Vorweg: Ich stimme allem zu.
Dem, was Heribert Prantl in der Süddeutschen geschrieben hat:
„Das Urteil muss Sorgen machen; es hat toxische Wirkung. Es ist zu fürchten, dass nun kritische Vereine und Verbände finanziell ausgehungert werden.“
Und natürlich ist es völlig berechtigt, auf den Skandal hinzuweisen, wer denn da alles problemlos als gemeinnützig anerkannt ist, während man Attac das Eintreten für eine Spekulationssteuer ankreidet.
Aber werden wir grundsätzlicher. Inwieweit nämlich ist der bürgerliche Staat ein Instrument, das sich zumindest teilweise auch für den Kampf gegen den Kapitalismus einsetzen lässt?
Staatliche Spielräume nutzen?
Attac hat diese Strategie verfolgt: im Rahmen des bürgerlichen Rechtsstaates und unter Ausnutzung seiner gesetzlichen und speziell auch vereinsrechtlichen Möglichkeiten Druck machen für Gesetzesänderungen, die die Spielregeln des Kapitalismus im Interesse der Mehrheit verändern - die dem bürgerlichen Staat aber auch mehr Einnahmen bescheren - Tobinsteuer! - und ihn so gegenüber der „freien“ Wirtschaft wieder handlungsmächtiger werden lassen.
Es wäre sinnloser Radikalismus, dieses Herangehen prinzipiell infrage zu stellen. Es gibt kein Leben und keinen Aktivismus außerhalb des Systems. „Das System“ ist längst allumfassend geworden, und längst nicht nur in unseren Breiten, sondern weltweit.
Die staatlichen Spielräume, die etwa Attac für seine Variante des Aktivismus und der Aufklärungsarbeit genutzt hat, sind ausnahmlos erkämpft worden. In der konkreten Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft sind nicht nur die Klasseninteressen der herrschenden Minderheit zu Recht und Gesetz geronnen. Auch unsere Kämpfe und Interessen sind dort eingegangen, hineingekämpft worden.
Aber eben nicht zu gleichen Teilen - und vor allem ist der Staat dadurch, dass er widerwillig die Funktion des Klassenausgleichs betreibt, noch lange kein neutrales Terrain, kein rein mechanisches Instrument ohne klassenmäßigen Charakter.
Wir haben es mit einem Klassenstaat zu tun.
Der Klassen-Staat
Der bürgerliche Staat ist das Instrument der herrschenden Minderheit.
Nachdem auch die LINKE, die Gewerkschaften, die NGOs und überhaupt fast alle „fortschrittlichen“ Akteure des Jahres 2019 in Deutschland unhinterfragt darauf setzen, das, was sie erreichen wollen, in letzter Instanz durch diesen Staat zu erreichen gedenken, scheint dieser Hinweis nicht überflüssig.
Mit Wehmut denkt man zurück an Zeiten, in denen Staatstheorie und Parlamentarismuskritik zu den theoretischen Selbstverständlichkeiten der linken Bewegung zählten. Den Zustand der Theoriearbeit in diesem Land und in dieser Zeit jedoch wollen wir rücksichtsvoll nicht näher beleuchten. Die Selbstverständlichkeit, mit der gesellschaftliche Veränderung nur noch in ihrer Vermittlung durch den Staat gedacht wird, stellt allerdings eine geistige Bankrotterklärung dar.
Zuvorderst sei darauf hingewiesen, dass Staat keine naturgesetzliche Notwendigkeit ist. Die bei weitem allermeiste Zeit der Menschheitsgeschichte haben wir ohne Staat existiert. Friedrich Engels schrieb in der auch heute noch sehr lesenswerten Untersuchung „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“:
„Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit Spaltung der Gesellschaft in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit.“
Engels sehr optimistischer Ausblick freilich will uns heute nicht gut die Kehle hinunter:
„Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“
Der Gedanke, dass die herrschende Minderheit längst ein „positives Hindernis der Produktion“ geworden ist, sollten wir uns geistig markieren. Ob sie fällt oder nicht, liegt nur weniger daran und ist, wie wir inzwischen wissen, leider auch nicht „unvermeidlich“. Es liegt an uns.
