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Der Irrsinn der Normalität

Der Irrsinn der Normalität

Der Begriff „Normopathie“ wird oft verwendet, jedoch selten erklärt — dabei benötigen wir ihn dringender denn je. Exklusivabdruck aus „Normopathie: Das drängendste Problem unserer Zeit“.

Zur Begriffsgeschichte

Wann, von wem und in welchem Zusammenhang wurde der Begriff der „Normopathie“ geprägt? Dazu gibt es unterschiedliche Aussagen. Laut Dr. med. Mechthilde Kütemeyer (1938 bis 2016), Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, „entdeckten“ Viktor von Weizsäcker (1886 bis 1957) und ihr eigener Vater Wilhelm Kütemeyer (1904 bis 1972) „Begriff und Phänomen der Normopathie“ Anfang der 50er-Jahre im Rahmen der Heidelberger Schule für Anthropologische Medizin.

Bei der Untersuchung schwerer körperlicher Krankheiten bei psychisch scheinbar normalen Patienten habe sich eine „normopathische Pathologie“ gezeigt, wenn die sogenannte „biografische Methode“ angewendet wurde (1).

Wikipedia schreibt in seinem Beitrag „Normopathie“ (2) den Begriff dem Psychiater und Professor für Sozialpsychiatrie Erich Adalbert Wulff (1926 bis 2010) zu. Er verwendete ihn in seinem 1972 erschienenen Werk „Psychiatrie und Klassengesellschaft“ (3) in Verbindung mit „bestimmten Persönlichkeitsstrukturen“. Wulff arbeitete etliche Jahre in Vietnam und regte unter anderem zu einer „transkulturellen Psychiatrie“ an.

Eine solche „vergleichende Psychiatrie“ könne zeigen, dass bestimmte psychische Erkrankungen nur unter besonderen gesellschaftlichen Bedingungen auftreten. Ökonomische Zwänge und kulturelle Leitbilder führen zu Sozialisationsformen, die Krankheitsdispositionen hervorbringen. Diese bevorzugen zu ihrer Manifestation wiederum bestimmte gesellschaftliche Konstellationen.

Es geht also um Wechselbeziehungen zwischen seelischen Erkrankungen und gesellschaftlichen Zuständen (4).

Der Neurologe und erfahrene Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz (geboren 1943) wiederum vermutet den Ursprung des Begriffs in Hannah Arendts (1906 bis 1975) Analyse der „Banalität des Bösen“.

Viktor von Weizsäcker und Hannah Ahrendt hatten sich mit dem Eichmann-Prozess auseinandergesetzt und mit ihrer Einschätzung von der „Banalität des Bösen“ starke Kritik erfahren. Doch auch Maaz vertritt die Auffassung, „dass ,die Bösen‘ keine geborenen Monster sind, sondern Durchschnittsbürger, die aus psychosozialer Selbstentfremdung fähig werden, Verbrechen zu begehen, deren psychosoziale Störung aber nicht mehr erkannt wird, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist“ (5).

Zunächst wollen wir uns aber einer Pionierarbeit zuwenden, der wohl frühesten und richtungsweisenden Thematisierung der Normopathie.

1. Erich Fromms Pathologie der Normalität

Erich Fromm (1900 bis 1980), einer der bedeutendsten Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts, hat mit seinen 1953 in New York gehaltenen Vorlesungen über die Pathologie der Normalität die Grundlagen dafür geschaffen, dass seelische Gesundheit und Krankheit in Verbindung mit gesellschaftlichen Strukturen gesehen werden können. Erstmals wurde die Frage gestellt, ob eine ganze Gesellschaft krank sein kann. Fromm bezog sich dabei nicht etwa auf Adolf Hitlers (1889 bis 1945) Nationalsozialismus oder den noch herrschenden Stalinismus in der Sowjetunion, sondern auf die USA der 1950er-Jahre. Seine tiefgründigen Analysen sind aktueller denn je, auch und gerade für uns und unsere Gesellschaft heute.

2. Seelische Gesundheit in der modernen Welt

Die erste Vorlesung ist der Frage gewidmet, was seelische Gesundheit im Verhältnis zur Gesellschaft ausmacht.

