Zunächst einmal: Was ist „Kernfilm“, wie ist euer Unternehmen entstanden?
Herdolor Lorenz: Das ist eine ziemlich lange Geschichte, die sich schrittweise vollzogen hat. Angefangen haben wir beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen, wo wir ab 1986 den Prozess der Perestroika und das Auseinanderbrechen der UdSSR für das deutsche Fernsehen dokumentiert haben. Als die Entwicklungen dort immer hässlicher wurden, kehrten wir nach Deutschland zurück und machten sehr schnell die Erfahrung:
Kritik in anderen Ländern ist im deutschen Fernsehen immer erwünscht, aber wehe du bist im eigenen Land kritisch. Da kommt etwas, das muss man schon als Zensur bezeichnen.
Zensur in Deutschland? Ich kenne eine Menge Menschen, die das vehement bestreiten würden. Was ist euch denn passiert?
Leslie Franke: Wir haben 1995 einen Film über die bosnischen Flüchtlinge gemacht. Damals wollte Deutschland die noch so schnell wie möglich loswerden, und entsprechend negativ sollte die Darstellung sein. Wir haben diese Leute aber als Menschen wie du und ich gezeigt und sie reden lassen. Das waren oft gut ausgebildete, selbstbewusste Fachkräfte, und die haben zum Beispiel davon erzählt, wie es ist, wenn sie hier nur als Putzhilfen arbeiten können und dann teilweise enorm arrogant behandelt werden. Wir haben auch serbische Flüchtlinge gezeigt, die man ja damals nie in ein positives Licht stellen durfte.
Herdolor Lorenz: Die Redaktion des NDR hat das abgenommen und gesendet. Aber noch am selben Abend rief ein Vertreter des Intendanten bei uns an und sagte: Sie machen nie wieder was für’s Fernsehen. Später haben wir dann noch einige Filme für ARTE gemacht. Aber es wurde immer schwieriger. Unseren Film über die Privatisierung der Wasserversorgung in Frankreich und Deutschland konnten wir nur noch unter enormen Kämpfen durchbekommen. Kollegen von uns, die noch dort sind, sagen, dass es auch bei ARTE immer schlimmer wird. Deshalb haben wir mit Crowdfunding angefangen.
Auf eurer Internetseite heißt es, dass ihr „Filme von unten“ produziert. Was bedeutet das genau?
Leslie Franke: Jeder, der unser aktuelles Filmprojekt fördern möchte, unterstützt das Projekt mit 20 Euro über die jeweilige Filmwebseite. Manche auch mit weniger bzw. mehr. Wenn der Film fertig ist, gibt es einen Verein, der den FilmförderInnen eine DVD mit dem Recht schickt, den Film überall nichtkommerziell vorzuführen. Monatlich verschicken wir an unseren Unterstützerkreis einen Newsletter mit aktuellen Infos zum Thema oder zum Stand des Crowdfundings. Wer möchte, kann uns gerne Ideen für das neue Projekt mitteilen, wobei die Entscheidung, was am Ende gemacht wird, natürlich bei uns bleibt. Das hat viele Vorteile. Wir erfahren sehr viel über die Gedanken und Sorgen unserer Zuschauer. Manchmal kommen auch gute Kontakte zu Interviewpartnern zustande. Mit der Premiere sorgt dann ein funktionierendes Netzwerk dafür, dass der Film in Hunderten von Veranstaltungen in kommunalen Kinos, an Universitäten und Schulen, in Gemeindesälen und Kneipen gezeigt und das Thema diskutiert wird.
Herdolor Lorenz: Wir bekommen auch wesentlich mehr feedbacks. Während sich die Filme im Fernsehen eher „versendet“ haben und oft nur passiv rezipiert wurden, schreiben uns die Zuschauer jetzt viel mehr Emails, die sich intensiv mit den Filmen auseinandersetzen. Wir werden auch vielfach zu den Filmdiskussionen eingeladen.
