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Der Krieg der Ideologien

Der Krieg der Ideologien

Bei der Bewertung des Ukrainekriegs stehen „Idealisten“, die von moralischen Maximalforderungen ausgehen, den „Realisten“ gegenüber, die Geschichte als Machtspiel deuten.

In dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zur Militärhilfe vom März 2022 hatte dieser die Lieferung von Panzern als solche noch nicht als Kriegsbeteiligung eingeschätzt, die entsprechende Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland aber schon, nämlich als Grauzone mit völkerrechtlichen Konsequenzen. Genauso wird das auch in Russland kommentiert, scheint aber bei uns, hier in Deutschland, kaum jemanden zu irritieren.

Kanzler Scholz hat im Bundestag erklärt, dass wir nicht Kriegspartei sind und es auch nicht werden und dass wir mit den USA und der NATO so fest zusammenstehen wie nie zuvor. Ein solches Unisono zwischen Regierung, großen Teilen der Opposition, Medien und Volksmeinung ist für Deutschland ziemlich ungewöhnlich. Über die Zukunft nach einem Ende des Krieges und das künftige Verhältnis Deutschlands und Europas zu Russland wird wenig diskutiert. Wir sind von diesem Krieg völlig überrascht worden, die Verteidigungspolitik und die Bundeswehr hatten sich fast auf einen ewigen Frieden eingestellt, wenigstens in Europa.

Die Debatte zwischen Idealisten und Realisten in den USA

Interne Kritiker werfen den Vereinigten Staaten vor, dass sie nach 1945 ständig Krieg geführt haben und über die weit stärkste und teuerste Militärmacht der Welt verfügen. Dort wird die Debatte zwischen Politik, Militär und Intellektuellen aus Wissenschaft und Thinktanks auch über die langfristigen Perspektiven des Ukrainekonflikts intensiver und kontroverser geführt. Es geht um die zwei Denkschulen auf dem Gebiet der internationalen Angelegenheiten, die „liberals“ und die „realists“, wobei man die liberals hier eher Idealisten nennen sollte, um Verwechslungen mit einer politischen Partei zu vermeiden.

Historisch von Kants moralischem Ansatz in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795 beeinflusst, gehen die Liberalen in den USA von der Auffassung aus, dass die Weltpolitik eine Arena ist, in der moralische Werte, Rechtsnormen und Institutionen entscheidend sind.

Diese würden das Verhalten der Staaten untereinander regulieren und die Aussichten auf Zusammenarbeit und Frieden verbessern, die Grundlage der Vereinten Nationen und die regelbasierte Weltordnung in der modernen Formulierung.

Die Vertreter des klassischen Realismus oder der „Realpolitik“ bleiben dagegen skeptisch, was den Frieden betrifft. Sie sind der Ansicht, dass Staaten im Wesentlichen durch das Streben nach Macht und nationalen Interessen angetrieben werden, indem sie sich auf militärische Macht verlassen. Sie betrachten die internationale Arena als weitestgehend anarchisch.
Auf dem Hintergrund dieser Unterschiede wird die Diskussion über den Russland-Ukraine-Krieg in Washington zunehmend und deutlicher als in Deutschland von der Frage beherrscht, wie er enden könnte. Dazu hat der einflussreiche Thinktank RAND Corporation im Januar eine Studie veröffentlich, die mit dem folgenden Link heruntergeladen werden kann.

In dieser Studie werden Varianten aufgezeigt, wie sich der Krieg entwickeln könnte und wie sich alternative Verläufe auf die Interessen der USA auswirken würden. Die Autoren argumentieren, dass es den Interessen der USA nicht nur am besten dienen würde, die Risiken einer Eskalation bis zur Nuklearschwelle zu minimieren, sondern auch einen sich immer länger hinziehenden Konflikt zu vermeiden. Die Kosten, für 2022 allein rund 29 Milliarden US-Dollar, und die militärischen Risiken eines langen Krieges in der Ukraine würden die möglichen Vorteile eindeutig überwiegen. Ein Sieg der Ukraine wird dabei als extrem unwahrscheinlich eingestuft. Obwohl Washington die Dauer des Krieges nicht selbst bestimmen kann, könne es Maßnahmen ergreifen, die eine Beendigung des Konflikts auf dem Verhandlungswege wahrscheinlicher machen.

