Über den Konflikt um die ukrainische Orthodoxie ist in Deutschland kaum etwas bekannt. Lediglich vor zwei Jahren gab es vereinzelte Berichte, als der damalige Präsident Petro Poroschenko im Dezember 2018 aus zwei schismatischen ukrainischen orthodoxen Kirchen eine neue Kirchenstruktur gründen ließ — die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU). Die Gründung dieser von ihren Urhebern als ukrainische Nationalkirche gepriesenen Organisation war die Bedingung für eine Anerkennung von Seiten des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomeus.
Das war ein juristischer Kniff: Nach einer diplomatischen Offensive aus der Ukraine und den USA versprach der Patriarch Präsident Poroschenko, der ukrainischen Orthodoxie die Autokephalie zu gewähren. Doch er konnte den Tomos — die schriftliche Zuerkennung einer Autokephalie — nicht einer schismatischen, nicht anerkannten Kirche gewähren. Deswegen stimmten die Schismatiker ihrer Auflösung zu und gründeten eine neue Kirche — die Bartholomeus mit seiner Unterschrift auf dem Tomos-Pergament am 5. Januar 2019 auch anerkannte. Zuvor hatte er die Zustimmung des Patriarchen von Konstantinopel, Dionysios IV., aus dem Jahr 1688 aufgehoben, wonach das Kiewer Metropolitenhaus dem Moskauer Patriarchen unterstellt wird.
Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK) und die mit ihr verbundene Russisch-Orthodoxe Kirche kritisierten diesen Schritt des Patriarchen scharf und erkannten ihn nicht an. Was er veranlasst habe, stelle eine Überschreitung seiner kirchenrechtlichen Kompetenzen und einen Alleingang dar. Zudem öffne diese Entscheidung die Pandora-Büchse des Kirchenseparatismus und spalte die Weltorthodoxie, so lautete der Vorwurf. Der Metropolit von Kiew, der Selige Onuphrius, argumentierte darüber hinaus, dass die UOK in ihren Entscheidungen ohnehin völlig selbstständig, unabhängig vom Moskauer Patriarchat agiere und ihre Autonomie bereits im Jahr 1990 erlangt habe — noch bevor die Ukraine selbst ihre Unabhängigkeit infolge der Auflösung der Sowjetunion erklärte.
ARD: Ein historischer Tag für das Land
Nun, wie reagierten die deutschsprachige Medien damals auf diese Prozesse? Sie feierten, obwohl nicht gerade für religiöse Frömmigkeit bekannt, begeistert mit. „Für die Ukraine ist die Gründung einer eigenen Kirche der Aufbruch in religiöse Eigenständigkeit ohne Moskau“, berichtete der Tagesspiegel. Ähnlich die Tagesschau:
„Warten auf den neuen Patriarchen. Seit heute Abend hat die Ukraine ihre eigene Orthodoxe Kirche. Ein Schritt gegen die Interessen Moskaus und ein historischer Tag für das Land.“
Mit getragener Stimme kommentiert eine Reporterin Bilder von Poroschenko, dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill, und einer Menge, die die ukrainische Nationalhymne singt. „Mit dem heutigen Tag hat sich die Ukraine noch weiter von Russland entfernt“, rundet sie ihren Beitrag mit Genugtuung ab. Auch laut Neuer Zürcher Zeitung habe Poroschenko Ukrainerinnen und Ukrainern an jenem Tag, dem 15. Dezember 2018, „frohe Kunde“ gebracht.
Hierarchen der kanonischen und in der gesamten Weltorthodoxie anerkannten Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die nicht zum Gründungskonzil der beiden schismatischen Kirchen erschienen waren, nannten diese Medien hingegen „moskautreu“. Oder übergingen sie durch Nichterwähnung gänzlich. „Orthodoxe Bischöfe in der Ukraine wollen eigene Nationalkirche gründen“, schlagzeilt der Tagesspiegel. Gemeint waren aber nur 57 Bischöfe zweier Spaltungskirchen, die an dem umstrittenen Vereinigungskonzil am 15. Dezember teilnahmen. Nicht erwähnt wurden 81 Bischöfe der UOK, die der Versammlung ferngeblieben waren.
„Dieses Treffen ist eine Vereinigung von Schismatikern, und es hat nichts mit der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche zu tun. Für unsere Kirche hat sich faktisch nichts geändert, denn die Schismatiker sind im Schisma geblieben, und die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche bleibt die wahre Kirche Christi in der Ukraine“, sagte das UOK-Oberhaupt Onuphrius in seinem Appell an die Gläubigen und Hierarchen.
