Bisher liegt die Zustimmung in der deutschen Bevölkerung beispielsweise zu den verharmlosend „Auslandseinsätze“ genannten Kriegen beharrlich bei maximal kaum mehr als 40 Prozent (1). Die Körber-Stiftung führte wiederholt derartige Umfragen durch und stellte dabei überrascht fest, dass die Zustimmungsquote bei Wählern der Grünen mit 62 Prozent mehr als doppelt so hoch war wie etwa bei der Linkspartei (2). Wenn man diese Zahlen sieht, wundert man sich nicht mehr: Die Grünen haben die NATO-Distanz ihrer Gründerjahre lange hinter sich gelassen. So schrieb die Obfrau der Grünen im Bundestagsunterausschuss „Rüstungskontrolle“ Katja Keul in Publik Forum am 22. März: Als „Verteidigungsgemeinschaft ... brauchen wir die NATO... Im Moment müssen wir froh sein, wenn die NATO ... nicht auseinanderbricht...“
Am 24. März 1999 — also vor ziemlich genau 20 Jahren — begann mit der NATO-Operation Allied Force der Überfall auf die Republik Jugoslawien ohne Mandat der UNO (3). Spätestens im Verlauf dieses Verbrechens verloren die Grünen ihre antimilitaristische Identität. Doch nicht alleine die Führungsriege um den damaligen Außenminister Josef Fischer von den Grünen spielte im Zusammenhang mit dem Balkankrieg eine fatale Rolle. Wir befanden uns damals, in den 1990er-Jahren, im Jahrzehnt nach dem millionenfachen weltweiten Aufschwung der Friedensbewegung, der auch die großen Erfolge der Grünen ermöglichte. Dieser Widerstand gegen den Krieg litt nun massiv darunter, dass mit der SPD und den Grünen gleich zwei Parteien umschwenkten, die in der Friedensbewegung der 1980er-Jahre wichtige Anteile hatten.
Sie sicherten jetzt den Völkerrechtsbruch der NATO mit Lügen ab und verbreiteten so den Eindruck in der öffentlichen Meinungsbildung, der Angriffskrieg gegen Jugoslawien sei kein Kriegsverbrechen, sondern ein Menschenrechts- und Friedensprojekt. Damit lagen sie exakt auf der Linie der NATO-Propaganda.
Die Kriegspropaganda zum ersten militärischen Völkerrechtsbruch und Kriegseinsatz der Bundeswehr hält auch der sozialdemokratische Bundesaußenminister Heiko Maas bis heute durch: „20 Jahre nach dem Beginn der Nato-Luftangriffe auf Serbien hält Außenminister Heiko Maas die deutsche Beteiligung daran weiterhin für richtig. ‚Ich glaube nach wie vor, dass die deutsche Beteiligung ein Ausfluss verantwortungsbewussten Handelns gewesen ist‘, sagte der SPD-Politiker“ (4) .
Einen guten Überblick zu den tatsächlichen Hintergründen und Abläufen dieses Kriegs gibt die sehenswerte ARD-Dokumentation von Joe Angerer und Matthias Werth „Es begann mit einer Lüge“, dessen Titel sich auf damalige Reden von Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD, Außenminister Josef Fischer sowie „Verteidigungs“-Minister Rudolf Scharping bezieht (5).
