Meine liebe Frau weiß mehr als ich. Sie kennt sich aus mit der Liebe, und ich habe davon wenig Ahnung. Das muss ich zugeben. Und sollte ich mich selbst beschreiben, so müsste ich wohl sagen, dass ich eher der analytische als der romantische Typ bin. Nur will ich gar nicht von mir reden — jedenfalls nicht mehr als nötig.
In einem aktuellen Text spricht Elisa Gratias von der Liebe und der Sexualität als der größten Weltmacht, und sie fragt, warum selbst systemkritische Menschen die Liebe oder den Mangel daran bei ihren Analysen völlig außen vor lassen (1). Ich fühle mich angesprochen und will die Frage nicht unbeantwortet lassen.
Der gleichen Frage bin ich als Idee vor ungefähr zehn Jahren inmitten meines politischen Engagements begegnet: Es müsste nur mehr Liebe zwischen den Menschen geben. Wenn wir das hätten, dann hätten wir alles. Hierin läge der Schlüssel, um die Probleme der Menschheit zu lösen. Mit dem Gedanken konnte ich damals nichts anfangen. Wie denn genau? Das wäre so meine erste Frage gewesen, wenn ich darüber hätte nachdenken wollen. Offen und kurz gesagt, habe ich den Gedanken nicht ernst genommen.
Heute bin ich einen Schritt weiter. Ich nehme nicht nur diesen Gedanken ernst, sondern versuche grundsätzlich offener für Ideen und Gedanken zu sein, um Dinge zu verstehen und eben nicht nur meine Sichtweise zu festigen — oder schlimmer noch — durchzusetzen. Diesem Anspruch zu genügen, ist dann wiederum nicht immer so leicht, und an der Stelle, „mich zu zwingen, eine Sache, bei der ich mir ganz sicher bin, auch von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten, selbst wenn ich ihn für falsch oder dumm halte“ (2), bin ich noch lange nicht.
Wertewandel oder Systemwechsel
Es stimmt, dass die Liebe bei meinen Analysen und bei meiner Kritik nicht vorkommt, und dort, wo sie eben vielleicht auch hingehört, nämlich bei der Frage nach gesellschaftlichem Wandel, taucht sie auch nicht auf. Es sei an dieser Stelle vorweggenommen: Geht es ums Ganze, also um die Aufhebung des Kapitalismus, dann sehe ich die Liebe nicht als entscheidenden oder maßgeblichen Aspekt. Hier ist dann eine Unterscheidung angebracht zwischen dem, was man einen allgemeinen gesellschaftlichen Wandel oder auch einen Wertewandel nennen könnte, und einer Transformation, die den Kapitalismus beenden soll und die auf eine neue Gesellschaft ausgerichtet ist.
Ungeachtet dieser Unterscheidung stehen zunächst zwei Ansätze im Raum, die eine Änderung der Gesellschaft bewirken sollen. Der eine Ansatz ist die Veränderung des Verhaltens auf individueller Ebene. Wenn ich beispielsweise bewusster konsumiere, einen fairen Preis bezahle, auf Fleisch verzichte und das Fahrrad dem Auto vorziehe, dann versuche ich auf eine Art und Weise zu leben, die so ist, dass alle heute und in Zukunft gut leben können. Wenn sich ein solches Verhalten verallgemeinert, dann kann diese Welt auch für nachkommende Generationen lebenswert sein. Dieses Verhalten hängt auch mit einem Bewusstsein für die Zustände zusammen und beinhaltet die Hoffnung, auf diese Weise zu einem insgesamt geänderten Verhalten als Gesellschaft zu kommen.
Der andere Ansatz sieht vor allem die Politik in der Verantwortung. Dort müssten die entscheidenden Schritte unternommen und die Richtung vorgegeben werden. Beide Ansätze passen gut zusammen, und nicht selten folgen politische Richtungsentscheidungen oder auch Änderungen im ökonomischen Bereich einem vorhergehenden Wandel von Vorstellungen und einem geänderten Verhalten in der Gesellschaft. Man kann sagen, dass beides nötig ist: die Veränderung des individuellen Verhaltens und die Ausrichtung der Politik. Doch genügt das, um den Kapitalismus zu überwinden?
Verschiedene Transformationstheorien
Der Unterschied zwischen einem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel und einem gesellschaftlichen Wandel, der explizit den Kapitalismus überwinden möchte, lässt sich gut mithilfe der Darstellung verschiedener Transformationstheorien aus dem Buch „Kapitalismus aufheben“ (3) von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz begreifen. Simon und Stefan unterscheiden drei Arten von Transformationstheorien: interpersonale, politisch-staatliche und die sogenannten Aufhebungstheorien.
Interpersonale Transformationstheorien stellen die Veränderung des individuellen Verhaltens in den Mittelpunkt, während die politisch-staatliche Transformation auf die Politik als Sphäre der Veränderung orientiert. Reform und Revolution sind die klassischen Konzepte einer politisch-staatlichen Transformation. Aufhebungstheorien zielen auf die Überwindung des Kapitalismus. Nach Ansicht von Simon und Stefan werden wir weder mit einer interpersonalen noch mit einer politisch-staatlichen Transformation aus dem Kapitalismus herauskommen.