Diese Position eines Großteils der ukrainischen Kleriker fand aber in deutschen Medien kaum Erwähnung. Nur einmal wurde Onuphrius vom Tagesspiegel zitiert, mit der Aussage: „Es gibt schon eine Landeskirche. Wir haben genug. Wir haben viel mehr, als man denen verspricht, die an dieser Synode teilnehmen.“ In den deutschen Medien wird der gesamte Konflikt lediglich zum Ausdruck eines angeblichen Strebens der ukrainischen Gläubigen zum Bruch mit Russland umgedeutet. Allenfalls wurden noch Machtspiele zwischen Moskau und Konstantinopel erwähnt.
Bild 1: Petro Poroschenko (links), Patriarch Bartholomeus (Mitte) und OKU-Oberhaupt Epiphanius (links) nach der feierlichen Zeremonie der Tomos-Übergabe am 5. Januar 2020 in Istanbul. Quelle: Reuters, Murad Sezer
USA mischen mit
Mit der Vergabe der umstrittenen Erlaubnis — des Tomos — an die OKU Anfang Januar 2019 endete dann die ohnehin spärliche Berichterstattung. Was die deutschen Medien geflissentlich verschwiegen, war die aktive Teilnahme der hohen US-Diplomatie in der ganzen Tomos-Affäre. Jahrelang leisteten Vertreter des US-Außenministeriums in der Ukraine, in Konstantinopel und in Griechenland aktive Lobbyarbeit für eine Anerkennung der ukrainischen Schismatiker. Die einflussreichste schismatische Kirche war zuvor seit ihrer Gründung 1992 die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, die sich durch ihre Nähe zu nationalistischen Parteien und Paramilitärs auszeichnete.
Der ehemalige US-Diplomat und Analytiker Jim Jatras erklärte dazu in einem Interview:
„US-Außenminister Mike Pompeo, der US-Sonderbeauftragte für die Ukraine Kurt Volker und die US-Botschafterin Marie Yovanovitch haben sich für die Autokephalie ausgesprochen, von der sie wahrscheinlich nicht einmal wissen, was sie wirklich bedeutet. Sie begrüßen sogar den Angriff auf die kanonische Kirche unter dem Metropoliten Onuphrius als positiv für die ‚Religionsfreiheit‘. Das ist eine Umkehrung der Wahrheit, die an Orwell erinnert. Einfach ausgedrückt: Alles, was helfen kann, die Ukraine von Russland zu entfremden, auch auf der spirituellen Ebene, ist aus der Sicht des US-Außenministeriums gut.“
Erwähnenswert wäre auch die Tatsache, dass der Patriarch von Konstantinopel, Bartholomeus, selbst in seinem eigenen Heimatgebiet im Istanbuler Stadtteil Fener kaum Gefolgschaft hat. Seine Diözese mit über 500.000 griechisch- und ukrainischstämmigen Gläubigen befindet sich in den USA und in Kanada, und sie verfügt in diesen Ländern über erheblichen politischen Einfluss. Es ist bemerkenswert, dass zum achtköpfigen Gremium des Vereinigungskonzils am 15. Dezember mehrere ausländische Hierarchen des Konstantinopler Patriarchats aus Nordamerika gehörten und die Arbeitssprache der Versammlung Englisch war.
Die Medien hätten also allen Grund, über den „langen Arm der USA“ in ukrainischen Angelegenheiten zu berichten. Doch stattdessen berichteten sie „vom imperialen Anspruch Russlands“, der sich offenbar im Bewahren der jahrtausendelangen ostslawischen kirchlichen Tradition seit der Taufe der Kiewer Rus im Jahre 988 manifestiert.