Staat & Kapital
Wir halten ferner mit Engels fest:
"Der Staat (…) ist (…) keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungenen Macht; ebensowenig ist er 'die Wirklichkeit der sittlichen Idee', 'das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft', wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist.“
Wäre die Klassengesellschaft lediglich „in unversöhnliche Gegensätze“ gespalten, gäbe es zwischen den Klassen also nur Gegensatz und keinerlei wenigstens temporäre Vermittlung, wäre das Ergebnis zunächst einmal: keine Gesellschaft.
Um als Gesellschaftsganzes zu funktionieren, um die Spannung zwischen den Klassen als Triebkraft der Entwicklung wirksam werden zu lassen,
„...damit diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der 'Ordnung' halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“
Der Staat hat also tatsächlich Aufgabe, zwischen widerstreitenden Klassen und Interessen zu vermitteln. Aber er tut dies eben nicht als „ehrlicher Makler“, auch wenn er sich große Mühe gibt, als eben solche, neutrale Instanz, die wie ein himmlisches Schiedsgericht über den streitenden Parteien schwebt, zu erscheinen.
Friedrich Engels:
„Die höchste Staatsform, die demokratische Republik, die in unsern modernen Gesellschaftsverhältnissen mehr und mehr unvermeidliche Notwendigkeit wird und die Staatsform ist, in der der letzte Entscheidungskampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie allein ausgekämpft werden kann - die demokratische Republik weiß offiziell nichts mehr von Besitzunterschieden. In ihr übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus.“
Also Formen dieser indirekten Machtausübung nennt Friedrich Engels die Beamtenkorruption und die „Allianz von Regierung und Börse, die sich um so leichter vollzieht, je mehr die Staatsschulden steigen…“
1884 bis 2019
Haben sich die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit verschärft oder abgemildert, seit Friedrich Engels diese Sätze schrieb? Hat sich der Klassencharakter des Staates verfestigt oder repräsentiert der Staat nicht längst und besonders in Deutschland einen fest installierten Klassenkompromiss?
Der Augenschein mag uns hier trügen. Ja, wir leben nicht mehr im Elend der leibeigenen Bauern. Das Leben eines hiesigen, heutigen Armen bedeutet eine soziale Lage, für die vermutlich eine Mehrheit der Menschheit quer durch die Epochen die ihrige freudig eintauschen würde. Und ja, all das wurde erkämpft und es wurde auch kodifiziert im Staat, etwa als Arbeitsschutzgesetzgebung, Koalitionsfreiheit, Streikrecht, Wahlrecht, Rentenversichungssystem und Krankenkassenwesen.
Das sind Errungenschaften und sie sind real. Sie gering zu schätzen und abzutun, wäre reine Maßlosigkeit, ein maulheldischer Maximalismus fernab jeder gesellschaftlichen Realität. Deswegen ist der Ansatz von Attac, weitere Maßnahmen festschreiben zu lassen, die etwa dafür sorgen, dass die Reichen und Spekulanten mehr Steuern bezahlen, auch grundsätzlich richtig.
Aber haben sich die Klassenwidersprüche dadurch verschärft? Wohl kaum.
Was Karl Marx die „Tendenz des Kapitals zur Zentralisation und Konzentration“ nannte, hat seit diesen fernen Tagen nie aufgehört, zu wirken. Im Ergebnis besitzen heute, wie Bernie Sanders in jeder Wahlkampfrede ausführt, heute drei einzelne Multimilliardäre soviel Vermögen, wie die Hälfte der US-Bevölkerung.
Das sind unfassbare Zustände und ich bin nicht sicher, wo anders in der Menschheitsgeschichte sich eine vergleichbare soziale Spaltung finden ließe. Für die Frage nach dem Klassencharakter des Staates, der scheinbar neutral über dieser krassen Ungleichheit präsidiert, ergibt das recht eindeutige Hinweise.
Glaubt irgendjemand, dass solche drei Menschen, die soviel besitzen wie die Hälfte der Bevölkerung, jeden beliebigen Staat auf der Welt nicht nach Gutdünken beeinflussen können?
Ja, es wurde positive Dinge hineingekämpft in den bürgerlichen Staat. Aber erstens wurden sie eben genau das: hinein gekämpft, nämlich. Durch Massenbewegungen. Durch Massenstreiks. Durch massenhafte Verweigerung und massenhafte Organisation.