Euer letzter Film „Wer rettet wen?“ hat sich mit Bankenrettungen und Griechenlandkrise beschäftigt. Ihr wurdet von der Tagesschau als Kulturtipp erwähnt.
Herdolor Lorenz: Das war eine Kollegin von uns, die das einfach gemacht hat. Es gibt ja immer noch einzelne mutige Menschen in den Sendern. Damit hat die Redakteurin uns enorm geholfen. Viele Zeitungen und Rundfunksender haben den Tipp aufgegriffen.
Inzwischen arbeitet ihr an einem neuen Projekt, in dem nicht Banken oder Hedgefonds im Vordergrund stehen, sondern Menschen in Arbeitsprozessen. Wie kam es zu dem neuen Thema?
Leslie Franke: Das ist in gewissem Sinne eine logische Folge aus der Arbeit an „Wer rettet wen?“ gewesen. Im Kampf um die immer höhere Rendite wird ja überall mehr Wettbewerbsfähigkeit gefordert. Und das hat gravierende Folgen für die Gesellschaft und für jeden einzelnen Menschen. Die wollen wir untersuchen.
In eurer Projektbeschreibung sprecht ihr von einer rasanten Veränderung des Arbeitsmarktes. Was meint ihr konkret?
Herdolor Lorenz: Das Zentrale ist die Arbeitsgesetzgebung, die sich mit der Agenda 2010 tiefgreifend verändert hat. Während früher der unbefristete Arbeitsvertrag die Norm war, gibt es heute zahlreiche Modelle für Arbeitgeber, sich an der sozialen Verpflichtung für den Arbeitnehmer vorbei zu mogeln.
Mini-Jobs, befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit und Arbeiten auf Honorarbasis zum Beispiel. Es werden immer mehr solcher Modelle entwickelt, und sie werden immer abstruser. Etwa, wenn ein Verkäufer bei H&M sich verpflichtet, 6 Tage die Woche rund um die Uhr für H&M in Bereitschaft zu sein, aber oftmals nur die garantierten 10 – 15 Stunden wirklich gegen Honorar beschäftigt wird.
Leslie Franke: Die Firmen wälzen also immer mehr Risiken auf die Beschäftigten ab und drücken sich um die Zahlung von Sozialversicherungen. Das verkleiden sie in der Botschaft, dass jeder sein eigener Unternehmer ist. Für junge Leute mag das toll klingen, aber die haben eben nicht im Blick, dass sie weder kranken- noch sozialversichert sind und später in der Altersarmut landen.
Vielleicht gerade hier noch einmal für die jüngeren Leser: Welche gesetzlichen Regelungen gab es früher, die über Jahrzehnte von Arbeitnehmern erstritten wurden, und die nunmehr abgeschafft werden.
Herdolor Lorenz: Werksverträge waren verboten, Arbeitnehmer mussten immer direkt beschäftigt werden und nicht über eine Verleihfirma. Leiharbeit selbst war nur in Ausnahmefällen erlaubt. Arbeitnehmer mussten nach einem befristeten Vertrag in die Festanstellung übernommen werden und genossen ab da einen hohen Kündigungsschutz.
Aber vor allem ist ja auch die Zahlung des Arbeitslosengeldes kaputtgespart worden. Zwei Jahre Arbeitslosengeld, und danach noch mehrere Jahre Arbeitslosenhilfe, da wurde auch dein Vermögen noch nicht angegriffen. Heute hast du das alles nicht mehr und wirst über die Hartz-IV-Gesetze praktisch sofort in den nächsten Job gezwungen.
Es wurde behauptet, all diese sozialen Sicherheiten und Leistungen mussten abgeschafft werden, weil unsere Gesellschaft sich das nicht leisten könnte.
Herdolor Lorenz: Wir glauben, dass das ein Irrtum ist.
Freier Wettbewerb, der nicht geregelt ist, nutzt immer nur den Starken, denen, die Besitzer der Unternehmen sind und davon profitieren, dass es immer mehr Arbeitnehmer gibt, die für noch weniger Lohn arbeiten gehen.
