Adriana Sprenger: Herr Dr. Maaz, Sie haben auch andere Regierungsformen, fernab der Demokratie, erlebt. Zu DDR-Zeiten war bekannt und Konsens, dass durch verschiedene Medien Propaganda verbreitet wurde und keine freie Meinungsäußerung existiert hatte. Stellt man in der heutigen Zeit die Unbefangenheit der Medien infrage, erntet man oft Unverständnis und wird damit konfrontiert, dass es doch woanders viel schlimmer wäre und wir doch froh sein können, in solch freien Verhältnissen leben zu dürfen. Wie bewerten Sie die Entwicklung der Demokratie aufgrund Ihrer Historie und was bedeutet Demokratie für Sie persönlich?
Hans-Joachim Maaz: Ein Absturz, vielleicht sogar das Ende der Demokratie. Für mich ist es deshalb so bedenklich, weil ich schon seit Langem unterscheide zwischen einer äußeren und einer innerseelischen Demokratie.
Äußere Demokratie ist das, was wir hatten, also parlamentarische Demokratie mit unterschiedlichen Parteien, wobei schon auffiel, dass auch da schon immer Spaltungstendenzen bestehen. Jede Partei geht davon aus: nur wir gut und richtig — alle anderen schlecht und falsch. Ein solcher ausgrenzender und spaltender Meinungskampf ist nur solange noch demokratisch, solange tatsächlich eine plurale Meinungsfreiheit garantiert und geschützt ist. Seit einiger Zeit müssen wir leider feststellen, dass eine ideologisierte und moralisierende politische Korrektheit die Meinungsfreiheit erheblich einschränken.
Führende Politiker sagen dann zynisch: man könnte doch alles sagen, müsse nur auch die Konsequenzen ertragen. Wenn es dabei dann aber um Diffamierung, Ausgrenzung, Existenzbedrohung geht, gibt es keine Meinungsfreiheit mehr.
Ein solcher Verlust an Demokratie signalisiert den Mangel an innerseelischer demokratischer Kompetenz. Als Psychotherapeut weiß ich, dass jeder Mensch eine, wie ich es nenne, Privatlogik entwickelt. Die durch einseitige, falsche oder schlechte Erziehung erlittene Selbstentfremdung wird dann mit einer subjektiven „Weltsicht“ aller Dinge kaschiert und durch Anbindung an eine Gruppenmeinung kompensiert.
Der Mensch kommt so lange ganz gut zurecht, solange er mit seiner Eigenart und seiner Gestörtheit in einem Ensemble der verschiedensten Privatlogiken ist, die sich gegenseitig ergänzen und korrigieren. Wenn das jedoch nicht mehr der Fall ist, wenn die Gesellschaft zum Beispiel in eine Krise kommt, die Pluralität und die Meinungsfreiheit eingeengt werden, dann versagt das Demokratiespiel der äußeren Kräfte, da sie sich nicht mehr ausreichend relativieren und wechselseitig infrage stellen können. Dann ist eine innerseelische Demokratie als Kompetenz gefordert, die subjektive Privatlogik infrage zu stellen, erlittene Entfremdung mit Manipulation des Verhaltens zu erkennen und überwinden zu lernen. Dann ist man nicht mehr abhängig von einer Gruppen-Ideologie oder Mainstream.
Entfremdung in dem Sinne, dass wir lernen mussten, was scheinbar wichtig ist, wie wir uns verhalten sollten, um anerkannt zu sein oder vielleicht erfolgreich zu sein; das heißt aber nicht, dass wir auch die Freiheit gehabt hätten, uns nach individuellen Möglichkeiten und Begrenzungen zu entwickeln. Und mit dieser Entfremdung geht einher, dass jeder Mensch auch Eigenschaften und Bedürfnisse hat, die er unterdrücken muss, die tabuisiert sind, die gesellschaftlich nicht anerkannt sind. Schon in der Familie, da heißt es oft „sei brav“, „sei ruhig“, „sei fleißig“ und damit kann dieser Mensch in meinen Augen kein Demokrat werden. Wenn der Mensch nicht seine eigenen seelischen „Minderheiten“ oder das, was er unterdrücken musste, kennt und regulieren gelernt hat, dann wird dies nur unterdrückt oder kann ins Unbewusste verdrängt werden, wo es weiterwirkt.