Geht man statistisch-quantitativ an die Frage heran — was Fromm hier für wenig aussagekräftig hält —, so lässt sich immerhin sagen, dass in den USA Anfang der 1950er-Jahre über die Hälfte aller Krankenhausbetten von Menschen mit seelischer Erkrankung belegt ist (6). Das ist ein erschreckend hoher Prozentsatz. Auch in europäischen Ländern wie der Schweiz oder Deutschland gibt es erstaunlich viele Fälle von Depression, Alkoholismus und Suizid.

Dabei sind die meisten Menschen mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Sie können sich relativ sicher und frei fühlen. Dennoch führt der materielle Wohlstand nicht zu mehr Glück.

Bei der inhaltlichen, qualitativen Herangehensweise bevorzugen die meisten Soziologen einen relativistischen Ansatz. Dabei gilt als seelisch gesund, wer den Normen der jeweiligen Gesellschaft entspricht.

Fromm hält das für zu kurz gedacht. Das würde ja bedeuten, dass jemand allein deshalb seelisch gesund sei, weil er sich an das angepasst hat, was in der Gesellschaft als normal gilt.

Was aber, wenn es sich dabei um eine totalitäre und destruktive Gesellschaftsform handelt, in der die Menschen wider ihr besseres Wissen und Gewissen handeln müssen, in der Aggression und Paranoia „normal“ sind?

Im Rahmen der Anpassungstheorie wird das soziale Umfeld, die Familie, die eigene Nation und Rasse als normal, gesund und richtig empfunden, wohingegen die Lebensweise der anderen als fremd, unnormal und sogar verrückt angesehen wird (8).

Als Pionier der Sozialpsychologie verfolgt Fromm einen nichtrelativistischen Ansatz. Er orientiert sich an allgemeingültigen Werten, nach denen sich für jede beliebige Gesellschaft bestimmen lässt, ob sie seelische Gesundheit fördert oder verhindert. Ein solcher Wert ist „Lebendigkeit“. So kann ein Arzt erkennen, welche Art von Nahrung und Lebensweise gesund ist und welche nicht. Dies gilt laut Fromm auch für die Seele.

Anpassung spielt unübersehbar eine zentrale Rolle. Müsste jemand aus einer kriegerischen Gesellschaft in einer friedlichen Ackerbaukultur leben, würde er sich ebenso unwohl fühlen wie seine Mitmenschen in seiner Nähe (8). Doch so entstehen Anstöße für eine Entwicklung in der Gesellschaft. Wären alle stets konform, dann säßen wir heute noch in Höhlen. Doch beide Haltungen sind für die Entwicklung, ja für das Überleben jeder menschlichen Gesellschaft notwendig, die Verweigerung der Anpassung ebenso wie die Bereitschaft dazu (9).

3. Merkmale der modernen Gesellschaft

Fromm zählt fünf Merkmale unserer heutigen modernen Gesellschaft auf:

  • Persönliche Freiheit. Der Mensch ist nicht mehr durch seinen Stand oder seine Zunft definiert. Er ist aus der Gruppe herausgetreten, hat aber zugleich Angst vor dieser Freiheit und sucht nun Halt in der Anpassung.
  • Individuelles Unternehmertum. Eine moderne Errungenschaft gegenüber der mittelalterlichen Gesellschaft. Allerdings ist die Eigeninitiative im Vergleich zum 19. Jahrhundert stark zurückgegangen.
  • Die Beherrschung der Natur. Der Haken dabei ist: Unsere Maschinen beherrschen uns (10).
  • Der wissenschaftliche Ansatz. Ursprünglich das Bemühen um Objektivität und Wahrheitsfindung. Doch nun werden wissenschaftliche Feststellungen geglaubt wie früher religiöse Dogmen.
  • Die politische Demokratie. Ein Fortschritt gegenüber der absolutistischen Herrschaftsform. Doch sie berücksichtigt nicht die Interessen der Einzelnen bei Angelegenheiten, die die Gesellschaft betreffen.

Alle fünf Merkmale sind laut Fromm in erster Linie Negationen der vormodernen Strukturen. Aber: „Wir müssen die Ebene der Negation überschreiten und zu neuen, positiveren Formulierungen dessen kommen, was wir wollen“ (11).