Das Gesetz lautet: Je weniger Ausgaben, umso mehr Gewinn. Die Leidtragenden sind die Beschäftigten. Das betrifft nicht nur Lohnkosten, sondern auch Arbeitssicherheit, Umweltschutz und so weiter. Der deregulierte Wettbewerb kann nur immer weiter nach unten führen, es gibt ja keine Grenze mehr.
Leslie Franke: Es ist auch volkswirtschaftlich idiotisch. Wir alle müssen als Steuerzahler dafür zahlen, dass die Leute krank werden oder Burn out bekommen. Wer den ganzen Tag arbeitet und trotzdem nicht genug Geld für Wohnung und Familie hat, erlebt Stress, der auf die Dauer krank macht, und das geht auf die Kosten aller.
Um das zu verhindern, benötigt man eigentlich politische Entscheidungen, die den Agenda-Kurs von Schröder rückgängig machen.
Herdolor Lorenz: Danach sieht es aber nicht aus. In unseren Medien wird Macron gerade als gute Alternative gegenüber Le Pen gefeiert. Aber eine der ersten Dinge, die er noch vor den Sommerferien machen will, ist es, die Tarifverträge abzuschaffen und den Unternehmern zu versprechen, dass sie selbst entscheiden können, was arbeitsrechtlich geschieht.
Die Gewerkschaften werden von ihm quasi entmachtet und bekommen nur noch ein sehr eingeschränktes Mitspracherecht. Es gibt in Macrons Gesetzes-Entwurf sogar eine Formulierung, dass betriebliche Vereinbarungen höher gestellt werden als nationale Gesetze. Das ist ein neoliberaler Putsch hoch sieben.
Leslie Franke: Das Verrückte ist doch, dass, sagen wir mal, bei BMW Arbeiter per Leiharbeit am Fließband beschäftigt werden, die so wenig Geld verdienen, dass sie zum Jobcenter gehen müssen, um aufzustocken.
Das heißt, wir subventionieren aus unseren Steuergeldern Gehälter, an denen die Unternehmer so sehr sparen, dass niemand davon leben kann. Umgekehrt bekommen die Unternehmen aber noch Steuererleichterungen vom Staat.
Was bringt es mit sich, wenn der beste Arbeiter der ist, der zu möglichst niedrigem Lohn arbeitet und möglichst niedrige oder gar keine Sozialleistungen mehr beansprucht?
Leslie Franke: Er verliert auch an Mitspracherecht, an Demokratie. Das ist uns ganz wichtig zu erzählen. Wenn du ein Multijobber bist, hast du keine Zeit mehr, um dich zu engagieren. Für Zeit- oder Leiharbeiter gibt es kaum noch gewerkschaftliche Organisationen. Es gibt keine Solidarität mehr. Jeder vereinzelt.
Auf eurer Website weist ihr daraufhin, dass man sich in unserer Gesellschaft von klein auf an diesen Wettbewerb gewöhnt. Was meint ihr damit genau?
Herdolor Lorenz: Das wird schwierig zu erzählen sein, aber es ist doch so, die Verantwortung wird individualisiert. Wenn ein Arbeitnehmer es nicht in einen Job schafft, dann fühlt er sich schuldig und macht alles, damit er auf diesem Markt doch noch irgendwie bestehen kann. Der Blickwinkel, dass die Gesellschaft eine Mitverantwortung trägt, verschwindet. Kinder müssen sich heute schon früh entscheiden, wenn sie eine gute berufliche Perspektive haben wollen. Wir haben das Gefühl, dass Schüler heute eine wesentlich höhere Zukunftsangst haben als wir früher.