Desweiteren ist ein aus Recyclingstahl zusammengefügter Panzer mit Drei-Wegekatalysator oder Elektroantrieb womöglich ökologisch ein Fortschritt. Aber der Panzer wird dadurch nicht zu einer Trambahn. Er bleibt eine Kampfmaschine. Und wer diese Kampfmaschine kontrolliert, verfügt über eine enorme Macht.
Die harte Seite der Zange
Aber die Kampfbedingungen! Die sind doch nun zweifelhaft wesentlich bessere heute, als damals zu den Zeiten von Königen und Kaisern. Ja, in der Tat: sie sind besser. Und nie waren die Kampfbedingungen so schrecklich und verzweifelt schlecht, wie zu des Führers Zeiten.
Auch hier wäre es geschichtsvergessen, so zu tun, als wäre es nicht in der Tat eine gute Sache, dass wir heute ungestraft Unterschriften sammeln, demonstrieren oder unter gewissen Umständen sogar streiken dürfen.
Ein Blick nach Frankreich allerdings zeigt uns, wie wenig Verlass auf all diese Freiheiten dann ist, wenn es wirklich drauf ankommt, wenn es nämlich an das Eingemachte der Eigentumsverhältnisse geht. Dann wird mit Ausnahmezustand durchregiert, dann wird mit Gummigeschossen und Blendgranaten gearbeitet. Dann werden alle Methoden der Aufstandsbekämpfung angewandt.
Nun bin ich sehr dafür, alle Ritzen und Finten zu nutzen, um etwas Fortschrittliches durchzubringen. Spielräume erweitern sich, wenn man sie beharrlich und rotzfrech nutzt und ausdehnt.
Was mich aber bei Attac, der Linken von Kipping bis Wagenknecht und all den NGOs stört, ist die völlige Abwesenheit jeder Eventualplanung. Was eigentlich, fragt man sich, wollt Ihr denn machen, wenn die Räume dicht gemacht werden? Wenn auch in Deutschland mit dem Notstandsparagraphen, seit 1969 in Kraft, regiert wird? Wenn es hart auf hart kommt? Was dann?
Dann werden sich zunächst einmal all jene als historische Fehlzünder erweisen, für die „die Massen“ oder was sie unter einer Bewegung verstehen, immer nur die Staffage sind, um ihren Weg zum Wahlsieg mit Blüten zu bestreuen. All die Wagenknechte, für die Selbstorganisation ein Fremdwort und die Bewegungen nur Faktor in einem taktischen Kalkül sind, werden dann brutal versagen, nein: ihr Versagen, das jetzt durch den geliehenen Glanz der bürgerlichen Medien überstrahlt wird, wird dann offensichtlich werden.
Auch ob einem Bernie Sanders nicht Recht schnell die Antworten ausgehen werden, wenn die drei Multimilliardäre und ihr Anhang die harte Seite der Zange anziehen, darf füglich bezweifelt werden.
Die Macht liegt nicht im Staat
Wenn wir können, müssen wir uns auch staatlicher Mittel bedienen, um das Klassenverhältnis in unsere Richtung zu bewegen. Attac hat dies durchaus mit Erfolg getan, möchte man meinen. Aber worin bestand der Erfolg eigentlich?
Der Erfolg von Attac bestand im Erfolg von Attac. Die Organisation Attac wurde, gemeinnützig wie sie gewesen ist, erfolgreich. Was aber hat Attac durchgesetzt? Wird Spekulation besteuert? Sind dem Finanzwahnsinn an den Börsen strenge Regeln auferlegt worden?
Das soll hier kein Attac-Bashing werden. Denn in den besten Zeiten des Netzwerks war diese Organisation entscheidend für einige Massenmobilisierungen der globalisierungskritischen Bewegung.
Jetzt, da die Gemeinnützigkeit weg ist, wäre es an der Zeit, dahin zurückzukehren.
Und insgesamt könnten wir den Anlass dieses Gerichtsurteils nutzen, um uns einmal wieder grundsätzlich zu verständigen: über den Staat, das Kapital und unsere eigene Macht. Denn die liegt nicht im Staat. Sie liegt auch nicht im bewussten Konsumieren.
Sie liegt in der Produktion.