Der damalige Kanzler Gerhard Schröder erklärte in seiner Fernsehansprache zur Rechtfertigung des Krieges: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. (...) Damit will das Bündnis (...) eine humanitäre Katastrophe in Kosovo unterbinden. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen“. Verteidigungsminister Rudolf Scharping flankierte Gerhard Schröders Worte: „Wir wären nie zu militärischen Maßnahmen geschritten, wenn es nicht diese humanitäre Katastrophe gäbe mit einer zurzeit nicht zählbaren Zahl von Toten.“
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) berichtete, es habe vor dem Beginn des NATO-Krieges circa 39 Tote im gesamten Kosovo, einem der Hauptkonfliktgebiete, gegeben. Heinz Loquai war Brigadegeneral der Bundeswehr und von 1995 bis 1999 Leiter der Militärberatergruppe der deutschen Vertretung bei der OSZE und hatte dadurch eine privilegierte Beobachterposition im Kosovo. Er sagte, eine „humanitäre Katastrophe als völkerrechtliche Kategorie, die einen Kriegseintritt rechtfertigt, lag nicht vor“. Fachleute sahen Bürgerkriegs-Szenen, jedoch keine Massaker. Ein Dokument des Bundesministeriums der Verteidigung zur Lageführung/G1-Information („Nur für den Dienstgebrauch“) führte dementsprechend aus, dass sich die Milosevic zugeordneten Sicherheitskräfte der serbischen Seite auf Routine-Einsätze „beschränkten“.
Kanzler Schröder und sein Verteidigungsminister sahen jedoch diese humanitäre Katastrophe, sie sprachen von der Entstehung eines Konzentrationslagers in einem Fußballstadion und von einem Massaker an der kosovarischen Zivilbevölkerung, ausgeführt von serbischen Kräften. Der Grünen-Außenminister Josef Fischer ging noch einen begrifflichen Schritt weiter und sprach von einem neuen Auschwitz, das es zu verhindern gelte: „ (...) ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen. Deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen (...) Ihr mögt alles falsch finden, was diese Bundesregierung gemacht hat und die Nato macht“ (6).
Scharping verwies am 28. März 1999 auf Informationen aus Pristina, denen zufolge die Serben dort ein KZ im Stadion betreiben würden. Er sprach von Internierung in den Kellergängen. Er ergänzte, dass Lehrer vor den Augen von Eltern und Kindern erschossen werden. Es habe zudem die Aufforderung an Serben gegeben, ein „S“ auf ihre Haustür zu schreiben, damit sie nicht von Säuberungen betroffen werden. Fakt ist allerdings, dass es kein einziges „S“ an den Türen in Pristina gab; und der kosovarische Politiker Kerkmende, dessen Wohnung in Sichtweite des Stadions lag, berichtete dem ARD-Team, es habe damals keinen einzigen Gefangenen gegeben. „Das Stadion hat als Helikopterlandeplatz gedient.“
Die Massakerbilder, die Rudolf Scharping am 27. April 1999 vorlegte, und die Medien wie etwa die Bild-Zeitung unkritisch verbreiteten — BILD: „Darum führen wir Krieg“ –, hätten nach seiner Ansicht die Brutalität der serbischen Sicherheitskräfte und Polizei gegenüber Zivilisten „beweissichernd“ veranschaulicht. Scharping während seines Auftritts mit diesem Bildmaterial: „Ich muss mir hier große Mühe geben, das mit einer Tonlage zu schildern, die nicht zu einer Explosion führt.“ Das Bildmaterial stammte allerdings laut ARD-Team aus einem Bürgerkriegsgefecht vom 29. Januar 1999, bei dem 24 Kosovaren und ein serbischer Polizist getötet wurden. Bei den Toten befanden sich Mitgliedsausweise der paramilitärischen Organisation zur Befreiung des Kosovo, UCK, es waren also keineswegs Zivilisten.
Heinz Loquai sagte dazu: „Das war kein Massaker an der Zivilbevölkerung. Zu einem Massaker hat es der deutsche Verteidigungsminister interpretiert.“ Und: „Vergleiche mit Auschwitz sind ungeheuerlich, ein normaler Mensch, ein normaler Deutscher wird vor Gericht zitiert, wenn er in einem derartigen Ausmaß den Holocaust verharmlost.“ Zusammenfassend formulierte er. „Man hat in der Vergangenheit oft der deutschen Generalität den Vorwurf gemacht, dass sie dort auch geschwiegen habe, wo sie etwas hätte sagen sollen. Und ich wollte in dieser Situation etwas sagen und die Manipulation und Propaganda nicht als solche stehen lassen.“ Nach seiner Kritik am Kosovokrieg, an Scharping und speziell an dem von diesem behaupteten „Hufeisenplan“ wurde Loquai als General abgesetzt und in Pension geschickt. Auch gegen die routinemäßige Verlängerung seines OSZE-Militärberatervertrags hatte das Verteidigungsministerium erfolgreich interveniert (7).