Bild 2: US-Außenminister Mike Pompeo mit dem UOK-Oberhaupt Epiphanius (rechts) und dem ukrainischen Außenminister Wadim Pristajko (links), Februar 2020. Quelle: Reuters, Kevin Lamarque
Analysen: Moskau ignoriert ukrainisches Selbstbewusstsein
Man könnte sagen, das seien nur die Medien. Dass es ihrem Wesen entspräche, zur Vereinfachung und zu knackigen Erzählmustern zu greifen. Man könnte sagen, sie wollten die Zeit ihrer Nutzer sparen und sie nicht mit unnötigen Details und komplizierten Zusammenhängen anstrengen. Vielleicht finden wir diese Details zumindest in Analysen, die für interessiertes Fachpublikum — also für Journalisten, Wissenschaftler und Politiker — bestimmt sind? Dann lesen wir aber, was die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in ihrem Artikel vom 23. Januar 2019 „Analyse: Geopolitik, Macht und kirchliche Identität: Der Konflikt um die orthodoxe Kirche in der Ukraine“ darstellt, verfasst von zwei Kirchenhistorikerinnen. Als zweiter Text sticht der Artikel „Die Autokephaliebestrebung als Spiegelbild des Kampfs um die Unabhängigkeit von Russland“ aus der Reihe „Ukraine-Analysen“ vom 26. Oktober 2018 ins Auge.
Im bpb-Artikel wird die Schuld an der Spaltung vor allem Moskau gegeben. Dort hätte man über all die Jahre hinweg die ukrainische Identität ignoriert. Nach dem Maidan und der „Annexion der Krim“ und russischen Aktionen im Donbass habe sich die Situation verschärft. In weiterer Folge heißt es: „Während sich die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer vorher konfliktfrei mit der UOK identifizieren konnte, ist die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die mit Moskau assoziiert wird, eine zunehmende Herausforderung für die Gläubigen geworden. Das Moskauer Patriarchat, aber auch die UOK ignorieren allerdings dieses ukrainische Selbstbewusstsein unter den Gläubigen konsequent und verlieren damit ihre Glaubwürdigkeit.“
Im Artikel der „Ukraine-Analyse“ wird vor allem der Argumentation von Petro Poroschenko viel Platz eingeräumt: Die Autokephalie sei für sein Land „ebenso wichtig wie der Schutz der Sprache, die Stärkung der Armee und das Streben nach einer EU- und NATO-Mitgliedschaft“. Der Frage, was das geistige Leben einer christlichen Gemeinschaft mit Militär und NATO zu tun haben kann, geht der Autor nicht nach. Er stellt jedoch in zutreffender Weise fest, dass die „aktuelle Politisierung der Autokephalie-Bestrebungen mit dem ukrainisch-russischen Konflikt zusammenhängt“. Dennoch, trotz dieser zugegebenen Konfliktträchtigkeit, geht der Autor davon aus, dass die von der kanonischen UOK entschieden abgelehnte Autokephalie die Chance hat, innerukrainische Kirchenkonflikte zu beenden.
Was für den Autor offenbar die größte Relevanz hat, verrät einer seiner letzten Sätze im Fazit: „Auf jeden Fall wird eine neue vereinte autokephale Ukrainisch-Orthodoxe Kirche die Politiker in Moskau ebenso verärgern wie das Moskauer Patriarchat.“ Es geht also nicht um Belange der Gläubigen, sondern darum, „Moskau zu verärgern“. Für die Zukunft prophezeit der Autor: „Die bisher größte und bis vor kurzem einige UOK-MP (Moskauer Patriarchat) wird an Bedeutung verlieren.“ Wie die weitere Entwicklung zeigen sollte, war dies vor allem Wunschdenken.
Flop für Schismatiker
Ende Juli 2019 feierten in der Ukraine die orthodoxen Gläubigen aller Kirchen den Tag der Rus-Taufe unter Fürst Wladimir im Jahre 988 mit Kirchenprozessionen. Die UOK veranstaltete ihre Prozession in Kiew am 27. Juli und die neu gegründete OKU am 28. Juli. Die von fast allen Medien und Behörden unterstützte OKU konnte nur eine sehr überschaubare Menschenschar mobilisieren. Eine deutlich größere Zahl an Gläubigen konnte hingegen die als „moskautreu“ stigmatisierte UOK verbuchen. Wie die Medien aufgrund der offiziell angegebenen Zahlen errechneten, stand die Bilanz zugunsten der UOK fünfzehn zu eins. Das Innenministerium nannte andere Zahlen, aber auch dort sprach man von mehr Teilnehmern bei der UOK-Prozession.