4. Bedingungen des Menschen und psychische Bedürfnisse

Was sind die eigentlichen Bedürfnisse des modernen Menschen?

Fromm kommt zwar vom marxistischen Sozialismus her, doch er kritisiert daran unter anderem, dass man sich zu sehr auf die ökonomischen Aspekte konzentriert und die psychischen Bedürfnisse außer Acht lässt. Die Frage, welchen Sinn das eigene Dasein hat, ist von existenzieller Dringlichkeit und nicht nur abstrakt-philosophischer Natur:

„Es ist uns unmöglich, nur zu leben, zu essen und zu trinken, ohne dem Leben einen Sinn zu geben“ (12).

„Der Mensch lebt nicht von Brot allein“, heißt es bereits in der Bibel. Allerdings plädiert Fromm nicht dafür, zu früheren Formen religiöser Glaubenspraxis zurückzukehren. Es braucht zwar etwas, für das es sich zu arbeiten und ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu sein lohnt (13), doch diese Art von Religion erfordert keine bestimmten Glaubensinhalte und dient eher als „System der Orientierung und als Objekt der Hingabe“ (14).

5. Psychische Gesundheit und das Bedürfnis nach Religion

Die meisten Menschen orientieren sich bei der Sinnfrage an dem, was als „normal“ gilt, also an dem, was die Mehrheit der Gesellschaft glaubt. Die wenigen, die tiefschürfender suchen und ihre Privatreligion kreieren, gelten als schräge Vögel oder sogar als verrückt.

Sich als Idealist darzustellen ist kein besonderes Merkmal.

Wir alle sind Idealisten und leben nach bestimmten Vorstellungen und Idealen. Entscheidend ist, ob die Ideale zur Destruktion führen oder lebensbejahend und aufbauend sind.

Fromm bringt in diesen Vorträgen bereits deutlich seine humanistische Einstellung zum Ausdruck, die durch spätere Werke wie „Haben oder Sein“ sein Markenzeichen wurden. Sinn und Ziel des Lebens entsprechen der Natur des Menschen: „Fähig zu sein zu lieben, fähig zu sein, seine eigene Vernunft zu gebrauchen, und fähig zu sein, jene Objektivität und Bescheidenheit zu haben, mit der der Mensch die Wirklichkeit außerhalb von sich und in sich selbst in einer nicht-entfremdeten Weise erlebt“ (15).


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Normopathie: Das drängendste Problem unserer Zeit Selber denken — kritisch bleiben“ von Christian Dittrich-Opitz und Christian Salvesen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Vergleiche Mechthilde Kütemeyer, Normopathie — hypersoziale Traumaverarbeitung und somatoforme Dissoziation, in: Psychotherapie im Alter, 2007, 4(1), Seite 39 bis 53.
(2) Vergleiche https://de.wikipedia.org/wiki/Normopathie, 4. Februar 2021.
(3) Wulff, Erich: Psychiatrie und Klassengesellschaft. Zur Begriffs- und Sozialkritik der
Psychiatrie und Medizin, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1972.
(4) Vergleiche Erich Wulff: Grundfragen transkultureller Psychiatrie, in: Das Argument, H. 50, 1969, Seite 227 bis 247 (online); Nachdruck in: Argument Studienhefte, Heft 23, Berlin 1979. http://www.inkrit.de/mediadaten/archivargument/DA050/DA050.pdf#page=231
(5) Maaz, Hans-Joachim: Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft, C. H. Beck Verlag, München 2017, Seite 129 bis 130, Kindle-Version.
(6) Vergleiche Erich Fromm: Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen, Edition Erich Fromm, Gesamtausgabe, Tübingen 1999, Band XI, Seite 213; E-Book, Berlin 2015, Kindle-Version, Position 168 von 3067.
(7) Vergleiche Erich Fromm, Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen, am angegebenen Ort, Position 214.
(8) Vergleiche, ebenda, Position 248.
(9) Ebenda, Position 260.
(10) Ebenda, Position 324.
(11) Ebenda, Position 360.
(14) Ebenda, Position 394.
(13) Ebenda, Position 400.
(14) Ebenda, Position 406.
(15) Ebenda, Position 459 bis 466.

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