Leslie Franke: Sie werden auch sehr einseitig fokussiert. Zum einen gibt es diese erschreckende Digitalisierung, die Schüler zu kurzfristigem Denken zwingt. Selbständiges, freies Denken geht dabei immer mehr verloren. Außerdem werden Unterrichtsinhalte zusehends von der Industrie mitbestimmt. Da kommt ja viel von der Bertelsmann-Stiftung, einer der größten privaten Medienkonzerne der Welt, der ganz klar die Interessen der Wirtschaft vertritt.
Wie das?
Herdolor Lorenz: Die Hochschulreform nach dem Bologna-Modell ist mehr oder weniger dort entwickelt worden. Seitdem sind auch die sozialen Strukturen an den Universitäten aufgelöst worden, die Vereinzelung beginnt schon im Studium. Das Interessante daran ist, dass es sich bei Bertelsmann eigentlich um einen Medienkonzern handelt, der sich durch die Gestaltung als Stiftung vor der Steuerzahlung drückt und gleichzeitig die Macht hat, Bildung, Medien-Inhalte und letztlich auch Politik zu beeinflussen.
Leslie Franke: Ein anderes Beispiel, wie stark die Interessen der Wirtschaft unsere Gesellschaft dominieren, ist auch die Entstehung von Forschungsaufträgen. Es gibt an Universitäten vielfach nur noch Forschungen, die von einem Wirtschaftsunternehmen gesponsert werden. Damit haben wir überhaupt keine unabhängige Forschung mehr. Und damit werden aber auch die Studenten schon gleich auf die marktgerechte Schiene eingefahren.
Herdolor Lorenz: Wir waren für unseren letzten Film in einer Universität in Spanien, da besteht schon der Studentenausweis aus einer Kreditkarte der Santander-Bank.
Nun könnten die Studenten ja auch sagen: Ich finde es gut, so viel wie möglich zu leisten und an meine Grenzen zu gehen. Das verschafft mir Erfolgserlebnisse. Wie sieht es mit dieser Logik aus?
Herdolor Lorenz: Wir haben gerade eine Studie der DAK entdeckt, in der untersucht wurde, wie Menschen in Deutschland schlafen. Sie hat herausgefunden, dass inzwischen vier von fünf Beschäftigten massive Schlafprobleme haben. Seit 2010 hat sich die Zahl der Betroffenen um sechzig Prozent erhöht. Eine große Problematik, die bei dieser Studie zutage trat, war der Fakt, dass bei den meisten Beschäftigten die Verfügbarkeit über den Feierabend hinaus bis nach Hause reicht. Hier werden vor allem die digitalen Medien zum Fluch. Aber auch das ständige Nachdenken darüber, wie man sich noch besser profilieren kann, kann ja Schlaf rauben.
Wie könnt ihr davon in eurem Film erzählen? Diese Phänomene spielen vermutlich in fast jeder Branche eine Rolle.
Herdolor Lorenz: Wir haben uns hier erst einmal auf die Krankenhäuser konzentriert, die sich durch die Einführung der Fallpauschalen sehr verändert haben. Seither hat jede Diagnose einen Preis. Kliniken, denen der Preis für die Behandlung ausreicht, können nun erstmals Gewinne machen. Oder Verluste, wenn ihnen der Preis nicht ausreicht.
Das hat einen gnadenlosen Wettbewerb ausgelöst. Privatisierte Krankenhäuser konzentrieren sich in der Regel auf finanziell attraktive Fallpauschalen und sparen am radikalsten am Personal. Hier kommt noch ein weiterer Aspekt dazu, nämlich wie sich der Patient unter den Gesetzen des freien Marktes verändert. Er wird – kurz gesagt – zu einer Maschine gemacht, die man repariert.
Das Krankenhaus ist nur noch ein Dienstleistungsunternehmen, und sieht in einem Patienten nur die Fallpauschale. Ist die Fallpauschale teuer, hilft sie, den Betrieb gewinnbringend zu halten. Patienten mit einer niedrigpreisigen Krankheit werden dagegen gefürchtet, weil sie Verlust bringen.