Daran werden Menschen krank, weil diese unbewussten Kräfte weiterwirken oder aber — das ist die Gefährlichkeit — zur Abreaktion Außenfeinde gebraucht werden. Das, was man bei sich nicht wahrhaben will, was unterdrückt ist, muss jetzt bei anderen gefunden werden. Dort wird es denunziert, dort wird es bekämpft — deshalb ist ein solcher Mensch nicht demokratisch. Erst wenn er diese eigenen Schwächen, Grenzen oder Fehler in sich selbst anerkennt und regulieren lernt, ist er in dem Sinne demokratisch und benötigt kein Feindbild, keinen Sündenbock, keine Projektion.
Ich bin noch im Nationalsozialismus im Jahr 1943 geboren und dann aus dem ehemaligen Sudetenland zweijährig nach Sachsen vertrieben worden. Meine Familie, meine Eltern, konnten es nicht glauben, dass es nicht wieder in die alte Heimat zurückgeht. Eine kritische Auseinandersetzung mit individueller Schuld war nicht möglich. Aus diesem Grund habe ich mich schon früh damit auseinandergesetzt, wie der Nationalsozialismus, wie der DDR-Sozialismus entstehen konnte. Was ist das Massenpsychologische, das Mitläufertum?
Es gibt nicht nur eine auffällige kranke Macht, sondern immer auch das Zusammenspiel mit einer Mehrheit von Mitläufern, die zu Mittätern werden.
„Nie wieder Nationalsozialismus“ ist immer wieder proklamiert, aber es ist nie verstanden worden, dass die Menschen — also die Mehrheit der Menschen — sich verändern und erkennen müssen, welche Gefahr ihre Entfremdung darstellt und sie sich verändern, reifen müssten!
Im Grunde genommen habe ich das, was wir jetzt haben, in meinen Büchern vorausgeahnt. Ich wollte es bloß nicht wahrhaben. Ich schreibe darüber in der Hoffnung, eine Art Prophylaxe für solch kolossale Fehlentwicklung zu schaffen. Aber sie trifft leider ein. Ich bin im Moment davon überzeugt, dass unser Gesellschaftssystem am Ende ist und somit die ganzen Anpassungen und die Privatlogiken der Mehrheit der Menschen nicht mehr erfolgreich sind.
Nun sind die Menschen in der Krise aufgescheucht und aufgewühlt. Sie werden mit einer Pandemie permanent geängstigt und auf eine Rettung durch Impfen orientiert. Und wer das kritisch sieht, wird zum Feind gestempelt. Die Pandemie dient der Ablenkung von den weltweiten gesellschaftlichen Krisen. Und die menschlichen Entfremdungen im kapitalistischen Wachstumswahn verschmelzen massenpsychologisch zu einer Illusion, tiefenpsychologisch gesehen ganz ähnlich wie im Nationalsozialismus oder DDR-Sozialismus, dass durch autoritäre Führung und totalitäre Maßnahmen eine Rettung möglich sei aus individueller Misere wie auch gesellschaftlicher Fehlentwicklung.
Nicolas Riedl: Viele Menschen sind ja aufgescheucht, wenn man nun historische Vergleiche anstellt — gerade im Hinblick auf das Dritte Reich. Aber folgt diese Grunddynamik, auch wenn jetzt das Feindbild und das Narrativ ein anderes ist, Ihrer Meinung nach dem gleichen Grundmuster, dem gleichen Grundübel, wie zu den damaligen Zeiten?
Ja, ich weiß, und ich bin selbst immer vorsichtig mit diesen Vergleichen gewesen. Die äußeren Folgen totalitärer Systeme, die verschieden sind, die kann man natürlich auch nicht ohne Weiteres vergleichen. Da gibt es Schlimmeres und weniger Schlimmes, wobei man heute in der Entwicklung nicht weiß, wo es noch hingeht. Für die Grundlage, für die Psychodynamik der Entwicklung eines solchen totalitären, wenn man so will „faschistischen“ Systems, kommen zwei wesentliche Faktoren zusammen.
