Rubikon: Herr Wonneberger, ab 1977 haben Sie als Pfarrer in Dresden gearbeitet. Dort begannen Sie mit konkreten Aktionen für den Frieden. Ihr erstes Projekt war das Konzept einer Art Zivildienst in der DDR.
Christoph Wonneberger: Ja, das kann man so nennen. Aber es sollte nicht das Gleiche werden wie im Westen, sondern etwas Eigenes. Ich habe 1980 in meiner damaligen Dresdener Gemeinde eine Initiative für einen „Sozialen Friedensdienst“ gegründet. Wir wollten ein Modell entwickeln als Alternative zum Wehrdienst in der DDR. Das begann parallel mit der damaligen Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“, die ja auch in der BRD lief. Es gab viele Defizite in der DDR, wo man die Tätigkeit von jungen Menschen gebraucht hätte — im Sozialen oder in der Umwelt statt beim Militär. Der schlechte Zustand zum Beispiel in den Altenheimen hat mich sehr genervt. Wir wollten mit der Initiative öffentlichen Druck ausüben, damit in der DDR ein neues Gesetz entsteht, das einen Friedensdienst als Alternative zum staatlichen Militärdienst einführt. Junge Leute sollten sich frei entscheiden können. Das war die Idee.
Und wie ging das weiter? Wie ist der Staat damit umgegangen?
Erst mal habe ich versucht, die Evangelischen Kirchen in Dresden mit ins Boot zu nehmen, also herauszufinden, inwieweit sie unsere Initiative unterstützen wollen. Unser größtes Problem damals war, überhaupt Öffentlichkeit herzustellen. Man konnte ja nicht einfach die Medien nutzen. Telefone gab es auch so gut wie nicht. Also habe ich versucht, mit Kettenbriefen eine größere Öffentlichkeit zu erreichen.
Eine andere Methode waren regelmäßige Treffen in den Kirchen. Es hat dann gut zwei Jahre gedauert, bis die Idee des Sozialen Friedensdienstes in der DDR bekannt wurde. Mir war auch wichtig, dafür keine westlichen Medien zu nutzen. Sonst hätten die Verantwortlichen in der DDR leicht sagen können: „Ach, das ist ja wieder nur aus dem Westen!“
Dann hat das natürlich auch irgendwann die Stasi bemerkt. Es kamen Leute in unsere Initiative und sagten: „So was brauchen wir nicht. Unsere ganze Gesellschaft ist sozial.“ Die wollten das natürlich nicht so stehen lassen. Aber wir haben trotzdem weitergemacht. Und mit der Wende 1989 und der Volkskammerwahl im März 1990 hat man praktisch für ein halbes Jahr — also bis zur Einheit — unser Modell umgesetzt. Als dann der Westen hier übernommen hat, da hat er sein eigenes Modell eingeführt.
Aus den regelmäßigen Treffen in den Kirchen, die Sie gerade erwähnt haben, sind dann die Montagsgebete hervorgegangen.
Ja genau, das haben wir ab 1982 in Dresden als festen Termin eingeführt. Dass also einmal in der Woche die Friedensgruppen zusammenkamen und diskutierten — später kamen noch andere Gruppen dazu. Das wöchentliche Friedensgebet in der Kirche war Teil dieser Arbeitsstruktur. Es gab ja damals keine andere Möglichkeit. Man konnte kein Büro dafür mieten oder einen Verein dazu gründen. Es gab nur die Möglichkeit unter dem Dach der Kirche solch ein Format zu finden. Beten allein darf aber kein Ersatz fürs Handeln sein.
„Wir haben für Frieden demonstriert, nicht für die Einheit“
1986 wechselten Sie als Pfarrer nach Leipzig an die Lukaskirche und koordinierten in der Nikolaikirche die berühmten Montagsgebete, von denen ab September 1989 dann die Montagsdemos in Leipzig ausgingen. Im öffentlichen Gedenken gelten heute die Montagsgebete als Wegbereiter der Deutschen Einheit. War das damals auch Teil Ihrer Motivation?
Eigentlich nicht. Mein Plan war nicht, gegen die Mauer anzurennen. Ich hielt das nicht für realistisch und auch nicht für das drängende Problem.
