Der „Achse des Widerstandes“, also allen Kräften, welche sich gegen die imperialistischen Kriege in der Region auflehnen — vom Jemen über Iran und Irak bis nach Syrien — und eben den Kräften im Libanon, wurde mitgeteilt, dass die Hisbollah einen Vergeltungsschlag für die Tötung von zwei Hisbollah-Mitgliedern durch Israel plane. Die Hauptquartiere wurden verlassen und Treffen von Führern wurden abgesagt; alle sind ist in höchster Alarmbereitschaft, besonders im Iran, in Syrien und Palästina.
Der Finger ist am Abzug und die Waffe entsichert. Ob ein Krieg ausbricht, hängt davon ab, ob der israelische Premierminister nach dem Vergeltungsschlag der Hisbollah zur Tagesordnung übergehen wird, oder dies zum Anlass nimmt, einen dritten Krieg gegen den Libanon zu beginnen.
Da war 1978 die Operation Litani, als israelische Soldaten im Libanon einmarschierten und zwischen 1.000 und 2.000 Menschen töteten. Dann, im Libanonkrieg von 1982, verglich der damalige französische Staatspräsident François Mitterrand zum Beispiel Luftangriffe Israels mit der Zerstörung von Oradour-sur-Glane durch die Waffen-SS im Juni 1944.
Und dann war da der Libanonkrieg 2006, genannt „Gerechter Lohn“, bei dem der Mythos der Unbesiegbarkeit der israelischen Streitkräfte zum ersten Mal durch die Hisbollah in Frage gestellt wurde, obwohl die israelische Luftwaffe die vollkommene Lufthoheit besaß und die Hisbollah praktisch keine gepanzerten Fahrzeuge, dafür aber tragbare Anti-Panzer-Raketen.
Die Frage ist, ob sich heute im Jahr 2019 — bezeichnenderweise kurz vor israelischen Wahlen — wieder ein Krieg entwickeln wird. Denn Israel hatte eine rote Linie überschritten, mit hunderten von Luftangriffen in Syrien und jetzt auch im Irak. Dabei war die Hisbollah und der Iran das erklärte Ziel. Und wie bei jedem Angriff musste natürlich nur einem gegnerischen Angriff zuvorgekommen werden — also kein Angriff, sondern nur eine Verteidigung. So auch bei den letzten Bombardierungen, zu denen es in Telepolis eine sachliche Bewertung gibt (1). Nachdem Israel immer weniger Terrorgruppen hat, welche sie direkt oder indirekt unterstützen kann, um eigene Ziele zu verfolgen, (2) scheinen direkte Angriffe durch Israel in der ganzen Region immer stärker zu werden.
Die Hisbollah ist aber inzwischen die stärkste politische Kraft im Libanon, und gestählt durch den Krieg gegen die Terroristenarmeen in Syrien und im Irak. Und als beim letzten Angriff zwei Hisbollah-Mitglieder, weit entfernt von jeder Front, durch einen israelischen Angriff im Schlaf getötet worden waren und außerdem eine israelische Kamikaze-Drohne ein Medienzentrum der Hisbollah in einem Vorort von Beirut angriff, hatte der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, gedroht, als Vergeltung die gleiche Zahl israelischer Soldaten zu töten.
Kaum war die Ankündigung durch die Medien verbreitet worden, antwortete Benjamin Netanjahu mit der Bombardierung einer Position der „Popular Front for the Liberation of Palestine“, in jenem Tal, von dem aus Nasrallah seine Ankündigung verbreitet hatte. Netanjahu hatte offensichtlich die Herausforderung angenommen und brannte darauf, in einen Krieg mit der Hisbollah einzutreten. Nun ist unvermeidbar, dass israelische Soldaten sterben werden. Im Prinzip sind sie Opferlämmer Netanjahus. Netanjahu hat es geschafft, Hassan Nasrallah in eine Ecke zu zwingen, aus der dieser nur noch mit Gewalt reagieren kann.
Nasrallahs Position war aber durch Aussagen des libanesischen Präsidenten Michel Aoun unterstützt worden. Dieser bezeichnete den Angriff Israels mit einer Kamikaze-Drohne als „Kriegsakt“. Und Premierminister Saad Hariri nannte es „eine Bedrohung der regionalen Stabilität“. Und auch die anderen libanesischen Kräfte versuchen nicht mehr, die Hisbollah einzuschränken oder zu beruhigen, wie noch vor einigen Monaten.
Alle Augen in der arabischen Welt, besonders in Palästina, Syrien, im Jemen und im Iran und natürlich ganz besonders die Menschen des Libanon, schauen nun abwartend auf Nasrallah. Alle warten darauf, welches Ziel Nasrallah auswählen wird, um Israel davon abzuhalten, weiter nach eigenem Belieben zu bomben.