Einmal ist das die Entfremdung des Einzelnen, die zum Massenphänomen wird, wenn viele Menschen durch Erziehungsnormen und Schulprozesse in einer gleichen Richtung entfremdet sind — in dieser momentanen Gesellschaft vor allem narzisstisch. Hier muss ein Mangel an Bestätigung, an Selbstgewissheit ersetzt werden durch Leistung. „Sei tüchtig!“ „Streng dich an!“ „Konkurriere!“ „Verkaufe dich gut!“ Diese Entfremdung sehe ich als Massenphänomen. Ein Großteil der Bevölkerung ist davon betroffen und deshalb ist die Neigung dahingehend, eben im narzisstischen Sinne, sich immer wieder durch Anstrengung und Leistung zu stabilisieren und wenn das nicht mehr erfolgreich ist, kommt dieser Mensch in die Krise. Genau da kommt jetzt ein Gruppenphänomen oder ein massenpsychologisches Phänomen dazu.
Jeder Mensch hat ein soziales Grundbedürfnis, dazuzugehören, und möchte gerne „beheimatet sein“, auf psychischer Ebene gesehen. Das heißt, Menschen brauchen Menschen, mit denen sie Kontakt haben, indem man sich zuhört, versteht und akzeptiert, auch bei Verschiedenheit.
Auf keinen Fall wollen Menschen, die Mehrheit jedenfalls, ständig bedroht oder ausgegrenzt sein, diffamiert, belehrt oder beschimpft werden.
Als soziales Grundbedürfnis ist das so mächtig, dass Menschen bereit sind, in der Masse selbst Verbrecherisches zu akzeptieren und mitzumachen, nur um dazuzugehören. Dieses Massenphänomen — mitzulaufen und „Hurra“ zu schreien — ist diesem Bedürfnis geschuldet.
Wenn die Entfremdung der Einzelnen durch einseitige Werte der Erziehung und Normen der Gesellschaft, auch durch ökonomische Zwänge, zu einem Massenphänomen wuchert, entsteht eine kollektive Normopathie. Dann werden gestörtes Verhalten und gesellschaftliche Fehlentwicklung für normal gehalten – nur, weil eine Mehrheit ähnlich denkt und handelt. In krisenhaften Zeiten verhindert Normopathie schmerzlich-befreiende Erkenntnis, sondern verhärtet sich zu zunehmend totalitären Strukturen, um die Anpassung an eine Fehlentwicklung doch noch zu retten.
Aktuell erkenne ich einen solchen Zustand: Es wird offiziell immer noch von Demokratie gesprochen und zugleich werden die garantierten Grundrechte erheblich eingeschränkt. Die angebliche Meinungsfreiheit endet, wenn Kritik und Protest am Regierungskurs diffamiert werden und mit realer körperlicher bis existenzieller Bedrohung geahndet werden. Ich kenne das noch aus DDR-Zeiten, wenn die Stasi einerseits mit Bedrohung und andererseits mit Belohnung und gewährten Vorteilen gewünschtes Verhalten erzwungen hat. Wie haben Westdeutsche über die DDR-Verhältnisse gelästert und heute sind sie ebenso bereit, sich ihre Grundrechte, durch Infektionsangst eingeschüchtert, fast widerspruchslos nehmen zu lassen und mit Eifer Abweichler zu denunzieren.
Es ist so, als hätte es ein Drittes Reich oder einen real existierenden Sozialismus nie gegeben. Offenbar ist die Psychodynamik totalitärer Strukturen nie massenwirksam aufgeklärt, verstanden und aufgelöst worden. Auch eine Pandemie rechtfertigt keinen Totalitarismus, und schon gar nicht bei fraglichen Infektionszahlen und fehlender wissenschaftlicher Evidenz der politischen Maßnahmen.