Das ukrainische Portal strana.ua, das auch Live-Übertragungen an beiden Tagen durchgeführt hatte, schrieb:
„Nach der Zahl der Gemeindemitglieder zu urteilen, die heute Kiew überfluteten, hat die den Schismatikern gewährte Autokephalie die Position der Ukrainischen Orthodoxen Kirche sogar noch gestärkt. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der unabhängigen Ukraine hatte die Regierung begonnen, die größte orthodoxe Kirche des Landes offen zu drangsalieren. Beamte halfen praktisch offiziell, ihre Gotteshäuser zu beschlagnahmen, der Sicherheitsdienst SBU verhörte im Auftrag von Poroschenko Priester. Das Kulturministerium begann den Prozess der Entfremdung der Lawras (große historische Klosterkomplexe — Anmerkung des Autors), und die Rada verabschiedete zwei skandalöse kirchenfeindliche Gesetze.
Doch all dies führte zum gegenteiligen Effekt: Die Kirche wurde in den Augen ihrer Gemeindemitglieder verfolgt. Und in ihrem Inneren zeigte sich die UOK viel stärker, als die Vorgängerregierung erwartet hatte. Dies wurde schon beim Empfang des Tomos sichtbar: Damals traten nur zwei Bischöfe zur OKU über. Und nachdem Poroschenko die Wahl verloren hatte, verlor die neue Kirche auch ihr politisches Dach. Das Resultat ließ nicht lange auf sich warten: Seit den Präsidentschaftswahlen hat die OKU keine einzige Kirche der UOK übernehmen können.“
Fiel der Flop der Schismatiker jemandem aus denjenigen Massenmedien auf, die noch vor sechs bis sieben Monaten dem „historischen Aufbruch der Ukraine in die Eigenständigkeit“ zugejubelt hatten? Nein, das war kein Thema. Genauso wie die Tatsache, dass die schismatische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats sich mittlerweile schon wieder von der neu gegründeten OKU abgespaltet hat: Wie sich herausstellte, brachte der Tomos des Ökumenischen Patriarchen ihr keine kirchliche Eigenständigkeit. Der Bartholomeus-Brief überführte sie praktisch in die Obhut Konstantinopels, was dem Kiewer Patriarchen Filaret so gar nicht gefiel.
Bild 3: Onufrios, Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche. Der Selige Onufrios ist populär bei den Gläubigen. Screenshot aus dem Dokumentarfilm „Unser Seliger“, Quelle: Youtube.
Auch Kirchenexperten wollen keine Diskriminierung sehen
Haben die Medien wenigstens etwas zum Thema der Verfolgung und rechtlichen Benachteiligung von Millionen Gläubigen berichtet? Auch nicht. Übergriffe und feindliche Übernahmen gab es bereits seit dem Maidan-Umsturz, also seit Februar 2014. Da dieser nun fast nach dem Duktus der Maidan-Agitatoren auch im deutschsprachigen Raum gerne als „Revolution der Würde“ bezeichnet wird, passte das Bild einer verfolgten Kirche nicht ins Bild eines Landes, das sich die wahre Demokratie nach westlichem Vorbild erkämpft hatte.
Dabei ist es nicht einmal so, dass man sich des Problems nicht bewusst wäre. Sogar die bpb warnte in ihrem Artikel vor Gefahren der „nationalistischen Extreme“. Aber wie? Lesen wir den vollständigen Satz: „Der Wunsch der ukrainischen Gesellschaft nach Selbstbestimmung und einer mehr als symbolischen Abnabelung vom imperialen Anspruch Russlands ist nachvollziehbar, birgt aber immer auch die Gefahr nationalistischer Extreme.“ Bei allen „Extremen“ gibt es also immer noch die Option, den ukrainischen Nationalismus als „Wunsch der Gesellschaft nach Selbstbestimmung“ zu bewerten. Seine ausschließlich gegen Russland zielende Ausrichtung wird als etwas Ungefährliches oder vielleicht sogar Nützliches dargestellt.