Meine Motivation war es, für den Frieden, für Demokratie, Menschenrechte und Abrüstung zu kämpfen. Damals herrschte Kalter Krieg. Auf beiden Seiten standen sich riesige Militärmaschinen in Konfrontation gegenüber. Wir wollten eine europäische Friedensordnung. Ich habe bis heute die Überzeugung, wenn man etwas verteidigen will, dann muss man das ohne militärische Mittel machen.
Ich habe mich in meinem Studium zum Beispiel damit beschäftigt, wie Mahatma Gandhi das in Indien gemacht hat oder Martin Luther King in den USA. Ich habe damals verstanden, wir müssen so was selbst organisieren. Das tun die Herrschenden nicht für uns.
Und wie sehen Sie das auf heute bezogen? Viele mächtige Staaten, vor allem die westlichen, nutzen weiterhin militärische Gewalt, angeblich um sich zu verteidigen. Selbst Angriffskriege werden geführt mit der Rechtfertigung, sich zu verteidigen oder Frieden zu schaffen.
Ja, wie früher wird auch heute weiterhin versucht, Frieden durch eine gewalttätige Übermacht zu schaffen. Im 19. Jahrhundert hieß ein Revolver in den USA „Peacemaker“. Das ist genau die Logik dahinter: Frieden mit militärischen Mitteln zu schaffen. Das funktioniert aber nicht. Wir dürfen keine Militärbündnisse unterstützen, sondern die zivile Seite. Wir müssen die UNO stärken und nicht die NATO. Europa ist für mich ein Friedensprojekt — aber nur ohne NATO und auch nicht als Festung. Mein Anliegen ist heute dasselbe wie damals.
„Keiner weiß, was die Amerikaner in ihren Militärbasen machen“
Sie sind weiterhin in der Friedensbewegung aktiv. Als begeisterter Radfahrer nehmen Sie an vielen Protesten per Fahrrad teil.
Ich bin aktiv in der Deutschen Friedensgesellschaft. Jedes Jahr zu den Gedenktagen an die Atombombenabwürfe auf Japan findet eine große Friedensaktion statt. Da habe ich in den letzten zehn Jahren immer bei Fahrradaktionen quer durch Deutschland mitgemacht. Wir fahren dann zu Rüstungsbetrieben und protestieren gegen Waffenexporte. Wir fahren durch Städte und schaffen Öffentlichkeit für unser Anliegen. Wir versuchen, die Bürgermeister anzusprechen und andere Friedensgruppen einzubeziehen. Wir fahren an die Orte in Deutschland, an denen Militär und Rüstung regelmäßig präsent sind. Vieles ist gar nicht so bekannt. Das muss mehr in die Öffentlichkeit.
Inzwischen kenne ich fast alle diese Orte in Deutschland — etwa da, wo die Amerikaner das Sagen haben. Ich war in Büchel, in Ramstein und vor vielen anderen US-Militärbasen in Süd- und Südwestdeutschland. Bei den meisten dieser Standorte kommt man aber nicht mal in die Nähe. Wir machen da symbolische Aktionen. Wenn der Wind gut steht, lassen wir Luftballons mit Friedensbotschaften in Richtung der Militärstützpunkte steigen. Wir umkreisen diese Standorte auch mit dem Fahrrad. Dann wird einem klar: Niemand in Deutschland weiß, was die Amerikaner da eigentlich machen.
Sie kritisieren nicht nur die US-Militärpräsenz in Deutschland, sondern auch die Rüstungsexporte der Bundesrepublik.
Absolut. Vor drei Jahren haben wir eine Fahrradtour über eine Woche lang um München herum gemacht. Da haben wir an jedem Tag acht bis zehn Rüstungsbetriebe und Kasernen besucht und Aktionen gemacht. Viele Betriebe tun nach außen so, als wären sie zivile Firmen. Aber in Wirklichkeit verdienen sie das meiste Geld mit Rüstung. Deutschland erschafft sich ein großes Stück seines Reichtums mit dem Export von Waffen. Bayern ist auch so reich, weil da so viele Rüstungsfirmen sitzen und Steuern zahlen. Das wissen aber die wenigsten Leute.
Der andere Punkt ist noch, dass die Bundesregierung solche Exporte erlaubt. Und das sogar an Länder, wo man das sofort verbieten müsste. Länder, die Kriege führen. Deutschland exportiert in manchen Jahren fast so viele Rüstungsgüter wie die USA oder China. Für die Verteidigung der Bundesrepublik würde ein Zehntel der jetzigen Rüstungsausgaben reichen.