Nicht nur in der arabischen Welt, auch in Israel haben die Worte Nasrallahs Gewicht. Die Menschen wissen, dass er tut, was er sagt. Und niemand zweifelt daran, dass es tote israelische Soldaten geben wird. Die Frage wird sein, ob der Schlag so zurückhaltend sein wird, dass Netanjahu aus der Gesellschaft keinen Freibrief für einen neuen Krieg erhält, oder ob das Blutvergießen zu einer Eskalation führen wird, statt zu einer Eindämmung der israelischen Angriffe.
Nasrallah hatte auch angekündigt, Drohnen abzuschießen, welche Israel regelmäßig über dem Libanon kreisen lässt. Natürlich wird er nicht alle abschießen können, aber erwartet wird eine beispielhafte Aktion, keine vollständige Schließung des Luftraums. Dies aus zwei Gründen: Erstens reichen die Fähigkeiten der Hisbollah bei weitem nicht aus, um den Luftraum über dem Libanon zu kontrollieren. Zweitens warten die israelischen Datensammler in der Luft nur darauf, dass sich ein Luftabwehrsystem im Libanon offenbart, um dieses sofort zum Ziel für eine der modernsten Raketen der Welt zu erklären. Mit anderen Worten: Ein Abschuss ist nur durch das Überraschungsmoment möglich, und die Luftabwehr-Einheit dann sofort mit der Auslöschung bedroht.
Israels Drohnen kreisen über Beirut in Mengen wie niemals zuvor. Und so ist verständlich, dass die Hisbollah der Ansicht zuneigt, dass Netanjahu alles tut, um sie zu provozieren.
Der Irak hatte bisher nicht auf die Bombardierung seiner Lager reagiert. So wurden bisher fünf zerstört und ein irakischer Kommandeur durch eine Drohne an der irakisch-syrischen Grenze getötet. Aus der fehlenden Reaktion schließt Israel ganz offensichtlich, dass der irakische Luftraum nun für weitere Aktionen unbegrenzt zur Verfügung steht. Das können jedoch die Hisbollah und die mit dem Iran verbündeten Milizen im Irak nicht zulassen, auch wenn es die offizielle Politik der Regierung ist.
Und so hat die Fatah-Koalition, eine mächtige Fraktion im irakischen Parlament, einen Gesetzentwurf eingebracht, der die USA „voll verantwortlich“ für die Angriffe Israels macht. Sie erklärte: „Wir sehen das als Kriegserklärung gegen den Irak und seine Menschen an“ (3).
Der in der Regel gut informierte Journalist Elijah J. Magnier ist der Meinung (4), dass die Hisbollah die israelischen Wahlen benutzen wird, um Netanjahu zu schaden. Falls dies zutreffend ist, müsste der angekündigte Vergeltungsschlag vor dem 19. September stattfinden. Falls Netanjahu dann entscheidet, einen Krieg gegen den Libanon zu beginnen, wird er sehr wahrscheinlich nicht wiedergewählt werden.
So ist die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht auf einen Vergeltungsschlag antworten wird, in dieser Phase kurz vor der Wahl die höchste. Aber er wird vor den rechtsextremen Wählern schwach aussehen, was seine Wiederwahl zwar nicht gefährdet, aber seine Position in einer zukünftigen Regierung einschränkt. Was aber sehr wohl auch dazu führen kann, dass noch aggressivere rechtsextreme Politiker nun erst recht auf einen Krieg hinarbeiten werden.
Außerdem beginnen am 31. August hohe schiitische Feiertage, die ungefähr zehn Tage dauern, und von Schiiten den höchsten Grad der Opferbereitschaft abverlangen. Magnier stellt fest (1), dass sich Netanjahu keinen schlechteren Moment für einen Krieg hätte aussuchen können. Die Hoffnung der Menschen ist, dass Netanjahu den Vergeltungsschlag der Hisbollah lediglich propagandistisch ausnutzen wird — „Seht ihr, genau das haben wir mit unseren präventiven Angriffen verhindert“ —, und dass sich die Lage nach den Wahlen wieder beruhigen wird.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.heise.de/tp/features/Netanjahu-Wenn-dich-jemand-toeten-will-toete-ihn-zuerst-4504474.html
(2) https://ahtribune.com/world/north-africa-south-west-asia/3417-israeli-terrorism-reaches-iraq.html?fbclid=IwAR10tHhkWoMbHmVXLiBchofw3TD4uKNH7YXKXEo6bn8imsC2UPLjDz7aKh4
(3) https://www.rt.com/op-ed/467390-lebanon-israel-strikes-war/
(4) https://ejmagnier.com/2019/08/28/hezbollah-will-respond-to-israel-but-when-how-and-at-what-cost/