Der damalige NATO-Sprecher Jamie Shae hatte im Vorfeld betont, es sei das Wichtigste, dass der Feind kein Monopol auf die Bilder haben darf. Offensichtlich arbeitete Scharping daran, dieses Monopol auf der „richtigen“ Seite zu sichern.
Auf der Herbst-Tagung 2014 des Kalkarer Joint Air Power Competence Centre der NATO las man unter dem Titel „Future Vector“ — Zukunfts-Pfeil –, die NATO „brachte Frieden auf den Balkan“; im gleichen Textabschnitt freuten sich die Militärs, dass sie zwölf neue Mitglieder im Zuge der Ost-Erweiterung aufgenommen haben, und so sei Europa „fast gänzlich frei und im Frieden“ (8).
Beide Formulierungen stellen die Realität selbstgefällig auf den Kopf. Der Balkan hat sich bis heute nicht von seiner durch NATO-Staaten angefeuerten Zerlegung und den Zerstörungen erholt; Europa gewann durch die NATO-Ostexpansion, die einen Bruch der Vereinbarungen bei den 2+4-Verhandlungen zur „endgültigen Regelung der Deutschen Frage“ darstellt, weder den Zustand der Freiheit, noch den des Friedens (9). Der völkerrechtswidrige Krieg gegen Jugoslawien mit zeitweise über 1.000 Flugzeugen schlug Hunderttausende in die Flucht. Seither ist die Region spannungsreich und instabil.
An Auslands-„Missionen“ der Bundeswehr hat sich die Bevölkerung seither nahezu gewöhnt — ob in Afghanistan, in Mali, in Syrien oder zur Luftraumüberwachung im Baltikum. Ist dies wirklich ein Grund zum Feiern? Die nächste Antwort wird die Friedensbewegung auf den längst schon traditionellen, aber immer wichtigeren Ostermärschen geben. Informationen zu den Planungen befinden sich auf der Website der Friedenskooperative (10).
WDR: Es begann mit einer Lüge — Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/redaktion/berliner-forum-aussenpolitik/pdf/europa-umfrage_tabellenband.pdf
Siehe auch die aktuelle Umfrage von 2019: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/289426/umfrage/umfrage-zum-ausbau-der-bundeswehr-auslandseinsaetze/
(2) https://www.heise.de/tp/features/NATO-Militaerbudgets-im-Widerstreit-3370880.html
(3) https://www.nato.int/kosovo/all-frce.htm
(4) https://www.welt.de/politik/ausland/article190731393/20-Jahre-danach-Maas-haelt-Nato-Eingreifen-in-Serbien-nach-wie-vor-fuer-richtig.html
(5) https://www.youtube.com/watch?v=5TBCrRPXEqc - Viele Zitate und Fakten in diesem Artikel, so keine andere Quelle angegeben ist, entstammen dieser ARD-Dokumentation von Joe Angerer und Matthias Werth „Es begann mit einer Lüge“
(6) Zitat aus der Rede von Josef Fischer auf dem Parteitag der Grünen zum Balkankrieg: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wortlaut-auszuege-aus-der-fischer-rede-a-22143.html
(77) https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2017/Scharping-schasst-General-Kritik-am-Kosovo-Krieg-unerwuenscht,scharping6.html, https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Loquai
(8) http://www.japcc.org/wp-content/uploads/Future_Vector_II_web.pdf, S. 39 Übersetzungen: B. T.
(9) https://www.faz.net/aktuell/politik/ost-erweiterung-der-nato-was-versprach-genscher-12902411.html
(10) https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2019