Die Veränderung unseres individuellen Verhaltens kann durchaus zu einem gesellschaftlich anderen Handeln führen, zu einem Werte- und Kulturwandel — gerade dann, wenn viele Menschen daran teilhaben. Die gesellschaftlichen Umwälzungen als Resultat der sozialen Bewegungen der 1960er-Jahre sind ein sehr prominentes Beispiel, wie sich Werte und eine gesellschaftliche Kultur ändern können, und auch die Umweltbewegung hat zu einem merklich anderen Bewusstsein bei den Menschen geführt. Das Bewusstsein für den Erhalt der Natur als Grundlage menschlichen Lebens wird sich ausweiten, mehr Menschen erreichen, individuelles Verhalten ändern und letztlich auch zunehmend die Politik und die Gesellschaft beeinflussen.
In engem Zusammenhang mit einem gestiegenen Umweltbewusstsein steht die Konsumkritik, an der man recht gut das festmachen kann, was allgemein für interpersonale Transformationstheorien gilt. Ein geänderter Konsum ist fair gegenüber den ProduzentInnen, und er schont Mensch, Tier und Natur. Gleichzeitig ist er nur eine nachträgliche Korrektur und ein Hinterherrennen hinter den Symptomen einer grundsätzlich falschen Wirtschaftsweise. Er ändert nichts an den grundlegenden Verhältnissen, nichts an der Verwertungs- und Profitlogik und nichts an den Eigentumsverhältnissen.
Eine rein interpersonal gedachte Transformation schafft — in den Begrifflichkeiten von Simon und Stefan — keine neue Lebens- und Handlungsbedingungen und keine neue Vermittlungsform: Wir verfügen weiterhin nicht über die Bedingungen zur Produktion und zur Reproduktion, können sie nicht nach unseren Bedürfnissen ausrichten und haben nicht die Freiheit, allein auf der Basis von Freiwilligkeit tätig zu sein. Aus der Erfahrung emanzipatorischer Bewegungen heraus und in der Erkenntnis, dass man nur aufgrund der Änderung seines individuellen Verhaltens noch keinen Systemwechsel herbeiführen kann, erfolgt oft die Hinwendung zu einer politisch-staatlichen Transformation.
Das Verhalten auf individueller Ebene kann nur der Anfang sein. Es ist die Politik, die es am Ende richten muss, so der logische Schluss dieser Überlegung. Eine Aufhebungstheorie, die auf eine befreite Gesellschaft zielt, wird wahrscheinlich beiden Ansätzen — auch in kombinierter Form — eine Absage erteilen.
Die Liebe in der Inklusionsgesellschaft
Eine interpersonale Transformation wird nicht genügen, um den Kapitalismus zu überwinden. Wie die Liebe — in all ihren Formen, ob als Selbstliebe, in der Paarbeziehung, zwischen Eltern und Kindern oder ganz allgemein als Nächstenliebe — dies leisten könnte, bleibt zudem unklar. Wenn es ums Ganze geht, also um die Überwindung des Kapitalismus, dann braucht es mehr.
Die Qualität einer Aufhebungstheorie liegt darin, dass sie Ziel und Weg vorab bestimmt: Wie sieht sie aus, die befreite Gesellschaft, und wie gelangen wir dorthin? Die wesentlichen Merkmale, das heißt die Frage nach der Produktion und Reproduktion und die Vermittlungsform, also das, was im Kapitalismus der Tausch Ware gegen Geld ist, müssen geklärt sein.
Umgekehrt finden interpersonale Transformation und Aufhebungstheorien zusammen, denn die Änderung des individuellen Verhaltens, andere Formen von Produktion und Reproduktion, andere Formen des Zusammenlebens und ein anderes Miteinander-in-Beziehung-Treten, werden Teil eines Konstitutionsprozesses sein, der in der alten Gesellschaftsordnung ablaufen muss, der aber gleichzeitig auf das Neue zielt. Innerhalb dieses Konstitutionsprozesses werden die Qualitäten des Menschlichen, die jetzt zum Teil nur schlummernd, still oder unterdrückt vorhanden sind, zur Entfaltung kommen und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen neu gestalten (4).
Wenn die befreite Gesellschaft auf Freiwilligkeit beruht, sie die Teilhabe aller gewährleisten soll und alle Bedürfnisse gleichermaßen berücksichtigt werden sollen und wenn es, wie im „Commonismus“ — dem Utopievorschlag von Simon und Stefan —, sogar naheliegend sein soll, die Bedürfnisse anderer zu inkludieren, dann müssen nicht nur die eigenen Gefühle „als die wertende Verbindung zwischen meinen Bedürfnissen und der Welt“ (5) ernst genommen werden, sondern ebenso die Gefühle und Bedürfnisse aller anderen.
An der kollektiven Verfügung sowie an Diskussions- und Organisationsprozessen sollen alle teilhaben. Ein exklusiver Kreis alter weißer Männer muss dann keinen Verdrängungswettbewerb mehr vorantreiben, um im Ergebnis seine Diskurse alleine zu führen. Dann können Menschen aller Altersklassen, die Geschlechter, verschiedene Kulturen, die Herz- und Kopfmenschen, einfach alle in ihrer Unterschiedlichkeit zusammenfinden und gemeinsam reden, planen, handeln und leben. Auch die Liebe — in all ihren Formen — wird sich dann zunehmend entfalten können. Ihre zarten Triebe, die im Konstitutionsprozess bereits hervorscheinen, werden in einer Gesellschaft, die auf Inklusion beruht, zu vollständiger Blüte gelangen.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.rubikon.news/artikel/die-grosste-weltmacht
(2) Nancy Horowitz Kleinbaum: Der Club der toten Dichter, Bastei Lübbe Verlag, 1990, Seite 61.
(3) Simon Sutterlütti, Stefan Meretz: Kapitalismus aufheben, VSA Verlag, 2018.
(4) Ebenda, Seiten 189 folgende.
(5) Ebenda, Seite 240.