Leslie Franke: Interessant wird ein Patient für das Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus also erst, wenn er eine möglichst teure Operation oder Behandlung „braucht“. Dann müssen eben 90-Jährige noch eine künstliche Herzklappe bekommen. Es werden also Dinge gemacht, die nichts mit den Menschen zu tun haben, sondern vor allem einen wirtschaftlichen Nutzen für das Unternehmen darstellen.
Herdolor Lorenz: Dazu kommt eben auch, dass die Zuwendung zum Patienten nicht bezahlt wird. Die Ärzte informieren die Patienten in fünf Minuten von einer komplizierten Operation, und viele vertrauen dann eben den Ärzten und lassen Dinge mit sich machen, die nicht zwingend notwendig und oftmals auch riskant sind.
Leslie Franke: Die Ärzte haben auch oft gar keine Zeit für Gespräche. Wir haben gerade mit einem Arzt gesprochen, der ist am Wochenende mit 40 Patienten allein auf einer Station. Und dann kommt noch dazu, dass alle Leistungen korrekt abgerechnet werden müssen, damit sie von den Krankenkassen bezahlt werden. Inzwischen beschäftigen sich viele Ärzte über die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit der Dokumentation ihrer Tätigkeit, damit sie abgerechnet wird.
Mit den knapp bemessenen Fallpauschalen können sie ihre Station kaum am Laufen halten. Deswegen gibt es generell zu wenig Personal, viele Arbeitsbereiche wie Verpflegung oder Reinigung werden outgesourct. Die entsprechenden Mitarbeiter werden in der Regel unter Tarif bezahlt.
Das bekommen auch die Patienten zu spüren. Wer nur eine finanziell unattraktive „Fallpauschale“ ist, wird entsprechend nachlässiger behandelt als der Patient mit der „hochwertigen Diagnose“. Andererseits stehen die Ärzte oft vor schweren Entscheidungen. Im Zweifelsfall hilft eine teure Operation vielleicht nicht dem betroffenen Patienten, dafür aber der gesamten Station, weil sie sich jetzt eine Arbeitskraft mehr leisten kann.
Es folgt alles nur noch dem Gesetz der Effizienz. Ein privates Krankenhaus ist angehalten jährlich einen Gewinn von 11 Prozent zu machen. Ein Krankenhaus! Das muss man sich mal vorstellen!
Aber auch die kommunalen müssen auf diese Weise ums Überleben kämpfen, weil sie auch mit diesem Fallpauschalensystem arbeiten müssen. Und sobald sie in ein Minus kommen, werden sie entweder geschlossen oder die Filetstücke privatisiert.
Was ist mit den Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern, die unter solchen Umständen arbeiten müssen? Wisst ihr schon, was ihr über die erzählen könnt?
Leslie Franke: Die PflegerInnen trifft es besonders schlimm, weil sie ja mit den Menschen arbeiten. Es wird auf der einen Seite an ihre Verantwortlichkeit appelliert, aber auf der anderen Seite haben sie keine Zeit und oft auch keine Kraft mehr, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden.
Was macht so jemand, wenn er endlich frei hat und dann ein Notruf kommt, dass Kollegen ausgefallen sind. Auf der einen Seite können sie selbst nicht mehr, auf der anderen Seite wissen sie, dass die Patienten den Pflegenotstand auszubaden haben, wenn sie zu Hause bleiben. Infolge der Überbelastung reduzieren viele ihre Arbeitszeit, was aber wiederum finanzielle Einbuße bedeutet. Manche verlassen den Job aber auch. Von einem Schwesternlehrgang erreichen viele nicht einmal das Ende der Ausbildung. Die sehen in den ersten Praktika, was sie erwartet, und suchen sich eine andere Ausbildung.
Manche PflegerInnen fangen auch an, sich politisch zu engagieren. Bei Verdi gibt es da ja inzwischen einige Initiativen. Manche wenden sich auch an die Medien, aber da gibt es viel Angst, dass die Leute ihren Job verlieren, wenn die Geschäftsleitung das herausbekommt.