Nur in einer Fachzeitschrift ist so etwas wie ein Hinweis auf manche „umstrittene Vorfälle“ zu finden. So erklärte der Kirchenexperte Thomas Bremer im Gespräch mit der Zeitschrift Osteuropa kurz vor der Gründung der OKU in Dezember 2018:
„Die Ereignisse des Maidan hatten für die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats zwei Konsequenzen: Einerseits wandten sich mehr Menschen von ihr ab. Ganze Gemeinden schlossen sich einer anderen Kirche an, zumeist der UOK-KP (nicht anerkannte Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats — Anmerkung des Autors). Die Umstände dieser Konversionen sind manchmal umstritten, angeblich werden organisierte Gruppen in Bussen in Gemeinden gebracht, die dann — oft unter Gewaltandrohung — den Übertritt durchsetzen. Überprüfen lässt sich das nicht.“
Übergriffe und feindliche Übernahmen
Hier irrt Bremer: Bereits seit 2014 waren vor allem im Westen und im Zentrum der Ukraine gewaltsame Übergriffe auf Priester und Gläubige, Brandstiftungen, Vandalismus und feindliche Übernahmen der Kirchen durch radikale Milizen an der Tagesordnung. In der Zeit unmittelbar nach der Vergabe des Tomos Anfang 2019 kam es zu einer weiteren Welle von Übergriffen, die in vielen Fällen von Behörden und Exekutive zumindest toleriert wurden. Die Union der Orthodoxen Journalisten zählt auf einer interaktiven Karte des Landes in den letzten Jahren bis zu 140 dokumentierte Fälle von Gewalt oder staatlicher Willkür.
Diskriminierung gibt es auch auf rechtlicher Ebene. Zeitgleich mit der OKU-Gründung im Dezember 2018 verabschiedete das ukrainische Parlament das „Umbenennungsgesetz“, demzufolge alle Gemeinden der Ukrainischen Orthodoxen Kirche künftig verpflichtet sein sollen, ihre Namen zu ändern und darin ihre Zugehörigkeit zum Verwaltungszentrum im sogenannten Aggressorland anzugeben, als welches seit 2017 von Gesetzes wegen die Russische Föderation gilt. Nach der Neuregelung dürfte sich die Ukrainische Orthodoxe Kirche nicht mehr als „ukrainisch“, sondern nur als „russisch“ bezeichnen. Solange die Gemeinden der Verpflichtung zur Umbenennung nicht nachgekommen sind, können sie beispielsweise keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben.
Obwohl das Gesetz derzeit von einem örtlichen Gericht gestoppt ist, hängt es immer noch wie ein Damoklesschwert über der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche. Auch nachdem der neue Präsident Wladimir Selenski als Hoffnungsträger aller Benachteiligten das Amt übernommen hatte, fanden gewaltsame Übergriffe und Einschüchterungen immer noch statt. Und sie werden weiterhin von örtlichen Behörden entweder toleriert oder unterstützt.
Der Unterschied zur Situation zuvor besteht nur darin, dass die Rückendeckung nicht mehr zentral aus Kiew kommt. Es handelt sich bei den Akteuren, von denen die Übergriffe ausgehen, um örtliche Behörden oder politische Parteien, die dort den Ton angeben. In einigen Gebieten der Westukraine gibt es bereits seit Sommer 2020 einige neue „Brennpunkte“.
So demolierten erst vor wenigen Tagen mehrere Angehörige der nationalistischen Organisation „Nationales Korps" mit Hämmern und Brechstangen den Zaun um das Privatgrundstück eines Priesters der UOK im Gebiet Iwano-Frankiwsk. Die Extremisten nahmen ihre Aktion auf Video auf und stellten es zusammen mit verbalen Drohungen ins Netz.
Zuvor hatte der örtliche Bürgermeister dem Priester und den Gläubigen öffentlich gedroht, man werde „nicht zulassen, dass Moskowiten hier ihre Kirche bauen“. Bei einer Versammlung vor dem Grundstück des Priesters nahm er dabei demonstrativ einen Hammer in die Hand. Die Hetzaktionen wurden von den Geistlichen der Griechisch-Katholischen Kirche unterstützt, was auch in einem Interview in einem lokalen TV-Sender zu sehen ist.
Bild 4 a und 4 b: Videoaufruf der Nationalisten im Gebiet Iwano-Frankiwsk (Zerstörung des Zauns). Quelle: Screenshot eines Videos von Perschi Kasazki
Anwälte appellieren an die Vereinten Nationen
Eine Rechtsschutz-Nichtregierungsorganisation (NGO) namens „Public Advocacy" setzt sich derzeit für Belange der Gläubigen bei internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen (UNO) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein. „Die Struktur der schismatischen Orthodoxen Kirche der Ukraine ist faktisch geschaffen worden, und der Prozess der Unterdrückung (der ursprünglichen Orthodoxie) ist in Gang gesetzt“, erklärte NGO-Chef Oleg Denisow auf Anfrage des Autors.
