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Der Kampfbegriff

Der Kampfbegriff

Eine Weile boten sie Schutz vor Gewaltherrschaft, dann jedoch verkamen die Menschenrechte zum kriegebegründenden Kampfbegriff. Exklusivabdruck aus „Menschenrechte“.

Das ist vor allem in den letzten Jahren deutlich geworden, in denen die Menschenrechte von den kapitalistischen Staaten sowohl zur Legitimation ihres eigenen, weltweit nun konkurrenzlosen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells eingesetzt werden, als auch zur Begründung militärischer, das heißt „humanitärer“, Interventionen in Randgebieten, die sich ihrem Herrschaftsanspruch bislang widersetzt haben.

Das hat natürlich eine Definition der Menschenrechte zur Voraussetzung, die nicht nur aus ihrem europäischen Ursprung der Aufklärung schöpft und zu wahrer Universalität strebt, sondern sie an die Errungenschaften der westlichen Zivilisation koppelt und sie somit auf die Lebensweise des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells reduziert.

Vor dem Untergang der Sowjetunion hatte die Identifizierung von Menschenrechten und Demokratie eher defensive gegen die sozialistische Alternative gerichtete Bedeutung. Nach deren Untergang haben die Menschenrechte eine zunehmend offensive, ja aggressive Bestimmung gegen widerstrebende bzw. dem westlichen Herrschaftsanspruch feindlich gegenüberstehenden Staaten erhalten.

Die damit aus der völkerrechtlichen Verbannung wieder zurückgeholte „humanitäre“ Intervention vermag sich zwar, wie im Falle Jugoslawiens, Afghanistans, Iraks, Libyens und auch Syriens, durchaus auf mehr oder weniger gravierende Verstöße gegen Menschenrechte berufen, diese finden sich aber ebenfalls im eigenen Herrschaftsbereich in vergleichbarer Weise (Türkei, Israel, Saudi-Arabien) und spielen keinesfalls die Hauptrolle für die Begründung der Intervention.

Es ist inzwischen nicht mehr nur ein Verdacht, sondern gesicherte Erkenntnis, dass der entscheidende Auslöser der Interventionen die geostrategische Sicherung lebenswichtiger Ressourcen ist, wie es nicht nur in der NATO-Strategie vom April 1999, sondern auch in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten vom September 2002 in aller Deutlichkeit ausgeführt worden ist. Denn der Zugang zu den weltweiten Ressourcen ist ein Stück Freiheit des Marktes und Freiheit des Handels, die zu den Essenzialien der Demokratie und ihrer ökonomischen Grundordnung gehören.

In diesem Sinn hat US-Präsident Bush seine Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002 unter anderem mit den Sätzen eingeleitet:

„Die Vereinigten Staaten werden diese Gelegenheit nutzen, den Segen der Freiheit über den Globus zu verbreiten. Wir werden aktiv daran arbeiten, die Hoffnung auf Demokratie, Entwicklung, freie Märkte und freien Handel in jede Ecke der Welt zu bringen.“

Nachdem das Konzept des Freihandels im 6. Kapitel der Nationalen Sicherheitsstrategie als „moral principle“ jedem Zweifel entzogen wird, heißt es im 7. Kapitel unter der Überschrift „Den Kreis der Entwicklung durch die Öffnung der Gesellschaften und den Aufbau einer Infrastruktur von Demokratie erweitern“:

„Handel und Investitionen sind die wirklichen Triebkräfte des ökonomischen Wachstums. Selbst wenn die Regierungshilfe wächst, muss das meiste Geld für Entwicklung vom Handel, dem nationalen Kapital und ausländischen Investitionen kommen. Eine effektive Strategie muss versuchen, auch diese Finanzflüsse zu verstärken. Freie Märkte und freier Handel sind die zentralen Hebel unserer nationalen Sicherheitsstrategie.“

Vor den nackten ökonomischen Interessen der langfristigen Ressourcensicherung weht der Schleier von Demokratie, Entwicklung, freiem Markt und freiem Handel, denen problemlos die Menschenrechte als normative Inkarnation menschlicher Freiheit hinzufügt werden.