Adriana Sprenger: Die Verantwortungsabgabe ist in der aktuellen Entwicklung ebenfalls ein interessanter Punkt. Nach über einem Jahr Ausnahmezustand ist die Faktenlage klar und alle Daten sind einsehbar, die Ungereimtheiten sind offensichtlich und die Entscheidungen über die Maßnahmen weisen kein Muster auf, das ansatzweise nachvollziehbar wäre. Dennoch schafft es die geschürte Urangst vor Krankheit und Tod in den Menschen, an dem geltenden Narrativ festzuhalten.
Ein auffälliger Punkt hierbei ist die Tatsache, dass ich nicht mehr selbst für meine Gesundheit verantwortlich bin, sondern die Verantwortung darüber in die Hände anderer Menschen lege. Das heißt, wenn ich keine Maske im Zug trage, bin ich verantwortungslos, da ich andere Menschen anstecken könnte. Somit werde ich nur durch meine reine Existenz zum potenziellen Gefährder. In diesem Gedankenkonstrukt hat die Selbstverantwortung keinen Platz mehr, da die Verantwortung außerhalb des eigenen Körpers und Geistes liegt. Ist diese Verantwortungsabgabe beziehungsweise Verantwortungsdiffusion ebenfalls ein Ausdruck des falschen Lebens, das wir führen? Und fühlen sich Menschen vielleicht sogar wohler dabei, Verantwortung abzugeben?
Ja, es sind zwei Dinge. Einmal das Psychologische, dass man die Gefahr eben einem unsichtbaren Feind, in diesem Fall dem Virus, zuschreibt und das zu einer Riesenbedrohung aufbauscht.
Damit sind Urängste von uns Menschen berührt, besonders auch in einer Zeit der narzisstischen Gesellschaft, in der man nicht gerne an Krankheit und Sterben denkt — wir müssen ja alle frisch sein, jung sein, tüchtig sein, gesund sein, aktiv sein.
Das Gebrechliche, das Kränkliche, das Sterben, der Tod sind aus der Wahrnehmung, der Diskussion, der Akzeptanz von Begrenzung und Leid verbannt.
Die Tatsache, dass menschliche Ängste politisch-medial gezielt geschürt werden, wirft eine sehr ernste Frage auf: Was ist das politische Ziel? Auf jeden Fall können wir feststellen, dass die Verunsicherung die Autonomie von Menschen schwächt, Abhängigkeit fördert und Rettungswünsche aktiviert. Sei es durch eine zunehmend autoritäre Führung oder durch Impfen.
Nun kommt dazu, dass diese bisherige Gesellschaft — eine finanzkapitalistische, narzisstische Gesellschaft — darauf baut, dass es immer mehr äußeren Gewinn gibt, anstatt menschliche Beziehungen zu berücksichtigen. Menschen sollen sich als Konkurrenten verstehen. Die Wachstumsideologie hat eine Grenze erreicht — die Umwelt und die Erde werden zerstört, klimatische Veränderungen, die Migrationsfrage, die soziale Gerechtigkeit, der Hunger auf der Welt, der Wassermangel, das sind alles große Themen, die in dieser Gesellschaftsform nicht mehr gelöst und nicht mehr sinnvoll beantwortet werden. So ist eine große Zukunftsangst für alle berechtigt, die aber auf eine Pandemie projiziert wird und damit die eigentliche Gesellschaftskrise vertuscht.
Mir fällt manchmal auf, dass junge Menschen heutzutage häufig staatsnäher sind als alte Menschen. Ich bin ein alter Mann und ich muss mich sowieso damit auseinandersetzen, dass es bald zu Ende geht mit meinem Leben. Wenn man dagegen jung ist, möchte man Zukunft haben. Da entstehen dann so irrationale Formulierungen wie „Impfen ist Liebe“. Das ist völlig absurd, aber es geht um das Thema der Zukunftsangst — „Wie werden wir einmal leben? Wie wird die Gesellschaft aussehen?“. Es gibt im Moment keine Antworten, die überzeugend sind. Es gibt sicher viele Ansätze dafür, aber noch keine finale Lösung.
