Stellen Sie sich vor, Sie gehen am Samstag shoppen, betrachten ein Schaufenster, vielleicht auf der Suche nach einem neuen Mantel oder einem Schal, doch stattdessen fällt ihr Blick auf einen Satz.
Mein Haus hat keine Türen oder Fenster, kein Wasser, keinen Strom. Es ist wie draußen zu leben. (Malak, 12, Gaza)
Der Satz ist umgeben von einer irritierenden Grafik. Eine Installation wie diese ist die Idee von Dan Arenzon. Er und seine Mitstreiterin Khadijeh Moghaddam wollen möglichst überall auf der Welt Einzelhändler dafür gewinnen, bei ihrem Projekt mitzumachen und es damit zu unterstützen.
100 Millionen Minderjährige sind direkt von Krieg bedroht
Dan Arenzon kommt aus Argentinien, hat seit seiner Kindheit in Buenos Aires eine große Vielfalt an künstlerischen Ausdrucksformen kennengelernt und sich als Künstler und Kunst-Dozent viele Gedanken darüber gemacht, was Kunst überhaupt vermitteln kann. Mit dem Aufkommen des Internets und neuer digitaler Techniken entdeckte er auch neue Möglichkeiten der Kunst, um sie auf globaler Ebene einzusetzen. Seine digitale Hommage an das Opfer eines Terroranschlags war das erste Kunstwerk dieser Art in Südamerika. Gewalt blieb seitdem zentrales Thema seiner künstlerischen Arbeit. Sein neues Projekt widmet sich nun den schlimmsten Opfern von Kriegen: den Kindern und Minderjährigen.
„Ich habe dieses Projekt nicht geplant“, erklärt mir Dan.
„Die Entstehung ist – wie bei all meinen künstlerischen Projekten – einfach passiert. Meine Kunst geschieht, weil ich Eindrücke von außen nicht abwehre. Die vielen Bilder von Kindern in Kriegen, die überall zu sehen sind, wurde ich nicht mehr los.“
Zudem hat Dan in seinem Leben immer wieder Kontakt mit Menschen, die ihre Kindheit im Krieg erlebt haben. Sein Lebens-Partner wuchs als Kind im Irak-Iran-Krieg auf. Dan arbeitet ehrenamtlich in der „Not- und Gemeinschaftsunterkunft für LSBTI - Geflüchtete in Berlin” und weiß aus ihren Erzählungen, was Krieg für ein Kind bedeutet.
Zum einen leiden die Kinder unter immerwährender Angst, Hunger und Mangel. Doch in vielen Fällen ist das längst nicht alles. Kinder verlieren ihre Eltern oder engsten Bezugspersonen. Sie erleben, dass ihre Eltern machtlos sind und sie nicht beschützen können. Wenn Kinder fliehen müssen oder in Besatzung geraten, verlieren sie die Sprache, die sie gerade erst gelernt haben, die Kontrolle über ihr Leben, ihr Zuhause, ihre Möglichkeiten, sich für eine bestimmte Zukunft entscheiden zu können.
Nach einer Schätzung der UNESCO leiden weltweit etwa 500 Millionen Kinder unter Kriegen oder deren Folgen. Etwa 100 Millionen sind derzeit akut von militärischen Konflikten bedroht.
Bilder von Kindern wecken starke Emotionen
Natürlich ist es nicht so, dass Kinder in der öffentlichen Berichterstattung keine Rolle spielen. Doch genau betrachtet sind sie allzu häufig das Mittel der Wahl, um über den Weg des Herzens die Solidarisierung der Öffentlichkeit mit einer Kriegspartei zu erreichen.
Wir erinnern uns an die Brutkastensäuglinge, mit denen die Welt gegen Saddam Hussein aufgebracht wurde. Das Bild des blutüberströmten Jungen in Syrien ging um die Welt und ebnete den Weg zur moralischen Unterstützung der Bewaffnung von sogenannten „oppositionellen Rebellen“, ein Akt, der als völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes eigentlich sofort Protest hervorrufen müsste.