Die Identifikation von Menschenrechten, Demokratie und kapitalistischer Wirtschaftsordnung in einem moralischen Prinzip der Freiheit ist total. Sie ist damit bestens geeignet, eine ebenso totalitäre Botschaft für eine Weltordnung abzugeben, die ganz auf den imperialen Anspruch der dominierenden kapitalistischen Staaten zugeschnitten ist.

Werden aber Menschenrechte und Demokratie immer offener auf die Freiheiten des kapitalistischen Verkehrs reduziert, verlieren sie ganz ihren emanzipatorischen Charakter und die Widersprüchlichkeit ihres politischen und sozialen Inhalts, die sie in den historischen Auseinandersetzungen ihrer Durchsetzung ausgezeichnet haben.

Sie dienen der Legitimation von Institutionen mit globalem Ordnungsanspruch wie WTO, IWF und Weltbank, die sie als die zentralen Institutionen der Welthandelsordnung zu unangreifbaren Hütern der Freiheit, Förderern der ökonomischen Entwicklung und Promotoren der Demokratie stilisieren.

Die Katastrophen der Armut und Unterentwicklung, der Staatsbankrotte, Kriege und Flüchtlingsströme müssen damit als kaum vermeidbare Kollateralschäden, letztlich als Preis der Freiheit und des Fortschritts in Kauf genommen werden — per aspera ad astra. Schließlich — und dieses ist eine der gefährlichsten Entwicklungen der jüngsten Zeit — wird das Konglomerat von Rechten und Werten zwischen Markt und Demokratie zu einer Kampfformel verdichtet, welche wahlweise unter dem Begriff der „westlichen Wertegemeinschaft“ oder der „nationalen Sicherheit“ die Völkerrechtsordnung und die Verfassungen der Staaten unterlaufen soll.

Im Namen der Menschenrechte und Demokratie werden Notstandssituationen ausgerufen, von denen behauptet wird, dass sie nur noch mittels militärischer Interventionen behoben werden können. Nicht nur, dass diese Interventionen immer offener auf die einzige Legitimation verzichten, die kriegerischen Einsätzen zukommt, die UN-Charta und das Völkerrecht, ihre Zerstörungen und Vernichtungen von materiellen Gütern und menschlichem Leben stehen immer weniger in einem vertretbaren Verhältnis zu den vorgeblichen Werten, die gerettet werden sollen.

Abgesehen von den Opfern und Schäden eines jeden Krieges, stellt die Erosion der formellen Völkerrechtsordnung durch eine nirgends kodifizierte Werteordnung eine erhebliche Gefährdung der internationalen Friedensordnung dar.

Die Feinderklärung genügt, um Staaten als „rogue states“ (Schurkenstaaten) zu stigmatisieren und sie damit unter Kriegsdrohung zu stellen und zu erpressen. Dieser Begriff, der bereits aus dem Repertoire der US-amerikanischen Außenpolitik verbannt schien, ist mit der Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 wieder zurückgekehrt.

Der Besitz oder die Produktionsmöglichkeit von Massenvernichtungsmitteln genügt nicht, um einen Feind zu definieren, wie die Beispiele Israel, Indien und Pakistan zeigen. Es muss eine prinzipielle Verweigerung der Unterwerfung und Zusammenarbeit hinzukommen. Der Mechanismus der Friedenssicherung, den die UN-Charta mit dem VII. Kapitel dem UN-Sicherheitsrat an die Hand gegeben hat, und damit die militärische Sanktion allein dem kollektiven Organ der UNO überantworten wollte, wird außer Kraft gesetzt und durch die Feinderklärung derjenigen Staaten ersetzt, die ihre militärische Überlegenheit gegenüber anderen Staaten ausspielen können.

Das Kriterium der Intervention ist nicht mehr der Bruch oder die Gefährdung des Friedens wie in Art. 39 UN-Charta, sondern das militärische Potenzial des intervenierenden Staates. Allen Beteiligten dürfte klar sein, dass dieses ein Rückfall hinter die UN-Charta zurück in die unselige Zeit des Völkerbunds ist. Als Preis für die Durchsetzung ihres imperialistischen Herrschaftsanspruchs scheint es jedoch derzeit den USA und dem enger werdenden Kreis ihrer Alliierten nicht zu hoch.



Die weiterführenden Anmerkungen und Quellenangaben zu diesem Text finden Sie im Buch.

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