„Deutsche Politiker wollen nicht über die US-Atombomben in Deutschland reden“
Wir haben am Anfang darüber gesprochen, wie schwer es war, in der DDR eine Öffentlichkeit für solch kritische Themen zu schaffen. Wie sehen Sie das heute? Sind in der Bundesrepublik im Jahr 2019 Themen wie Krieg und Rüstung von westlichem Boden aus ausreichend präsent?
Also dass heute zum Beispiel auf deutschem Boden immer noch Atomwaffen lagern und sogar modernisiert werden — das taucht ja in den Medien kaum auf. Und wenn man die Parteien und einzelne Politiker auf dieses Thema ansprechen will, dann reagieren die doch oft sehr unwillig. Persönlich mit Abgeordneten darüber ins Gespräch zu kommen, ist sehr schwierig. Sie wiegeln sofort ab und meinen, sie wüssten darüber zu wenig. Das ganze Thema wird öffentlich verschwiegen. Die Amerikaner tauschen jetzt eine ganze Generation von Atombomben auf deutschem Boden aus und lagern neue. Und die Öffentlichkeit soll darüber am besten gar nichts wissen.
Sie haben nicht nur in Deutschland mit langen Fahrradtouren für den Frieden geworben, sondern auch international: etwa im Baltikum oder bei einer siebenwöchigen Tour von Paris nach Moskau und 2015 sogar entlang der koreanischen Grenze. Diese Aktivität ist an sich schon sehr bemerkenswert, wird aber noch beachtlicher, wenn man weiß, dass Sie Ende Oktober 1989 einen Schlaganfall hatten und lange danach kaum sprechen konnten.
Ja, die Maueröffnung habe ich gar nicht mitbekommen. Ich lag in Leipzig im Krankenhaus und habe nur bemerkt, dass alle Leute da viel aufgeregter waren als sonst. Mitglieder unserer Partnerkirchengemeinde in Engelbostel bei Hannover haben mich kurz danach zur logopädischen Therapie in die Medizinische Hochschule Hannover gebracht. Das Fahrradfahren ist später auch ein Stück Gesundung für mich gewesen. Auf langen Touren muss man nicht viel reden. Aber man lernt viel mehr Selbstständigkeit und traut sich Neues. Das hilft ungemein.
Noch mal zurück zu Leipzig 1989: Es gab ja damals im Wendeherbst den Wechsel des Slogans „Wir sind das Volk“ hin zu „Wir sind ein Volk“. Vielleicht können Sie als aktiv Beteiligter von damals etwas Licht in die Sache bringen. Wie kam es denn zu diesem Wechsel?
Seit der Demo am 2. Oktober gab es die Losung „Wir sind das Volk“. Diese entwickelte sich aus einer bestimmten Situation, als die Demonstranten durch einen Lautsprecherwagen der Polizei angesprochen wurden mit „Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei“. Darauf antwortete jemand: „Und hier spricht das Volk. Wir sind das Volk.“ Bereits eine Woche später tauchte die Losung „Wir sind ein Volk“ auf. Das war aber nicht auf den Westen gemünzt, sondern auf die Polizei und die Stasi. Also in dem Sinne: „Warum wollt ihr uns verprügeln und verhaften? Wir sind doch ein gemeinsames Volk!“
„Leute aus Bayern kamen nach der Wende und riefen: ‚Wir sind ein Volk!‘“
Nachdem die Grenzen dann im November 1989 aufgemacht worden waren, haben westdeutsche Politiker von CDU und CSU sich diese Parole angeeignet. Ich war da zwar wegen des Schlaganfalls schon außer Gefecht. Aber ich weiß, dass dann Hunderte Leute aus Bayern mit Bussen nach Leipzig herangekarrt wurden und dort Flugblätter mit der Parole verteilten — und das nun bezogen auf die Vereinigung von Ost und West.
Jetzt gerade bei Gedenkveranstaltungen in Leipzig zum 30. Jahrestag haben mir Leute von der CSU, die damals dabei waren, selbst erzählt, dass sie diese Aktionen gemacht haben. Sie sind mit Luftballons, Fahnen, Transparenten nach Leipzig und Dresden gekommen. Da stand drauf: „Wir sind ein Volk“ oder „Deutschland einig Vaterland“. Diese Botschaft wurde in dieser Bedeutung also aus dem Westen hierhergebracht und nicht in der DDR erfunden. Die DDR-Oppositionsgruppen hatten ja gar keine Möglichkeit, so was in der DDR zu produzieren. Aber in Bayern war es kein Problem, das massenhaft und schnell zu drucken.