Und auch Donald Trump hat nun wieder das Leid der Kinder bemüht, um seine Bombengeschwader im Norden Syriens „humanitär“ erscheinen zu lassen. Die katastrophalen Folgen solcher militärischen Aktionen für die Kinder in diesen Regionen werden natürlich verschwiegen. Hinter einem derartigen Missbrauch des Leides von Kindern steht nicht Mitleid, es sind eiskalte PR-Strategien der Rüstungsindustrie.
Umso mehr muss man aber an diese Kinder und ihr Leid erinnern! Aber wie? Und wie vermeidet man es, sich in den Dienst politischer Interessen zu stellen? Das Konzept von Dan Arenzon gibt darauf eine Antwort. Ihm geht es in erster Linie darum, die Perspektive der Kinder einzunehmen, ihr Leid am Krieg fühlbar zu machen. Mit der Kamera drauf halten, ist für ihn keine Option. „Es gab schon Hunderte solcher Foto-Ausstellungen“, sagt er, „die nicht das Geringste geändert haben. Ganz im Gegenteil, Studien belegen sogar, dass solche Bilder die Ansicht fördern, dass Kriege unvermeidbar seien.“
Er vertraut auf die Möglichkeiten der Kunst, deren Aufgabe es ist, eine Sprache für das zu finden, was wir mit den sonst üblichen Mitteln nicht ausdrücken können. Und so kam er auf die Idee, Aussagen von Kindern aus Kriegsgebieten in Schaufenstern zu präsentieren – begleitet von Computerprojektionen oder Animationen.
Dabei hilft ihm die iranische Aktivistin Khadijeh Moghaddam, die bei der Organisation sozialer Projekte gegen Gewalt viele Erfahrungen gesammelt hat. Den Aktivisten geht es vor allem um respektvollen Umgang, sowohl mit den sehr persönlichen Äußerungen der Minderjährigen aus Kriegsgebieten als auch mit den Passanten, die von den Installationen überrascht werden.
Dan Arenzon: "Der Krieg und das Kind"
Mit Behutsamkeit für ein starkes Projekt
Bei ihrer Suche nach Partnern fallen die großen Handelsketten von vornherein aus, es sind die kleineren, privaten Geschäftsinhaber, die sich für das Projekt eignen, und unter denen sie bereits Unterstützer gefunden haben. In jede Installation werden auch die Wünsche der Partner einbezogen, erklärt mir Dan.
„In jedem Schaufenster werden wir ein Ambiente der Achtsamkeit schaffen, in dem sich Gefühle und Gedanken entfalten können. Gleichzeitig erfordert die Darstellung von Kindern in Lebensgefahr mitten im städtischen Raum Fingerspitzengefühl. Das ausgestellte Werk muss stark sein und Emotionen von Unsicherheit bis Aggression ermöglichen, ohne dass sich die Wut auf den Künstler oder das Geschäft richtet.“
Dan selbst versteht sich als Künstler, der je nachdem, was er ausdrücken möchte, sich mal der Literatur und mal der bildenden Kunst bedient. Weil es ihm beim Projekt „Der Krieg und das Kind“ darum geht, die Kinder selbst sprechen zu lassen, sammelt er Texte von Kindern, die in Kriegsgebieten leben, oder von dort kommen. Dabei mag er es nicht, wenn man sagt, er würde den Kindern eine Stimme geben. „Diese Kinder haben schon eine Stimme“, entgegnet er. „Das Problem ist, dass ihnen niemand zuhört.“
Anstelle also Kinder mit angstgeweiteten Augen zu fotografieren, präsentiert er Sätze und Fragen wie:
Wo ist die Mutti; wo ist mein Vater? (Kind aus Afghanistan, 6 Jahre alt)
Selbst Menschen, die von Schreckensbildern in den Nachrichten bereits abgestumpft sind, können von dem unerträglichen Verlust berührt werden, der aus diesen wenigen Worten spricht.
Damit schaffen Dan Arenzon und Khadijeh Moghaddam zwei Dinge gleichzeitig. Sie bieten den Kindern einen Raum, damit sie gehört werden, und diejenigen, die lesen, werden auf die denkbar sensibelste Art an das erinnert, woran sie nicht gern denken. Schon gar nicht beim Shoppen.
