Länder angegriffen, sodass die Frage aufkommen muss, wozu diese Unsummen eigentlich gebraucht werden.

Ihre Abzweigung aus den Steuereinnahmen der seit Jahrzehnten nicht angegriffenen Staaten läuft überall unter dem Label „Verteidigung“. Wir kennen das:

„Unsere Freiheit“ muss am Hindukusch, in Syrien usw. „verteidigt“ werden, was im Klartext bedeutet, dass wir den Begriff nur noch in der Umdeutung „Angriff ist die beste Verteidigung“ verwenden.

Denn „wir“, der Westen, die USA und andere Nato-Mitglieder greifen ja permanent an bzw. ein, denn als selbsternannte Wertegemeinschaft führt man natürlich niemals Angriffskriege.
Wobei: Gegen den Terror muss man schon sein und auch ohne Rücksicht auf Verluste und Konsequenzen angreifen – geht leider nicht anders. Das US-Budget des Krieges gegen den Terror übersteigt mit 3,6 bis vier Billionen Dollar mittlerweile die Kosten für den Zweiten Weltkrieg – und dieser Krieg hat den sexy Vorteil, niemals aufzuhören.

General Eisenhower rotiert im Grabe. Und das nicht nur, weil die Krake, vor der er bei seinem Abschied warnte, ihre Arme unaufhaltsam weiter ausgestreckt hat und nach 9/11 mit der (schon länger vorbereiteten) flächendeckenden Überwachung auch noch sämtliche Bürger in die Fänge nehmen konnte – zu ihrer eigenen Sicherheit, versteht sich. Sondern auch, weil derzeit in den USA neun Schusswaffen auf zehn Personen kommen und „alle 16 Minuten jemand mit einer Feuerwaffe getötet wird“.

Dass trotz der starken Zunahme des privaten Waffenbesitzes die Mordrate in den USA (und weltweit) in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen ist, wird von der Waffenlobby zwar gern als Argument gegen strengere Gesetze gebraucht – ob es aber eine gute Idee ist, Lehrer und Schüler zu bewaffnen, damit sie sich gegen „Highschool Shootings“ wehren können, darf ebenso bezweifelt werden wie die Hoffnung, dass es mit strengerer Reglementierung des Waffenverkaufs schon getan wäre.

Denn es ist nicht allein die Zahl der vorhandenen Waffen, die für ihren Einsatz verantwortlich ist. In den Vereinigten Staaten liegt die statistische Tötungsrate bei 4,6 Menschen pro 100 000 Bewohner, in Deutschland, wo privater Waffenbesitz stark reglementiert ist, liegt sie bei 0,8, in der Schweiz bei 0,6, obwohl dort fast jeder Haushalt über eine Feuerwaffe verfügt, weil die Wehrpflichtigen sie nach der Dienstzeit mit nach Hause nehmen, einschließlich eines „Päcklis“ mit 20 Schuss Munition.

Es hat also nicht allein mit der Verfügbarkeit von Feuerwaffen, sondern auch mit dem Grad der Ungleichheit in einer Gesellschaft zu tun, dass US-Amerikaner sich siebenmal häufiger um die Ecke bringen als die Eidgenossen.

Wobei weder die Schweizer noch gar die Deutschen die zurückhaltende Verwendung von Schusswaffen im eigenen Land moralisch an die große Glocke hängen können, denn sie tragen mit ihren Waffenexporten in anderen Ländern massiv zum Morden bei. Deutschland ist nach den USA und Russland der drittgrößte Waffenexporteur der Welt, beliefert unter anderem Diktaturen wie Saudi-Arabien und ist vor allem im Geschäft mit Kleinwaffen führend. Alle 14 Minuten, so schätzt der Waffenforscher und Rüstungsgegner Jürgen Grässlin, stirbt irgendwo auf der Welt ein Mensch durch eine Kugel aus einem deutschen Gewehr.

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