War das Ziel deutsche Einheit bei den Montagsdemos vor der Maueröffnung denn überhaupt präsent?
Ja, bei einigen sicherlich. Aber der Großteil, der damals aktiv war, hatte das Ziel, die DDR umzukrempeln. Viele Leute sind damals einfach aus der DDR weggegangen. Sie dachten, der Westen wäre ein Himmel voller Geigen, eine Art Paradies. Das hat mich geärgert. Ich wollte hierbleiben und die DDR verändern.
Kommen wir zum Abschluss noch mal auf die heutige Lage im Osten. Sie waren zum Reformationstag kürzlich in Ihrer früheren hannoverschen Partnergemeinde und wurden auch dort gefragt, was da los ist in Ostdeutschland mit Pegida und AfD.
Nun ja, in Leipzig hat die AfD nicht die große Bedeutung. Dort gibt es eine qualifizierte, gut gebildete Öffentlichkeit, dort leben viele Zugezogene, und es gibt offene Debatten. In vielen ländlichen Gegenden Ostdeutschlands gibt es aber kaum öffentliches Leben. Viele Einrichtungen, die es dort zu DDR-Zeiten gab, sind geschlossen worden. Viele Menschen sind in den Westen abgewandert, um Arbeit zu finden. Bei denen, die in diesen ländlichen Regionen geblieben sind, herrscht eine Stimmung so nach dem Motto: „Seht, wie schlecht wir hier dran sind. Das haben wir 1989 nicht gewollt.“ Da ist auch was dran.
„Politiker wollen keine sozialen Debatten führen“
Die ganze Demokratie in Deutschland muss noch mal auf den Prüfstand. Die Parteipolitiker haben keinen Mut, etwas zu verändern. Sie sind alle gut versorgt und haben kein Bedürfnis. öffentliche Auseinandersetzungen zu wichtigen sozialen Themen zu führen. Heute kann man als sozialer Mensch gar nicht genug Hilfsorganisationen und andere unterstützen. Überall zieht sich die Politik zurück. Organisationen wie Attac wird sogar die Gemeinnützigkeit aberkannt. Sie können ihre Spenden nun nicht mehr absetzen. Aber die politischen Parteien können große Spenden aus der Industrie kassieren. Das ist unglaublich.
Unsere Demokratie muss viel direkter werden. Viele der Parteispenden kommen zum Beispiel aus der Rüstungsindustrie. Dann erlaubt die Politik deren Waffenexporte und daraus entstehen dann letztlich Flüchtlingsbewegungen. Viele Flüchtlinge kommen aus Ländern, da ist der Himmel nicht voller Geigen, sondern voller Bomben.
Ich bin für eine Politik für die Verlierer. Und ich bin dafür, Theologie von unten zu betreiben, um die Verlierer aufzurichten. Jesus war auch ein Verlierer und er sprach mit Verlierern: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen.“ Das hat Jesus gesagt. Daraus haben wir in den Friedensgebeten „Selig sind die sanft Mutigen“ gemacht. Man muss auch mutig sein, muss handeln und darf nicht beim Beten allein stehen bleiben. Es gilt alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen ist. Das ist ebenfalls ein Zitat — aber nicht von Jesus, sondern von Karl Marx. Auch Marx ist sehr lesenswert.
Christoph Wonneberger, Jahrgang 1944, stammt aus dem Erzgebirge und hat nach einer Ausbildung zum Maschinenschlosser in Karl-Marx-Stadt Theologie in Rostock studiert. Ab 1977 war er als Pfarrer in Dresden und seit 1986 in Leipzig tätig, wo er die Montagsgebete koordinierte. Am 30. Oktober 1989 erlitt er einen Schlaganfall und konnte nicht mehr sprechen. 1991 wurde er als Pfarrer in den Ruhestand geschickt. Mit Logopädie und Gesangstherapien sowie auf langen Fahrradtouren erkämpfte er sich seine Gesundheit zurück. Heute kann er wieder normal sprechen. Christoph Wonneberger ist bis heute als Friedensaktivist tätig.