Herdolor Lorenz: Aber man muss auch sagen, dass die Ärzte unter enormem Druck stehen. Eigentlich haben sie ja gelernt, selbständig Diagnosen zu treffen, sich Zeit für den Patienten zu nehmen, ihn möglichst ganzheitlich zu betrachten. Das kannst du in der Praxis alles vergessen. Wenn du deine Abteilung nicht gefährden willst, musst du den Patienten gefährden.
Leslie Franke: Die müssen sich ja jeden Monat vor der Geschäftsleitung dafür rechtfertigen, wenn sie nicht genug Operationen gemacht haben. Sie müssen vierteljährliche Planziffern erfüllen. Das macht die auch psychologisch fertig.
Die, mit denen wir sprechen, sagen, sie gehen jeden Abend völlig erschöpft nach Hause und haben trotzdem das Gefühl, dass sie nicht getan haben, was sie eigentlich hätten tun müssen.
*Und das alles nur, damit ein paar Eigentümer ihre Gewinne einfahren können und der Staat nicht mehr für die medizinische Versorgung seiner Bürger verantwortlich ist. *
Herdolor Lorenz: Für uns sind Krankenhäuser das beste Beispiel, um zu zeigen, wie gefährlich Wettbewerb sein kann. Die Verwandlung der Krankenhäuser in profitorientierte Wirtschaftsbetriebe schadet am Ende allen Beteiligten. Wir beleuchten in unserem Film aber noch andere Branchen, die Schwachstellen sind am Ende überall dieselben.
Die Politik zieht sich aus der Verantwortung und die Beschäftigten bezahlen die Rechnung.
Das klingt nach einer ziemlich düsteren allgemeinen Perspektive. Habt ihr Ideen, auf welchem Wege man dieser Marktkonformisierung der Gesellschaft entkommen kann?
Herdolor Lorenz: Das Stichwort heißt auf jeden Fall Solidarisierung. Das Bedürfnis nach Solidarität und nach Sinnhaftigkeit nimmt massenhaft zu. Die Leute haben immer weniger Lust auf diese Vereinzelung und suchen sich Alternativen, in denen sie Gemeinschaften ohne Konkurrenz erleben können. Da ist auch politisches Handeln wieder im Trend, wie ja die großen Anti-TTIP-Demos gezeigt haben. Manche müssen dort erst wieder lernen, was es eigentlich heißt, miteinander zu agieren.
Leslie Franke: Ein anderes Beispiel ist die Initiative der Gemeinwohl-Ökonomie. Hier geht es nicht vornehmlich um den maximalen Gewinn, sondern die Unternehmen werden daraufhin geprüft, inwieweit sie höhere Standards in Bezug auf sozial verträgliche Arbeitsbedingungen oder Umweltschutz erfüllen. Wer diese Standards erfüllt, kann Mitglied in einer Unternehmensgemeinschaft werden, die solidarisch miteinander verbunden ist. Gerade in Bayern gibt es immer mehr Betriebe, die dieses Zertifikat erwerben und zeigen, dass Wirtschaft auch anders geht.
Herdolor Lorenz: Wir glauben jedenfalls nicht, dass einfach nur eine neue Partei an die Macht kommen braucht, die jetzt alles anders macht. Die Gesellschaft braucht einen grundlegenden Wandel, und der muss von unten kommen. Hier muss ein Umdenken stattfinden. Und das geschieht ja auch schon.
**Zum Beispiel, indem Menschen einen Film finanzieren, der von den Zwängen erzählt, die uns alle betreffen. Bis wann kann man sich an der Unterstützung eures aktuellen Projektes beteiligen?
Leslie Franke: Der Film soll Ende 2018 fertig werden. So lange nehmen wir auch jede Unterstützung sehr gern entgegen.
Dann wünsche ich euch viel Glück und bedanke mich für das interessante Gespräch.
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