Die Autoren stützen sich auf die Literatur über die Beendigung von Kriegen und identifizieren die Haupthindernisse für Gespräche zwischen Russland und der Ukraine, etwa den gegenseitigen Optimismus über den Ausgang des Krieges und den gegenseitigen Pessimismus über die Aussichten auf einen anschließenden Frieden. In der Perspektive werden vier politische Instrumente hervorgehoben, um diese Hindernisse abzumildern: Klärung der Pläne für die künftige Unterstützung der Ukraine, Zusagen für die Sicherheit der Ukraine, Zusicherung der Neutralität des Landes und Festlegung von Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Natürlich haben die USA auch ihre Falken und die sehr einflussreiche Rüstungslobby, zumal Verteidigungsminister Lloyd Austin, ehemaliger General und Direktor der zweitgrößten Waffenschmiede Raytheon, schon vor Monaten die militärische Kastration Russlands als Ziel der USA-Hilfe erklärt hat. General Mark Milley, als Chairman of the Joint Chiefs of Staff ranghöchster Sprecher der Armee, warnt dagegen seit 2021 vor einer direkten Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland durch eine Eskalation.

Die Ukraine-Debatte in Deutschland

Die spontane Sympathie der meisten Deutschen gilt mehr dem David, der sich verteidigt, als dem Goliath, der angreift. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat diese Interpretation des Krieges meisterhaft medienwirksam immer wieder neu formuliert. Wer in der Debatte die Frage stellt, ob die Politik der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 vielleicht das Verhältnis zu Russland beeinträchtigt haben könnte, wird sofort einer Täter-Opfer-Umkehr beschuldigt. Das gilt ebenso bei Zweifeln an der These, dass im Freiheitskampf der Ukraine auch unsere Freiheit und die Demokratie mit verteidigt werden. Davon ist offenbar eine klare Mehrheit der Deutschen überzeugt und mit ihnen auch eine Mehrheit der europäischen Nachbarn.

Aus der Bundeswehr sind keinerlei Maßnahmen zur Abschreckung gegenüber Russland erkennbar. Falls der Ukrainekrieg eskalieren sollte, wäre Deutschland vollkommen auf die USA und die NATO angewiesen, Zeitenwende und Sondervermögen brauchen erheblich mehr Zeit, um wirksam zu werden.

Für die vorhergehenden Bundesregierungen und die Ampelkoalition waren Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bis zum 24. Februar 2022 kein Thema oder zumindest keine Priorität. Die vor allem von den Grünen und der zuständigen Ministerin Annalena Baerbock postulierte „wertebasierte Außenpolitik“ hatte den Effekt, dass neben der notwendigen Verurteilung des Aggressors Russland auch die fast bedingungslose Unterstützung der Ukraine praktisch zur Staatsraison werden musste.

Während die RAND-Studie ergebnisoffen die Möglichkeit eines Kompromisses über die Grenzen der Ukraine bei teilweiser Gebietsabtretung erörtert, unterstützt Baerbock das maximale Kriegsziel von Präsident Selenskyj, die Grenzen von 2014, also einschließlich der Krim, wiederherzustellen. Durch die dadurch zusätzlich eingeschränkten diplomatischen Möglichkeiten Deutschlands werden Denkansätze zu einer Friedenspolitik wie in den USA oder gar eine Mittlerrolle praktisch ausgeschlossen. Bei den nach der Wiedervereinigung vielfältig gewachsenen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland, nicht nur im Energiesektor, wäre eine solche Mittlerrolle eigentlich denkbar gewesen.

Altkanzler Gerhard Schröder mag an eine persönliche Mission bei seinem Freund Wladimir Putin geglaubt haben, seine Moskau-Reisen und seine Warnungen gegen Waffenlieferungen wurden jedoch schon wegen seines Engagements bei Gasprom von Medien und Mehrheit als absurd abgetan. Spitzenpolitiker in den neuen Bundesländern, die vom Ende der Gas- und Öllieferungen besonders betroffen sind, werden als Putinversteher und Russlandsympathisanten angegriffen. Außenministerin Baerbock sagt im Europarat in Straßburg, überlegt oder nicht, dass wir im Krieg gegen Russland stehen, und der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, der erfahrene Diplomat Christoph Heusgen, befürwortet sogar die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Ukraine. Kanzler und Auswärtiges Amt rudern zurück, aber insgesamt ist die Gefühlslage in Deutschland verblüffend unisono und die relativ wenigen warnenden Stimmen von Intellektuellen treffen auf Entrüstung und Ablehnung, wie etwa die Initiative um Alice Schwarzer.

Die deutsche Debatte ist eindeutig und ganz überwiegend idealistisch im oben skizzierten Sinne. Realisten wie der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer, der in der Ukrainefrage auch die Rolle der NATO analysiert, oder auch der greise Henry Kissinger werden bei uns abgetan, als hätten sie keine Ahnung und lägen völlig falsch. Wie gefährlich das Deutschland werden kann, muss auf jeden Fall intensiver und offener diskutiert werden. Dass Kanzler Scholz versucht, einzelne Falken in Regierung und Parlament zu zügeln, wie vor einigen Tagen seine Parteivorsitzende Saskia Esken oder Außenministerin Annalena Baerbock, lässt hoffen, dass Deutschland nicht immer noch mehr zur Eskalation des Krieges beitragen wird.

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