Diese berechtigte Angst vor dem Zusammenbruch der bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen führt dazu, dass man Impfungen als die Rettung sieht. Diese Verkürzung, diese wirklich absurde illusionäre Verkennung der Verhältnisse, die erkläre ich mir so, dass aufgewühlte, aber ungelöste individuelle Ängste und eine bedrohte Zukunft sich nahezu hysterisch-wahnhaft in einer Corona-Angst versammeln und dort illusionär bekämpft werden. Das hat nichts mit Leugnen von Corona zu tun, sondern ein Virus wird politisch-medial als Projektionsfläche einer umfassenden Gesellschaftskrise missbraucht.
Ich vergleiche das immer mit einer Familie mit mehreren Kindern. Hier ist es häufig so, dass die Kinder verstritten sind und wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass die elterliche Zuwendung nicht ausreichend gut ist. Die Kinder kämpfen konkurrierend gegeneinander, um Anerkennung von den Eltern zu erlangen. Der alte marxistische Spruch „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ stimmt nicht einmal im kleinen Konstrukt der Familie. Dass Kinder sich jetzt gegen die Eltern verbünden würden, gibt es im Grund genommen nicht. Aber mit dieser Feindseligkeit, mit dem Kampf der Kinder untereinander, werden die Eltern nicht als die Verursacher des kindlichen Leids gesehen. Wenn man dieses Modell auf die Gesellschaft anwendet, dann haben wir im Moment eine wachsende Spaltung — Maskenträger und Maskenverweigerer, Impfbegeisterte und Impfgegner und so weiter – und die Politiker bleiben verschont.
Und dann wird noch auf der Symptomebene darüber gestritten, wer denn zuerst geimpft wird und mit welchem Impfstoff. Das ist eine völlige Verschiebung der Problematik der grundlegenden Gesellschaftskrise und ein Aufhetzen der Menschen. Ich meine damit, dass es im Grunde genommen geschickt inszeniert ist, dass wir nicht als Gemeinschaft der „Kinder“ — der Bürger und Bürgerinnen — die Politik infrage stellen, sondern uns gegeneinander aufhetzen lassen und im Nächsten den Feind sehen.
Ich habe noch nie so etwas Absurdes, so etwas Krankes, miterleben müssen. Die Politik hat es geschafft, dass jeder nächste Mensch mein Feind, mein Gefährder, mein Bedroher ist.
Mich als Psychotherapeut entsetzt diese Entwicklung — wir versuchen Menschen nahzubringen, wie sie in Nähe gut auskommen. Dass sich gesunde Menschen nun gefallen lassen, sogar beim Joggen eine Maske zu tragen oder 1,5 Meter Abstand zu halten, ist für mich nur schwer zu ertragen. Ich verstehe diese Absurdität als Ausdruck geschürter Panik, um von persönlicher Entfremdung und gesellschaftlicher Normopathie als wirkliche Realbedrohung abzulenken.
Adriana Sprenger: Sie haben in ihrem Buch „Corona Angst“ genau diese Spaltung beschrieben. Aus dieser Spaltung heraus verhärten sich die Fronten immer mehr, sodass ein sachlicher Diskurs oft nur schwer möglich ist, weil das Thema so emotional ist. Sie haben ebenfalls beschrieben, dass die Protestler im Endeffekt in eine Art gewünschte Ablenkungsfalle tappen und somit auch nur eine vorgefertigte Rolle im Spiel einnehmen. Was wäre aus Ihrer Sicht ein Verhalten, um in diesen Zeiten zu existieren, ohne zur Frontenverhärtung beizutragen und gleichzeitig für seine Rechte und die freie Meinungsäußerung einzustehen?
Die Erkenntnis, dass auch der Protest zum Spiel gehört beziehungsweise missbraucht wird, war eine bittere Erkenntnis. Ich dachte mir, dass man protestieren, Kritik üben muss — bis mir deutlich wurde, dass dies wiederum nur der Spaltung und Aufhetzung dient. Dann ist es leicht zu sagen, die vermeintlichen Gefährder und Protestierenden sind der Grund für den nächsten Lockdown. Es ist eine notwendige und schwierige Aufgabe, aus demokratischen und ethischen Gründen Widerstand zu leisten und Protest nicht diffamieren zu lassen.