„Obwohl es derzeit weniger Rechtsverletzungen gegen Gläubige der UOK gibt, bleiben systematische Probleme nach wie vor ungelöst. Faktisch gibt es zwar keine massenhafte Beschlagnahmung der Kirchen mehr, aber niemand gibt Gebäude zurück, die bereits 2015 bis 2020 entwendet wurden. Auch andere Rechtsverletzungen wie gesetzwidrige Umschreibungen von Gemeinden der UOK auf die OKU bleiben bestehen.“
Für die Zukunft gibt sie keine optimistische Prognose. Der Staat werde bei seiner Politik bleiben, welche die umfassende und systematische Schrumpfung der Rechte der mit dem Moskauer Patriarchat verbundenen Konfession zum Ziel hat. Hass und Feindschaft gegenüber deren Gläubigern würden weiter geschürt. Das Fazit der NGO:
„Obwohl die Rechtsverletzungen in der Tat weniger intensiv sind, sehen wir keine Anzeichen dafür, dass der ukrainische Staat seine Unterdrückungsstrategie gegenüber der UOK zumindest tendenziell ändert.“
Public Advocacy ist nach eigenen Angaben die einzige Organisation, die die Rechte der Christen bei den internationalen Organisationen wie UNO oder OSZE verteidigt, nicht nur in der Ukraine. Dies sei ein sehr mühsamer Prozess, erklärt ihr Chef. Um ein Statement oder Aufnahme in einen Bericht zu bewirken, müsse man nicht nur eine enorme Dokumentierungs- und Übersetzungsarbeit leisten. Man müsse auch ständig Präsenz bei den Konferenzen zeigen und an deren Rand unzählige Gespräche mit Diplomaten und Politiker führen — mit einem Wort: Überzeugungsarbeit leisten.
„Im Namen von mehr als vier Millionen orthodoxen Christen in der Ukraine bin ich äußerst besorgt über die Tatsache, dass seit nunmehr sechs Jahren in der gesamten Ukraine Übergriffe stattfinden, die von Hass gegen die Gläubigen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche motiviert sind“, mit diesen Worten begann der Appell des Chefs der NGO, Oleg Denisow, an die Versammelten der 45. Sitzung des UN-Menschenrechtrates in Genf in einer Videobotschaft am 1. Oktober.
Public Advocacy konnte in den letzten zwei Jahren schon einiges bewirken. So hatten am 30. Oktober 2018 vier UNO-Sonderberichterstatter eine Mitteilung an die Regierung der Ukraine im Zusammenhang mit Verletzungen der Rechte der UOK geschickt. Bis März 2019 konnte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in seinem Ukraine-Report mehr als ein Dutzend Fälle von Menschenrechtsverletzungen, Übergriffen und Druck von Behörden auf Exponenten der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche dokumentieren. Er forderte die ukrainische Regierung dazu auf, alle gewaltsamen Vorfälle öffentlich zu verurteilen, sie zu untersuchen und die internationalen Verpflichtungen der Ukraine im Hinblick auf die Menschenrechte — einschließlich der Religionsfreiheit — einzuhalten.
Passt nicht ins Bild
Berichtete wenigstens dann jemand über die Verletzungen der Rechte einer ganzen Konfession in der Ukraine? Die UNO gehört ja zu den zuverlässigen Quellen, die man gerne zitiert — wenn es um Russland geht. „UN prangern Menschenrechtsverletzungen Russlands auf der Krim an“ — mit dieser oder einer ähnlichen Schlagzeile findet man im deutschsprachigen Raum jede Menge Berichte. Zu skandalöser Einmischung des Staates in religiöse Belange und Menschenrechtsverletzungen gegen Gläubige in der Ukraine konnten wir nur zwei Meldungen in kirchennahen Medien finden.
Große Medien nehmen keine Notiz von dem Problem, selbst wenn die UNO davon spricht. Die Ukraine ist das Opfer Russlands — an diesem Narrativ darf schließlich nicht gerüttelt werden. Selbst „Auswüchse des Nationalismus“ sind in dieser Lesart mehr oder weniger Russland oder der Ukrainischen Orthodoxen Kirche selbst geschuldet, die das „ukrainische Selbstbewusstsein“ angeblich ignoriert hätten. Sowohl die Medien als auch — bis auf wenige Ausnahmen — die Fachwelt sehen die Ukraine durch die geopolitische Brille und machen keine Anstalten, diese zumindest für einen kurzen Moment abzusetzen.