Nun kann man sich die Reaktionen vorstellen: „Mir tun die ja leid, aber was soll ich denn machen? Was kann ich denn dafür, wenn sich diese Moslems immer bekriegen müssen?“
Dan und Khadijeh haben eine bildliche Antwort gefunden, die ein solches Denken nicht ganz so leicht macht. Es ist einfach und klar, wie vermutlich vieles, was Dan macht. Sie haben eine Weltkarte erarbeitet, die zum einen zeigt, welche Länder Waffen herstellen und zum anderen, in welchen Regionen diese Waffen eingesetzt werden. Herstellerländer gibt es nur wenige, und es sind ausnahmslos die reichsten Länder der Welt, Kriegs- und Krisengebiete gibt es weitaus mehr und die meisten davon gehören zu den ärmsten Ländern der Welt. Überschneidungen gibt es fast keine.
Auf dieser Karte wird die Welt praktisch aus der Sicht der Rüstungsproduzenten betrachtet, und Kriegsgebiete treten als das hervor, was sie sind: Absatzmärkte dieser Riesenunternehmen. Diese Karte wollen die beiden Künstler auf der Internetseite des Projektes oder auch in einem Schaufenster präsentieren oder als Begleitmaterial in einem Geschäft anbieten.
Ich möchte von Dan wissen, welche Wirkung er sich erhofft.
„Als erstes möchte ich die Herzen der Passanten berühren. Aber neben dieser spirituellen Verbindung mache ich auch Angebote. Es wird einen Verweis auf unsere Internetseite geben, wo man sich über verschiedene Formen des Friedensengagements informieren kann, außerdem Unterschriftenlisten für aktuelle Petitionen aus der Friedensbewegung.“
Die grundlegende Idee ist, dass dieses Projekt auf der ganzen Welt stattfinden soll, vor allem natürlich in den Ländern der Rüstungsindustrie.
Es gibt bereits Partner aus der Friedensbewegung in Amerika, Europa und im mittleren Osten. Alle Akteure können über dieses Projekt miteinander verlinkt werden. So könnte eine Art weltweite Friedensbewegung im Namen der Kinder entstehen. Ein ehrgeiziges, aber klares Ziel. In Köln sind die ersten konkreten Partner bereits gefunden und 2018 sollen die ersten Schaufenster eingerichtet werden. Doch für die Realisierung ihres Projektes brauchen Dan und Khadijeh noch viele Unterstützer, spirituelle und praktische. Multiplikatoren aller Art, auch Spenden sind willkommen.
In einigen Monaten wird es eine neue Website geben, derzeit kann man sich auf der Künstlerwebsite von Dan Arenzon über das Projekt informieren.
Redaktioneller Hinweis: Alle gezeigten Grafiken sind Arbeiten des Künstlers und Teil des Projektes. Über das Teilen dieses Artikels hinaus bleibt das Urheberrecht exklusiv bei Dan Arenzon.
Dan Arenzon wuchs mitten in der Kunstszene von Buenos Aires auf und kam schon früh mit verschiedenen Künstlern in Berührung. Er hat in verschiedenen Ländern als Künstler gearbeitet und unterrichtet und dabei die unterschiedlichsten Formen von Kunst in ihrer Prägung durch Traditionen, kulturellen Hintergrund, politische Weltanschauungen und mediale Entwicklungen kennengelernt. Sein erstes Anti-Gewalt-Projekt war gleichzeitig die erste große digitale Ein-Mann-Show in Südamerika: History of the Explosion, eine Hommage an einen Künstler, der bei einem Terroranschlag in Buenos Aires ums Leben kam. Sein zweites Projekt „Yurope 99“ war eine Website zur Schmerzbewältigung für Freunde in Jugoslawien, die unter den Bomben des zehnjährigen Balkankriegs gelitten haben. Es wurde zur 49. Biennale in Venedig eingeladen. Derzeit lebt Dan Arenzon in Berlin.
Khadijeh Moghaddam Ist Aktivistin für Umweltgerechtigkeit und Frauenrechte und Mitbegründerin der folgenden Organisationen im Iran: Women Against Enviromental Pollution Society 1995; Green Outlook Supporters Cooperative 1999; One Million Signature Campaign 2005; Mothers of Peace 2007; Peace Council in Iran 2008; Mothers of Parkelaleh 2009. Seit 2015 verwaltet sie von Europa aus ihre Website für Frauen und nachhaltige Entwicklung.