Da bin ich der Meinung, dass wir folgende Möglichkeiten haben: In einer gewissen Weise müssen wir uns anpassen, müssen wir gehorsam sein und uns unterwerfen. Aber auch Widerstand und Kritik sind jedoch zwingend, wenn man seine Würde wahren will und um Wahrheit und Realitäten kämpft.
Dann, da spreche ich wieder aus meiner DDR-Vergangenheit, gibt es die Subversivität. Man macht also heimlich etwas gegen das Gebotene oder Verbotene, um sich Reste eines wirklich guten Lebens — im Vordergrund stehen hier persönliche Kontakte und Nähe — zu wahren. Es ist nicht kriminell, wenn man abnorme, inhumane Verordnungen missachtet.
Dann gibt es immer wieder auch die Möglichkeit, manchmal auch die Notwendigkeit, des inneren Rückzugs, eine innere Immigration. Geht in die Natur, in die Berge, geht wandern, hört Musik oder tanzt oder lest was Schönes, meditiert und entfernt euch von ständigen aufgeheizten Diskussionen und bedrängenden Falsch-Informationen!
Der wichtigste Aspekt ist, dass man dafür sorgt, in kleinen Gemeinschaften zu leben. Also das, was bei mir der Begriff der Beziehungskultur meint. Dass man dafür sorgt, dass man sich mit einigen Menschen unzensiert verständigen und diesen auch alles mitteilen kann. Keine Maske im sozialen Sinne! Dass ich sicher sein kann, dass die Gegenüber bereit sind, erst mal zu hören und zu verstehen und nicht zu bewerten und zu kritisieren — ein Austausch zwischen zuhören und mitteilen.
Hier weiß ich als Psychotherapeut, dass dies das Vergnüglichste, das Befreiendste ist, was Menschen erfahren können. Wenn man aufhört darüber nachzudenken, was man wieder leisten, wieder kaufen muss und sich im Gegenzug Menschen sucht, mit denen man gut zusammen sein kann. Mit denen man im Austausch ist, bei denen man Emotionen offen zeigen kann. Das rettet wirklich. Das verarbeitet Stress. Diese Möglichkeit kann man sich auch in allen totalitären Systemen schaffen.
Somit hat jeder von uns die Möglichkeit, die Verpflichtung, jeden Tag neu zu entscheiden, wie viel Anpassung, Widerstand, Immigration, Subversivität und Gemeinschaft man leben möchte und kann.
Es gibt keine letztendliche Antwort, ich muss das jedes Mal neu für mich herausfinden. Das ist für mich gesunde, dynamische Lebensform. Natürlich kann man da auch mal Fehler machen, mal irren, jedoch ist das für mich im Moment die Antwort, die ich gebe, um halbwegs in Würde zu überleben.
Nicolas Riedl: Um nun mal einen Ausblick zu schaffen: Mal angenommen, 2025 würde sich das Blatt, aus welchen Gründen auch immer, zum Positiven wenden und das Ganze ist überwunden. Was schätzen Sie denn, wie lange es dauern wird, bis wir dieses Corona-Trauma aufgearbeitet haben? Sie schreiben in Ihren Büchern, dass wir die Traumata des Dritten Reiches nach über 70 Jahren nicht richtig aufgearbeitet haben.
Steht uns also wieder ein Jahrhundert der Trauma-Aufarbeitung bevor? Oder könnte es sein, dass durch bestimmte Beschleunigungsfaktoren — etwa durch digitale Medien, die auch dazu beitragen könnten, dass beispielsweise Ihre psychoanalytischen Forschungsergebnisse sich schneller verbreiten — der Trauma-Aufarbeitungsprozess beschleunigt wird? Oder dass man — um es im Corona-Sprech zu sagen — einen Traumawellenbrecher einbauen kann, sodass eben nicht auch noch die nächste Generation erneut traumatisiert wird? Was schätzen Sie, wie lange würde es dauern, ein Coronatrauma von drei, vier, fünf Jahren aufzuarbeiten?
Ich fürchte, das gelingt nicht. Es wird keine erfolgreiche Aufarbeitung geben. So wie es keine Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Sozialismus gegeben hat, nur plakativ, aber nicht in den psychodynamischen und psychosozialen Bedingungen für eine Normopathie.
Wenn es überhaupt ein Ende gibt mit Corona — falls keine neuen Ängste geschürt werden, Mutationen kommen sowieso —, dann müsste jeder Einzelne sein Fehlverhalten, sein schuldiges Verhalten, sein Mitläufertum erkennen und bekennen. Das ist sehr unwahrscheinlich. Dann wird abgeurteilt — in einer Revolution werden ein paar geköpft und dann wird nach vorne geschaut.
Das heißt, der Einzelne wird nicht gefordert, seine Beteiligung, sein eigenes, ganz individuelles Fehlverhalten zu verstehen. Das wäre aber notwendig, um wirklich eine Grundlage für ein besseres soziales Zusammenleben zu finden. Diese Einsicht in das individuelle Fehlverhalten, die individuelle Schuld, nicht die Kollektivschuld. Über die Kollektivschuld kann man großartig reden, aber dass jeder Einzelne mehr oder weniger beteiligt war, kommt nicht vor. Wenn man das aber tut, ist das — und da spreche ich wieder als Psychotherapeut — eine ganz bittere, schmerzliche Geschichte.
Wenn ich erkennen muss, dass ich schuldig geworden bin, ist das sehr schmerzlich. Da ist man empört über sich selbst oder über das, was einem angetan worden ist. Das heißt, dieser Gefühlsprozess wäre der notwendige Reinigungsprozess, um aus dieser Situation der Beteiligung herauszufinden und dann eine wirkliche Grundlage zu finden, sich anders verhalten zu können — also nicht mehr entfremdet zu leben. Wenn dies nicht der Fall ist, werden wir über kurz oder lang ein neues gestörtes, entfremdetes System etablieren — nur in einer anderen Farbe.
Wir hatten das braune System, dann hatten wir das rote System, vermutlich bekommen wir jetzt das grüne totalitäre System. Die Farben sind nicht relevant, jedoch sind die Prozesse immer wieder die gleichen.
Deshalb sage ich immer wieder: Wir werden keine bessere Zukunft haben, solange wir nicht dafür sorgen, dass die Kinder besser behandelt und besser betreut werden, sodass wenig Traumatisierung entsteht. Wenn das nicht verstanden wird, dann mag es Veränderung geben, mag es Chaos geben, mag es Revolutionen geben, aber es wird sich immer wieder ein neues totalitäres System etablieren, aufgrund dieser massenhaften seelischen Entfremdung.
Nicolas Riedl: Ich glaube, wir müssen nicht jedes Interview mit einem positiven Ausblick beenden.
Wir hatten das Positive schon benannt, beziehungsweise das, was wir machen können. Ich mag keinen falschen Optimismus. Ich muss das ja zur Kenntnis nehmen, was uns vom Nationalsozialismus psychodynamisch geblieben ist. Eben dass die bestehenden Verhältnisse wieder zu totalitären Strukturen, zu Denunziation, zur Spaltung, zu Hass aufeinander führen. Das ist doch das, was wir gegenwärtig sehen, da gibt es für mich nichts Positives dazu zu sagen. Der Einzelne kann sich wehren durch die Hinwendung zur Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Offenheit in den wenigen verbleibenden, zu beschützenden und zu pflegenden Beziehungen. Und die andere Form sich zu wehren ist die, dass wir hier so ein Interview machen. Das ist vielleicht in einem halben Jahr auch nicht mehr möglich…
Dieses Interview fand im Rahmen der Menschen machen Mut-Veranstaltung mit dem Titel „Psyche, Hirn und Corpus Delicti — Ist Liebe wirklich die Antwort?“ in München am 18. April 2021 statt.
Der Livestream zur Veranstaltung
Worum es auf der nächsten Veranstaltung von Menschen machen Mut geht, erfahren Sie demnächst auf der Website.